Sonntag, 28. April 2024

Archiv

Evangelische Kirche
Mitgliederbefragung zur Religion im Alltag

Religion ist Privatsache: Das ist nur ein Ergebnis der neuen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der evangelischen Kirche. Ein weiteres Ergebnis: Wer einmal aus der Kirche ausgetreten ist, kommt selten wieder zurück.

Von Matthias Bertsch | 10.03.2014
    "Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis": Der Untertitel der fünften Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung – kurz KMU – deutet an, worin das Neue der Untersuchung liegt: Bislang wurde danach gefragt, welche Themen die Menschen als religiös definieren. Diesmal wollten die Wissenschaftler auch wissen, mit wem und an welchen Orten über Religion gesprochen wird, erklärt Konrad Merzyn, der im Kirchenamt der EKD für die Studie verantwortlich ist.
    "Man unterhält sich über religiöse Themen vor allem im engen, privaten Nahbereich, also vom Ort her zuhause und von den Gesprächspartnern her mit engen Wahlverwandten, Ehepartner oder ein sehr guter Freund oder erweiterte Familie, aber sozusagen das ist der ganz enge Bereich. Religion ist Privatsache könnte man sagen. So ist es aus der Sicht vieler Mitglieder, was die Diskussion über religiöse Dinge angeht."
    Es sind aber nicht nur die Erwachsenen, die sich im engsten Umfeld über den Sinn des Lebens, über Tod und Sterbehilfe unterhalten, auch die grundlegende religiöse Sozialisation der Kinder findet in der Familie statt, sei es beim gemeinsamen Gebet vor dem Essen oder beim Besuch des sonntäglichen Familiengottesdienstes. Hier liefert die neue Mitgliederbefragung für die Kirche besorgniserregende Ergebnisse. Der Titel der Studie, "Engagement und Indifferenz", legt zwar nahe, dass sich beide Phänomene die Waage halten, doch bei genauerem Hinsehen erweist sich dieses Bild als trügerisch. Dass sich drei Viertel der befragten Kirchenmitglieder einen Austritt aus der Kirche nicht vorstellen können – eine Aussage, der vor allem die Älteren zustimmen – ist für die EKD nur auf den ersten Blick ein Grund zum Aufatmen.
    "Das muss man prognostisch sagen: Auf der einen Seite ist diese hohe Zahl, drei Viertel der Kirchenmitglieder ziehen keinen Austritt in Erwägung, geschuldet den hohen Austrittswellen, die wir eben bereits erduldet haben. Also man kann sagen, es sind eben schon viele ausgetreten. Die die jetzt noch in der Kirche sind, sind die, die das nicht mehr vorhaben. Aber im Blick auf die nächste Generationen ist eine starke Distanz unter den Jugendlichen wahrzunehmen, eben auch beunruhigender Weise in Verbindung mit der Selbstauskunft: Ich habe keinerlei religiöse Sozialisation genossen."
    Für viele Jugendliche – ganz gleich ob sie in Ost- oder Westdeutschland leben, ob sie getauft sind oder nicht – ist es längst normal, ohne Bezug zur Religion aufzuwachsen. Sie lehnen die Kirche nicht ab, sondern stehen ihr gleichgültig und fremd gegenüber. Fast jedes fünfte westdeutsche Kirchenmitglied zwischen 14 und 21 gibt in der KMU an, in den nächsten Jahren aus der Kirche austreten zu wollen. Allerdings: Das können auch Alterseffekte sein, gibt die Theologin Birgit Weyel zu bedenken.
    "Also gerade dann, wenn eine eigene Familie gegründet wird, dann sind das oft Gelegenheiten, bei denen sich wieder ein Kontakt zur Kirche einstellt. Was man aber ganz deutlich sagen muss, ist, dass reine Traditionsorientierung heutzutage nicht mehr so eine wichtige Rolle spielt. Also man ist nicht einfach in der Kirche, weil das dazu gehört. Kirchenmitgliedschaft wird nicht einfach weiter vererbt, sondern Menschen fragen auch in anderen Bereichen viel genauer danach, warum bin ich da Mitglied, will ich da Mitglied sein und bleiben."
    Die freie Entscheidung für oder gegen die Mitgliedschaft in einer Kirche ist Teil einer individualistischen und pluralistischen Gesellschaft, betont der Soziologe Detlef Pollack, der bei der Erstellung der Studie mitgearbeitet hat. Allerdings stünden die Kirchen unter besonderen Plausibilitätsanforderungen.
    "Sie müssen plausibel machen, warum es sinnvoll ist, an Gott zu glauben, nicht nur, welchen Nutzen es bringt, sondern auch welche rationalen Gründe dafür sprechen, welche Erfahrungen sich damit verbinden. Und das ist natürlich sehr schwer, Leute von etwas zu überzeugen, was für sie nicht Bestandteil ihrer alltäglichen Erfahrung ist, das intersubjektiv schwer zu überprüfen ist. Also da haben es tatsächlich die Kirchen schwerer als andere Agenturen, deutlich zu machen, worin die Überzeugungskraft ihrer Botschaft liegt."
    Lassen sich aber Menschen von Religion überzeugen, wenn sie deren Sprache und Rituale in der Kindheit nicht gelernt haben? Die fünfte KMU bietet wenig Grund zur Hoffnung.
    "Ein gutes Drittel aller Deutschen gehört keiner der beiden großen christlichen Religionsgemeinschaften an, und diese Haltung 'vererbt' sich exponentiell. Denn nüchtern muss man sagen: Wer einmal weg ist, kommt in aller Regel nicht mehr wieder, sondern nimmt auch noch seine Familie, später seine Kinder und Enkel mit."
    Der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm rät unterdessen, die positiven Seiten der Erhebung in den Blick zu nehmen. Denn jene Mitglieder, die noch in der Kirche seien, entschieden sich dafür umso bewusster für ihr Christsein. Zudem eröffne Indifferenz auch die Chance für einen Neuanfang.
    "Wir sind also irgendwann in einer Situation, wo die Leute überhaupt nichts wissen vom christlichen Glauben und vielleicht irgendwann anfangen, von dieser exotischen Glaubensrichtung so fasziniert zu sein, weil sie auf alle möglichen Fragen, die man selber hat, eine ganz kraftvolle Antwort gibt."
    Ein Optimismus, den keineswegs alle in der evangelischen Kirche teilen. Das Fazit der Studie klingt zumindest deutlich pessimistischer:
    "Die evangelische Kirche nimmt seit Beginn der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen 1972 ihre kontinuierliche Schwächung wahr, ohne dass eine der bekannten geistlichen Richtungen des Glaubens ein 'Rezept' gegen den Mitglieder- und Bedeutungsverlust gefunden hat, falls es überhaupt eines gibt – diese Wahrnehmung sollte nicht beschönigt werden."