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Euthanasie und die Erinnerungskultur deutscher Ärzte

Die Rolle, die die deutsche Ärzteschaft im Nationalsozialismus gespielt hat, ist bislang nur in Teilen aufgearbeitet worden. Ärzte, die eigentlich der Menschlichkeit verpflichtet waren, stellten sich mit der Euthanasie in den Dienst eines menschenverachtenden und menschenvernichtenden Tötungsprogramms. Waren das nur einige wenige KZ-Ärzte, die sich da hervortaten, oder war es eine große, graue Masse? Am Institut für die Geschichte der Medizin in Gießen fand Ende letzter Woche eine Tagung über die Erinnerung an die NS-Euthanasie statt. Matthias Hennies berichtet.

Von Matthias Hennies | 20.11.2008
    Dämonisierung hilft bei der Aufklärung der Vergangenheit nicht weiter. Die Experimente zur Zwillingsforschung, die der KZ-Arzt Mengele in Auschwitz durchführte, gelten als ein Inbegriff für die menschenverachtenden Grausamkeiten des Nationalsozialismus. Aber Mengele war ein extremer Einzelfall. Solche Einzelfälle wurden nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs untersucht und auch juristisch verfolgt - typisch für den Umgang mit der Geschichte der nationalsozialistischen Medizin in den Nachkriegsjahren.

    Man isolierte einzelne Täter und meinte, damit sei das Problem gelöst, sagt der Medizinhistoriker Volker Roelcke. Mittlerweile ist die Rolle von Medizinern im NS-System aber breiter erforscht worden: Die Ideologie der Eugenik, Programmatik der Euthanasie, die Praxis von Sterilisationen und Menschenversuchen wurden wissenschaftlich untersucht. Nur noch wenige große Lücken klaffen in der Geschichtsschreibung der NS-Medizin: Unklar ist vor allem noch der Umgang mit Zwangsarbeitern in Labors und Krankenhäusern. Für diesen Fortschritt hat nicht zuletzt ein neuer Forschungsansatz gesorgt, meint der Gießener Professor:

    "Das ist das sogenannte Kontinuitätsparadigma, danach haben Historiker und auch Psychiater versucht, die Kontinuitäten zu zeigen. Dass das nicht das Problem einzelner, fanatischer Nazis ist, sondern dass das eher grundlegende mentale Strukturen sind, auch institutionelle Kontinuitäten, die lange vor 1933 eine Disposition geschaffen haben, eine Bereitschaft also, dass unter den extremen Bedingungen des NS-Regimes dann Dinge ausgeführt wurden, die vorher nur diskutiert worden sind. "

    In den letzten Jahren ist jedoch Kritik an diesem Konzept laut geworden: Wer die Wurzeln der NS-Ideologie, die Entstehungsgeschichte faschistischen Gedankenguts, ins Zentrum der Forschung stelle, heißt es, erwecke schnell den Eindruck, die Katastrophe sei unausweichlich gewesen.

    Welche Handlungsmöglichkeiten der Einzelne hatte, soll durch eine neue Methodik herausgearbeitet werden: indem Forscher eine konkrete historische Situation an einem bestimmten Ort rekonstruieren, eingebettet in den politischen und ökonomischen Kontext. Professor Roelcke hat sich zum Beispiel mit Menschenversuchen befasst, die in der NS-Zeit in der Luftfahrtforschung durchgeführt wurden. Mediziner wollten ermitteln, was Piloten passiert, deren Maschine in großer Höhe abgeschossen wird, so dass der Luftdruck in der Kabine plötzlich abfällt und sie mit dem Fallschirm abspringen müssen.

    "Man hat große Höhen und den Druckabfall dort simuliert in einer Unterdruckkammer und hat dann geschaut, was passiert, wenn der Druck wieder ansteigt, das heißt, wenn sie sozusagen am Fallschirm wieder in Erdnähe kommen. Das konnte man alles technisch sehr gut simulieren, also was da gemacht wurde in dieser Forschung, rein wissenschaftlich und technisch gesehen, war das up-to-date."

    Aber als Experimente mit Tieren und Selbstversuche nicht weiterführten, schickte man Häftlinge des KZs Dachau in die Unterdruckkammer – viele überlebten die Experimente nicht.

    "Diesen Schritt haben zwei von den beteiligten Ärzten nicht mitgemacht. Und denen ist nichts passiert. Also man sieht hier den Handlungsspielraum, man konnte selbst aussteigen. Und um sich solche Fälle genau anzugucken, auch dazu haben wir jetzt ein paar Doktorarbeiten in Gang gesetzt, um rauszufinden, was waren das für Leute, die Nein gesagt haben? Waren das eigentlich Helden? Oder Leute, die in einer spezifischen Situation ein bisschen Courage bewiesen haben?"

    Entscheidend für die verbrecherischen Züge der nationalsozialistischen Medizin waren nicht die wissenschaftlichen Konzepte, betont Roelcke, entscheidend war das Fehlverhalten der Forscher. Unter dem NS-Regime waren Einzelne mit extremen ethischen Entscheidungen konfrontiert – aber in ähnlicher Form kann sich das menschliche Versagen auch heute, auch in einer Demokratie wiederholen.

    "Es gab auch massive Forschungsskandale in den USA oder in Großbritannien in der Nachkriegszeit, wo eben deutlich wird, dass Forscher sich immer wieder Räume suchen, in denen juristische Regelungen für Forschung am Menschen umgangen werden können – bis dahin, dass heute eben viele medizinische Forschung in der Dritten Welt durchgeführt wird, weil dort Regeln ignoriert werden können, die in den USA oder in Europa gelten."

    Wie aktuell noch heute die Entwicklungen sind, die deutschen Medizinern vor Hitlers Machtübernahme Kummer bereiteten, zeigt eine Untersuchung von Prof. Warren T. Reich, einem angesehenen Ethik-Experten der Georgetown-Universität, Washington. In den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die Medizin zunehmend mechanisiert und spezialisiert. Dem einzelnen Arzt blieben nur beschränkte, unbefriedigende Wirkungsmöglichkeiten. Erwin Liek, ein bekannter Krebsforscher aus Danzig, brachte damals auf den Punkt, was viele dachten. Earren T. Reich:

    "Erwin Liek schlug vor, dass die ganze Medizin eine neue Richtung brauchte. In den 20ern fühlten sich viele Mediziner in Deutschland entmutigt, denn die Medizin war sozialisiert, bürokratisiert und verwissenschaftlicht worden. Er beklagte auch, dass viele der interessante Tätigkeiten eines Arztes entfielen: Meist musste man die Untersuchung eines Problems Laborärzten überlassen, und wenn dann die Diagnose stand, übernahmen Spezialisten die Behandlung."

    Liek entwickelte daher eine neue, ganzheitliche Sichtweise: Der Arzt sollte sich wieder mit dem ganzen Menschen befassen, der ganzen Familie, ja, der ganzen Gesellschaft. Doch dieses Konzept, das den Arzt aus seiner Vereinzelung befreien und seine Arbeit in einen sinnvollen Zusammenhang stellen sollte, passte perfekt in die Ideologie der Nationalsozialisten.

    "Du bist nichts, Dein Volk ist alles" hämmerte Hitler den Deutschen ein. Das galt auch für die ärztliche Arbeit: Das große Ganze, der "gesunde Volkskörper" wurde zur wichtigsten medizinischen Aufgabe erklärt, die traditionelle ärztliche Pflicht, die Fürsorge für den leidenden Patienten, in den Hintergrund gedrängt.

    "Schließlich schlug sich die neue Richtung auch in der Sprache nieder. Man sagte nicht mehr "Fürsorge", sondern "Vorsorge". Das heißt, es ging nicht so sehr um die Fürsorge für einen individuellen Kranken, sondern um Vorsorge für den ganzen Körper der Gesellschaft."

    Auch heute haben Ärzte immer wieder zu entscheiden, ob sie das Kollektivwohl über das Wohl des Einzelnen stellen wollen – auch wenn sich ihnen die Frage weniger existenziell stellt: im Rahmen der Seuchenvorsorge etwa, wenn sie die ärztliche Schweigepflicht verletzen sollen, um den Behörden eine verdächtige Erkrankung zu melden. Oder wenn sie zwischen dem Vorrang einer Forschungsfrage und der Gesundheit der Versuchspersonen wählen müssen. Oder, so Volker Roelcke, wenn sie zwischen Anordnungen der Staatsmacht und ärztlicher Pflicht abwägen müssen:

    "Heute zum Beispiel im Zusammenhang mit der Behandlung von Leuten ohne Papiere hier in Deutschland. Wie weit verhält man sich da nach den Vorgaben der Behörden, der Polizei, der Abschiebe-Beschlüsse, oder wie weit folgt man dem eigentlich vom Weltärztebund vorgegebenen Ethos, dass alle kranken Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, und so weiter, gleich behandelt werden sollen."