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Evolution
Die Lüge als "Wetzstein der Intelligenz"

Lügen lohnt sich, zumindest aus Sicht der Evolution. Denn Tricksen und Schwindeln trainieren den Intellekt und machen das Leben interessant, wie Volker Sommer in seinem Buch "Lob der Lüge" an zahlreichen menschlichen und tierischen Beispielen zeigt. "Ein Lesegenuss - ungelogen", meint unser Rezensent.

Von Joachim Budde | 22.12.2015
    Eine Gruppe Paviane
    Clevere Paviane beherrschen die Königsdisziplin der Lüge - ganz ohne Worte (Rob Nelson)
    Ob VW- oder FIFA-Skandal – diese Affären haben wieder mal gezeigt: Lügen haben kurze Beine und sorgen zuverlässig für Empörung. Aber Lügen kann sich dennoch lohnen. Zumindest evolutionär betrachtet, wie Volker Sommer in seinem neuen Buch "Lob der Lüge" erklärt. Der Professor für Evolutionäre Anthropologie macht allerdings keinen Hehl daraus, dass die Kirchenväter und die alten Philosophen anderer Ansicht waren.
    "Die Vorstellung, dass naturbelassene Geschöpfe einander nichts Übles wollen, wurzelt im jüdisch-christlichen Mythos, Gott habe die Welt 'gut' erschaffen und das Böse sei erst mit dem Sündenfall gekommen. Viele Glaubenslehrer haben deshalb die Lüge als widernatürlich verworfen."
    Pavian Paul und seine Tricks
    Dabei liegen Lug und Trug in der Natur von Mensch und Tier. Mehr noch: Die Lüge ist ein wichtiger Treiber der Evolution. Das belegt Volker Sommer gut nachvollziehbar mit wissenschaftlichen Studien und lebendig beschriebenen Beispielen.
    "Der jugendliche Pavian Paul beobachtet, wie ein erwachsenes Weibchen aus dem Savannenboden schmackhafte Knollen ausgräbt. Die Kraft kleiner Paviane reicht nicht aus, um sich die Leckerei zu erbuddeln. Paul blickt sich um, aber andere Gruppenmitglieder sind nicht zu sehen. Unvermittelt beginnt Paul, laut zu kreischen – was Paviane normalerweise nur tun, wenn sie bedroht werden. Sekundenschnell ist denn auch Pauls Mutter zur Stelle. Sie jagt das Weibchen über alle Berge. Paul aber vernascht die Knolle."
    Erfolgreiches Lügen erfordert Empathie
    Tierarten, die in größeren Gruppen leben, verteidigen sich, lausen sich und jagen gemeinsam. Das ist effektiv. Die einzelnen Tiere aber konkurrieren untereinander um sichere Schlafplätze, Sexualpartner oder Nahrung. Andere zu durchschauen und zu manipulieren bringt dem Einzelnen erhebliche Vorteile. Schimpansen etwa können ihre Artgenossen von versteckten Leckerbissen ablenken. Clevere Affen wiederum durchschauen diesen Schwindel sofort.
    Dieses "Gedankenlesen", das Menschenkinder erst im vierten Lebensjahr so langsam erlernen, ist so etwas wie die Königsdisziplin der Lüge. Auch Raben beherrschen sie. Um sie zu meistern, braucht man ein leistungsfähiges Gehirn. Darum war die Lüge, schreibt Volker Sommer, sozusagen der Wetzstein unserer Intelligenz.
    Ohne Lüge wäre das Leben langweilig
    "Ohne die Lüge als persönliche Trainerin unseres Intellekts wäre unser Leben sterbenslangweilig. Wir mögen unter ihr leiden, doch schenkt sie uns vieles von dem, was uns unterhält und erheitert, uns Spannung beschert, uns zum Weinen oder Lachen bringt: von Kriminalromanen und Liebeserzählungen über Märchen und Kinofilme bis hin zu bildender Kunst, Musik, Theaterstücken und täglichen Klatsch und Tratsch. Die Lüge hat uns somit das eröffnet, was im Deutschen wunderschön 'Einfühlung' genannt wird."
    (Soundschnipsel Zielgruppe)
    Leute, die wissen wollen, wie das Wettrüsten von Lügen und Durchschauen uns schlau gemacht hat.
    (Soundschnipsel Erkenntnisgewinn)
    Trotzdem muss der Hang zur Lüge gezähmt werden
    Der Hang zur Lüge mag tief in uns stecken, doch die alten Philosophen hatten letztlich Recht: Für das Zusammenleben in komplexen Gesellschaften mussten wir ihn zähmen.
    (Soundschnipsel Spaßfaktor)
    Anschaulich und gut verständlich. Ein Lesegenuss – ungelogen!
    Volker Sommer: "Lob der Lüge. Wie in der Evolution der Zweck die Mittel heiligt"
    Verlag S. Hirzel 2015, 166 Seiten, 19,80 Euro