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Evolution der Moral

Reputation ist ein wichtiges Motiv. Ist es "moralisch"? Und herleitbar aus der Biologie? Die Vorlesungsreihe mit dem Titel "Evolution der Moral" wirft eben solche Fragen auf.

Von Bettina Mittelstrass | 18.11.2010
    "Redouan Bshary und seine Kollegen haben beobachtet und in Experimenten dann später auch gezeigt, dass Putzerfische an Riffen auf ihre Reputation achten, und zwar in sehr speziellen Fällen. Wenn sie einen Klienten gerade putzen, dann haben diese Fische normalerweise eine Präferenz, die obere Hautschicht zu fressen. Die fressen sie lieber als die Parasiten. Und das tun sie auch immer wieder. Dann zuckt der Fisch. Das kommt seltener vor, wenn ein anderer Klient wartet und diesem Putzer gerade bei seiner Arbeit zuguckt."

    Der Putzerfisch benimmt sich offenbar besser, wenn ihm jemand zusieht, der ihm als Nahrungsquelle wichtig ist, erläutert der Verhaltensbiologe Dirk Semmann seinen Zuhörern an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Heißt das, der Putzer beißt weniger, weil er zukünftige Klienten nicht "enttäuschen" will? Achtet der Fisch auf seinen Ruf? Ja, sagt der Juniorprofessor von der Universität Göttingen, in gewisser Weise schon. Putzerfische verhalten sich unter Beobachtung auf jeden Fall so, dass sie einen Vorteil von ihrem Verhalten haben.

    "Sie achten darauf, dass sie von den anderen als gute Putzer beurteilt werden."

    Der Befund verwirrt, denn eigentlich nimmt man an, dass nur der Mensch mit kooperativem Verhalten einen guten Ruf pflegt. Auch menschliches Kooperationsverhalten wird längst von Evolutionsbiologen oder -psychologen mit Hilfe von Experimenten untersucht. Dirk Semmann etwa kann zeigen, dass Menschen im Allgemeinen stärker mit anderen zusammenarbeiten, wenn sie wissen oder vermuten, dass ihr Verhalten von anderen wahrgenommen wird. Reputation ist ein wichtiges Motiv. Aber ist deshalb das Verhalten von Putzerfisch und Mensch vergleichbar? Ist es "moralisch"? Und herleitbar aus der Biologie? Die Vorlesungsreihe mit dem Titel "Evolution der Moral", die Wolfgang Forstmeier vom Max Planck Institut für Ornithologie und zugleich Mitglied der Jungen Akademie am Gendarmenmarkt konzipierte, wirft eben solche Fragen in den Raum.

    Forstmeier:
    "Es geht darum, evolutionsbiologische Erklärungen, Erklärungsversuche für moralisches Verhalten beim Menschen zu erkunden. wie viel kann die Evolutionsbiologie erklären? Und zu erkunden: Welche Konsequenzen könnten diese evolutionsbiologischen Erkenntnisse für uns haben?"

    Schon Charles Darwin ist davon ausgegangen, dass es zwei Triebkräfte in der Natur gibt: Konkurrenz UND Kooperation. Dass über lange Zeit das Konkurrenzprinzip der Evolution im Fokus war, lag weniger an Darwin als an jenen, die ihn interpretierten. Ein auf den ersten Blick uneigennütziges Verhalten existiert auch in der Tierwelt und bedarf der Erklärung. Für soziale Insekten – zum Beispiel Ameisen – scheinen die Interessen des Einzelnen ohne Bedeutung zu sein.

    Heinze:
    "Jede Einzelne profitiert davon, selbst Nachkommen in die Welt zu setzen, aber wenn das alle verwirklichen würden, wenn alle Arbeiterinnen Nachkommen produzieren würden, würde der gesamte Staat zerstört werden, weil niemand sich mehr um die Brut kümmern würde, niemand würde sich mehr um die Verteidigung kümmern oder um das Eintragen von Ressourcen."

    Also produzieren Arbeiterinnen unter den Ameisen keine eigenen Nachkommen, sondern ziehen die der Königin auf, erklärt Evolutionsbiologe Professor Jürgen Heinze vom Institut für Zoologie der Universität Regensburg. Aber die Arbeiterinnen verzichten nicht freiwillig!

    "Wenn eine Arbeiterin entgegen die, in Anführungszeichen, 'Regeln im Staat' verstößt, wird sie von anderen Arbeiterinnen attackiert. Das bedeutet, dass sie sehr heftig gebissen wird, dass sie letztendlich gevierteilt, das heißt bei Insekten gesechsteilt wird. Es ziehen also überall die Nestgenossinnen an den Beinen, an den Antennen und so fort und letztendlich kann es dazu führen, dass eine unbotmäßige Arbeiterin aus dem Nest rausgeworfen oder getötet wird."

    Erst gegenseitige Überwachung, Zwang und Strafe schaffen bei Ameisen den Ausgleich zwischen den Interessen der Einzelnen und dem Interesse des Gesamtstaates, so Jürgen Heinze. Altruismus erscheint als notwendige Methode – wofür? Um letztlich doch den Überlebenskampf zu gewinnen?

    Forstmeier:
    "Wie kann man sich vorstellen, dass Altruismus evolviert, wenn die Evolution doch stets den größten Egoisten zu fördern scheint? Die Antwort ist einfach: Kooperierende Egoisten können nicht-kooperierende Egoisten verdrängen."

    Heinze:
    "Es gibt durchaus Biologen, die sagen, dass jede Theorie, die versucht, den Altruismus zu erklären, den Altruismus aus dem Verhalten entfernt. Das heißt, alles was altruistisch scheint, wird irgendwie als eine Art Egoismus erklärt. Das ist weder gut noch schlecht. Also ich denke, wir dürfen nicht irgendwelche biologistischen Erkenntnisse moralisch erklären. Sondern wir müssen selbst entscheiden, wie wir uns verhalten und wir haben ein Gehirn, das groß genug ist, um das zu erlauben. Also ich denke, das ist tatsächlich in jedes Einzelnen Entscheidung, ob er oder sie sich altruistisch verhält oder egoistisch verhält."

    Die Entscheidung über das eigene Verhalten macht den Unterschied. Die Entwicklungspsychologin Monika Keller vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin ist der Ansicht, dass ein "Benehmen" wie das des Putzerfisches sprachlich nicht in die Nähe "moralischen Verhaltens" gehört. Denn mit einem Begriff von Moral, der in menschlichen Gesellschaften verwendet wird, habe das Verhalten nichts zu tun.

    "Dieser Fisch, der darf da natürlich nicht täuschen und seinem Gastgeber auch noch irgendwelches Fleisch herausreißen, sonst wird er eben dann gefressen und dann werden quasi menschliche Metaphoriken gebraucht, ohne dieses eben überhaupt zu definieren."

    Dass man überhaupt davon redet, dass Altruismus auf ein Gen zurückzuführen sei – das Forscher der Universität Bonn kürzlich gefunden haben wollen – geht der Psychologin zu weit.

    "Insbesondere auch das in Anführungsstrichen 'Selfish Gene', also das egoistische Gen. Diese Metaphorik finde ich eigentlich auch ganz furchtbar. Ich meine, ich glaube, dass Gene weder selfish noch altruistisch sind. Sie haben bestimmte Funktionen! Aber den Moralbegriff darauf zu übertragen, finde ich etwas problematisch. (...) Und das, was eigentlich Moral charakteristisch macht, nämlich, dass wir Entscheidungsfreiheit haben, dass wir Verantwortung übernehmen, dass wir Entscheidungen treffen, das ist ja da nicht drin. Das sind ja Zweckkooperationen, die quasi von der Natur aus so konstruiert sind und so funktionieren."

    Das heißt nicht, dass Moral nur mit den kognitiven Leistungen des menschlichen Verstandes zu tun hat – also mit Denken oder Urteilen. Die moderne Wissenschaft geht davon aus, dass es durchaus moralische Gefühle gibt, die Entwicklungen unterworfen sind. Monika Keller:

    "Ich meine, wenn wir den Begriff moralische Emotionen hören, dann denke ich, würde man doch spontan an so was denken wie Schuldgefühle. Das ist, glaube ich, die zentrale, moralische Emotion. Und sie entsteht dann, wenn wir uns in einer Weise verhalten haben, wo wie die berechtigten Interessen des anderen nicht berücksichtigt haben. Es gibt eine andere Emotion, über die wird immer wieder gestritten, ob sie moralisch ist oder nicht - ich würde sie den moralischen Gefühlen zuordnen - das ist die Empathie. Und ich sehe die Empathie wirklich auch als ganz zentral an auch für moralische Motivation, weil es quasi die emotionale Bindung an andere ist."

    "Eine Hand wäscht die andere", "Wie du mir, so ich dir", "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu" - Das wissenschaftliche Fachwort für das, was diese traditionellen Sprichwörter ausdrücken ist: Reziprozität. Gegenseitigkeit. Die wechselseitige Bindung an andere gilt als universelles Prinzip für menschlichen Umgang und Handeln.

    Keller:
    "Wenn man es soziologisch und psychologisch betrachtet, dann ist in der Urgemeinschaft eben auch immer Interaktion vorhanden. Personen müssen sich aufeinander verlassen können. Und sie signalisieren dann eben, ob man sich auf sie verlassen kann oder nicht."

    Unter anderem spielt dabei auch das Schuldgefühl eine Rolle.

    "Wenn ich Dir jetzt geholfen habe, du mir aber nicht, dann entstehen in mir, dem Opfer, bestimmte Gefühle - nämlich Ärger. Ich bin vielleicht auch empört, dass ich dir geholfen habe, du mir aber nicht, und in dem Täter, der also jetzt diese Hilfe nicht durchgeführt hat, der jetzt diese Regel der Reziprozität nicht beachtet hat, in dem entstehen Schuldgefühle. Und das ist diese Korrespondenz, dass ich weiß: Wenn der andere berechtigt darin ist, Empörung und Ärger zu haben, dann entstehen in mir Schuldgefühle."

    Trotzdem weiß man, dass nicht jeder Schuldgefühle hat. Aber jeder, sagt Monika Keller, der in Gemeinschaft aufwächst, hat gelernt, dass wiederum der andere sie hat.

    "Natürlich bildet offensichtlich nicht jeder diese moralische Disposition aus, aber jeder erwirbt vermutlich das Wissen darüber, dass ich, wenn ich bestimmte Handlungen begehe, Schuldgefühle empfinden sollte. Also zum Beispiel der Soziopat, der ja den anderen wirklich manipulieren kann, der hat natürlich genau dieses Wissen, aber er hat nicht die motivationale Disposition."

    Ein anderes "moralisches Gefühl", das von sozialer Interaktion abhängt, ist Scham. Der Historiker Jörg Wettlaufer von der Christian-Albrechts-Universität Kiel, erläutert im Einsteinsaal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, dass Scham immer dann entsteht, wenn gegen die Verhaltensnormen einer Gruppe verstoßen wird, zu der man sich dazugehörig fühlt – Verhaltensnormen, die in frühster Kindheit antrainiert wurden und grundlegend sind. Fairness etwa, oder Körperkontrolle.

    "Was aber nun ist der Vorteil dieses Gefühls? Warum hat es sich ausgebildet? Hier ist die durchgehende Auffassung inzwischen, dass es einfach deshalb sich ausbilden konnte, weil es für ein normenkonformes Verhalten in Gruppen sorgt und damit die Kooperation – und wir haben ja auch gerade schon gehört, dass Kooperation ein ganz wichtiger Vorteil sein kann, wenn man in Gruppen miteinander kooperieren kann, auch ein Selektionsvorteil – dass diese Kooperation durch dieses Gefühl aufrecht erhalten wird, weil durch die negative Rückmeldung bei einem Fehlverhalten ja sozusagen ein normenkonformes Verhalten produziert wird."

    Für die menschlichen Kulturgeschichte – in Bezug auf Religion, Erziehung oder Strafrecht – spielt das Schamgefühl eine erhebliche Rolle. Im christlichen Mittelalter, über das Jörg Wettlaufer forscht, ist das öffentliche an den Pranger stellen wohl das bekannteste Beispiel für eine beschämende Strafe. Die Entwicklung von Kulturtechniken, die bis heute darauf aufbauen, dass es Schamgefühl gibt, ist vielschichtig.

    Koevolution ist das Stichwort, das in diesem Zusammenhang an Bedeutung gewinnt, also zweigleisige Evolution. Die kulturelle Evolution, die wesentlich jünger ist als die biologische Evolution des Menschen und zu der auch ein differenziertes moralisches Verhalten gehört, funktioniere im Prinzip wie die biologische Evolution, vermuten zahlreiche Wissenschaftler. Voneinander abgekoppelt dürfe man sie sich aber nicht vorstellen, sagt Jürgen Heinze:

    "Als Mensch haben wir natürlich neben der langen Vorgeschichte in der natürlichen Evolution noch eine vergleichsweise kurze Geschichte in der kulturellen Evolution. Was man aber beobachten kann, ist, dass kulturelle Evolution und natürliche Evolution eigentlich nicht dauerhaft entgegengesetzt wirken können. Das heißt, irgendeine kulturelle Idee, die dazu führt, dass man sich nicht mehr fortpflanzt in einer großen Gruppe, die wird auf Dauer nicht stabil sein."

    Die "Gruppe" der Menschen, die in Beziehung zueinander lebt, erstreckt sich heute über die ganze Welt. Gegenseitige Hilfe überwindet alle Grenzen und kommt Menschen zu Gute, die man nie gesehen hat und niemals sehen wird. Wie erklären Evolutionsbiologen dieses weit entwickelte Prinzip von "Eine Hand wäscht die andere" in der menschlichen Kultur? Worin besteht der evolutionäre Vorteil solchen Verhaltens? Die Biologie tut sich hier tatsächlich schwer mit einer Erklärung für dieses altruistische Verhalten. Der Evolutionsbiologe Jürgen Heinze:

    "Es gibt im Moment eine ganze Reihe von Experimenten, die zeigen, dass Studierende oder auch irgendwelche anderen Versuchspersonen in einem Experiment sich altruistisch verhalten oder kooperativ verhalten, auch wenn sie mit dem Partner nie wieder zusammen kommen. Und das ist eigentlich biologisch sehr, sehr schwer zu erklären, weil Kooperation sollte eigentlich nur zwischen Individuen stattfinden, die eine reelle Chance haben sich wieder zu treffen - dieser reziproke Altruismus - oder aber die miteinander verwandt sind. Das wäre dann Verwandtenselektion. Ich denke hier aber, dass wir kein neues Denkmodell brauchen, um das zu erklären, sondern dass eigentlich die Situation, in der die Probanden da getestet werden, eine unnatürliche ist."

    Menschen verhalten sich gegenüber Fremden aus dieser Sicht fälschlicherweise uneigennützig. Weil sie 99 Prozent ihrer Entwicklung in kleinen, eng verwandten Gruppen gelebt hätten, meint Jürgen Heinze, gingen sie nach wie vor davon aus, dass sich ihr altruistisches Verhalten – biologisch – lohne. Auf die Weltgesellschaft und den anonymen Umgang sei die menschliche Biologie noch nicht eingestellt. Das Verhalten sei eine Art Ballast aus der Evolution. Bedeutet das: Weltbürger würden sich ihrer Natur nach eigentlich gar nicht gegenseitig helfen? Erklärungen mithilfe der Evolutionstheorie stoßen hier wohl an Grenzen. Auch die Psychologin Monika Keller bestreitet nicht, dass die Herausforderungen jung sind, aber dass unser Umgang in einer Weltgesellschaft durch Trägheit bestimmt sein soll, sieht sie nicht. Menschen wissen ja von den Anderen, den weit Entfernten, viel mehr als je zuvor.

    "Jetzt in der modernen Gesellschaft wird noch ganz anderes mitgefordert, weil wir ja ganz andere Arten von Interaktionen haben und weil es auch die Frage ist, auf wen wir denn diese Reziprozität übertragen und wem gegenüber wir uns schuldig fühlen und wem gegenüber nicht und da kommen wir auch auf die Frage: eine Gruppe, also Gruppenmoral? Oder eben eine universelle Moral, so wie sie ja in den Menschenrechten versucht worden ist zu definieren."

    Solche und andere ethische Fragen werden in der letzten Vorlesung das Thema sein, die am 13. Januar 2011 das Thema "Evolution und Moral" an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften abschließen wird. Schon jetzt ist klar: Die Evolutionsbiologie bietet verschiedene Erklärung für das Verhalten des Menschen an. Was sie nicht tut ist Verhalten zu entschuldigen! Der Evolutionsgenetiker Wolfgang Forstmeier:

    "Diesen Fehlschluss, dass man eben von dem Sein, wie man es beobachtet, auf das, wie es sein sollte, schließen kann, dem kann man sich immer nur sehr schwer erwehren, weil unser Gehirn, denke ich, diese Dinge immer automatisch verknüpft. Und mit diesem schwierigen Problem wollen wir uns dann eben in der letzten Veranstaltung mit zwei Philosophen unterhalten."