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Evolutionen

Neugier und Sitzfleisch, das sind die Tugenden des Charles Darwin, der in diesen Tagen seinen 200. Geburtstag feiern würde. Fünf Jahre Naturbeobachtung in den entlegensten Winkeln der Welt und über 20 Jahre Sammeln und Sichten im südenglischen Down führten zur Evolutionstheorie. Beachtlich, wie viele Phänomene er erklären konnte. Beachtlich aber auch, dass er die Schwachstellen seiner eigenen Theorie erkannte und die richtigen Fragen an nachfolgende Forscherkollegen weiterreichte.

Von Volkart Wildermuth | 08.02.2009
    Es ist etwas Großartiges an dieser Sicht des Lebens.

    "Was mich an Darwin am meisten fasziniert, ist, wie er ohne diese ganzen Kenntnisse über die Biologie, über die molekulare Biologie, die wir heute haben, trotzdem zu so einem gewaltigen Theoriegebäude kommen konnte. Einfach nur aufgrund von Beobachtungen der Natur und intensivem Nachdenken wie man das am besten erklären kann."

    Endlich hat sich ein Lichtstrahl gezeigt, und ich bin nahezu überzeugt, dass die Arten, - mir ist als gestände ich einen Mord - nicht unveränderlich sind.

    "Es ist immer wieder erstaunlich, wenn man dann genau nachliest, was bei Darwin dann tatsächlich schon geschrieben war oder zumindest angedeutet war."

    Ich glaube, das einfache Mittel entdeckt zu haben - das ist die Vermessenheit!- , durch das die Arten so ausgezeichnet an verschiedene Zwecke angepasst sind.

    "Darwins Theorie, da gibt es das Faszinierende für mich eigentlich, dass seine Theorie sich ja allen Versuchen, sie zu widerlegen bisher erfolgreich widersetzt hat. Und die Fragestellungen, die wir heute noch verfolgen, die ergeben sich tatsächlich aus dem, was Darwin damals beschrieben hat."

    Aus so einfachem Anfang hat sich eine endlose Reihe höchst schöner und höchst wundervoller Formen entwickelt und entwickeln sich noch.

    12. Februar 1809. In Shrewsbury, England kommt Charles Robert Darwin zur Welt. Mit Neugier und Sitzfleisch wird er eine Theorie entwerfen, die die Welt verändert. In der Wissenschaft und darüber hinaus. Noch heute inspiriert und provoziert Darwins Evolutionstheorie.

    "Das vielleicht verstörende an Darwins Theorie ist, es gibt keine Richtung, es gibt kein Ziel. Dass insbesondere der Mensch einfach so ein zufälliges Produkt der natürlichen Selektion sein sollte, damit hatte auch Darwin große Schwierigkeiten, das hat ihm nicht gefallen."

    Dr. Wolfgang Enard, Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, Leipzig.

    "Ich finde das wirklich sehr beeindruckend, mit welcher Konsequenz er das weitergedacht hat, obwohl ihm... er schon wusste, dass das schon irgendwie das Selbstbewusstsein des Menschen in irgendeiner Form beeinträchtigt. Aber ich meine, insbesondere jetzt, wo wir DNA-Sequenzen lesen können, es gibt kein eindrucksvolleres Beispiel, dass das so ist, wie wenn man sich ein paar DNA-Sequenzen anschaut. Es ist ganz klar, der Schimpanse ist unser nächster Verwandter."

    Keiner hat die Evolutionstheorie besser verstanden als Darwin. Er hat das Wirken der natürlichen Selektion in unzähligen Beispielen demonstriert und er hat die Fragen gestellt, die bis heute Evolutionsforscher inspirieren. Fragen, die sie jetzt endlich, mit modernen Methoden, beantworten können.

    Variation und Selektion in der Erbsubstanz.

    In den Datenbanken von Wolfgang Enard finden sich das komplette Erbgut von Maus und Ratte, Hund und Katze, Schimpanse und Mensch, bald sogar das des Neandertalers. Charles Darwin belegte die Ähnlichkeiten von Mensch und Affe in Anatomie und Verhalten. Wolfgang Enard geht auf seinen Spuren weiter, versucht in den Gensequenzen aufzuspüren, welche Mutationen den Menschen zum Menschen machten.

    "Also, was wir versuchen, ist, genetisch Geschichte zu rekonstruieren. Und wir haben jetzt die ersten einzelnen Gene am Wickel, wo wir hoffen, dass vielleicht funktionell wichtige Änderungen passiert sind. Wie in einem für Sprache wichtigen Gen, FoxP2. Dieses Gen hat sich beim Menschen besonders stark geändert. Diese zwei Dinge zusammen, das erste Gen in der Hand, das spezifisch Sprache oder Sprachfähigkeit beeinflusst, zusammen mit auffällig vielen Änderungen während der menschlichen Evolution hat dieses Gen sehr interessant für uns gemacht."

    "Sie haben sich ja angeguckt, sowohl die Sequenzen der einzelnen Gene, Sie haben sich aber auch angeguckt, wie beim Menschen und beim Schimpansen die Gene verwendet werden, in welchen Geweben sie wie häufig und wie stark aktiviert werden. Wenn Sie das jetzt ins Gesamtbild der Evolution stellen, sind die Unterschiede zwischen Mensch und Schimpanse besonders auffällig?"

    "Mich persönlich hat, glaube ich, vor allem überrascht, wie gewöhnlich doch die genetische Evolution des Menschen ist. Ich hatte natürlich auch ein bisschen gehofft, dass sozusagen manche Dinge, vielleicht bestimmte Gehirnevolutions-Entwicklungsprozesse einem direkt aus der Genomsequenz entgegenspringen würden. Das ist nicht der Fall. Anscheinend kommen wir mit einer eher moderaten Anzahl von Änderungen aus. Und das finde ich eine überraschende Erkenntnis, dass wir doch immer wieder gewöhnlicher sind, als wir es eigentlich erwarten. "

    Der junge Charles Darwin ließ wenig Potential erkennen. Abgebrochenes Medizinstudium, Studium der Theologie ohne Ehrgeiz. Nur die Natur konnte den Spross einer wohlhabenden Familie begeistern. Da bot sich die Chance, auf dem Vermessungsschiff "Beagle" um die Welt zu fahren. Während die Besatzung die britischen Kolonien vermaß, sammelte Charles Darwin Gesteine, Fossilien, Pflanzen, Tiere. Unvoreingenommen und bereit zu staunen.

    Galapagos Archipel. Ich warf eine (Echse) mehrmals, so weit ich konnte, in einen tiefen Tümpel und jedes Mal kam sie wieder genau zu der Stelle zurück, wo ich stand. Vielleicht lässt sich diese scheinbar einzigartige Dummheit dadurch erklären, dass dieses Reptil an Land keinerlei Feinde hatte, wohingegen es im Meer oftmals die Beute von Haien werden dürfte.

    "Ich glaube, dass sein relativ, sagen wir mal, beschützter Welthorizont, den er da mit auf die Reise genommen hat, schon brüchig geworden ist auf der Reise und dass sich vieles für ihn rekonfiguriert hat, in seiner Vorstellung über die Welt."

    Professor Hans-Jörg Rheinberger. Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin.

    "Dieser fünfjährige Erfahrungstrip, den soll man nicht unterschätzen, das war für ihn das große Bildungserlebnis, von dem er auch den Rest seines Lebens irgendwie gezehrt hat. Was nicht bedeutet, dass er auf der Reise schon seine Evolutionstheorie formuliert hat."

    Sogar die später so berühmten Finken hatte Darwin anfangs kaum beachtet. Doch der Keim des Zweifels an den althergebrachten Vorstellungen von Kirche und Katheder war gelegt.

    Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass Inseln, die rund fünfzig bis sechzig Meilen voneinander entfernt und zumeist in Sichtweite voneinander liegen, aus genau demselben Gestein geformt, einem ganz ähnlichen Klima ausgesetzt, auf eine nahezu gleiche Höhe ansteigend, unterschiedlich bewohnt sind.

    Evolution in flagranti.

    Die Evolution ist ein langsamer, ein sehr langsamer Prozess. Das hat Darwin immer betont. Auf den Galapagos-Inseln konnte er ihr Ergebnis beschreiben, nicht aber ihr Wirken beobachten. Im Labor gelingt es Wissenschaftler heute, den Selektionsdruck künstlich so weit zu steigern, dass Anpassung quasi vor ihren Augen geschieht. Am Max-Planck-Institut für molekulare Pflanzenphysiologie stellt Professor Ralph Bock einen entscheidenden Evolutionsschritt nach: die Entstehung der Chloroplasten, der Zellorgane, mit denen die Pflanzen das Sonnenlicht nutzen. Die Chloroplasten entstanden, als vor Urzeiten eine hochentwickelte Zelle eine Blaualge in sich aufnahm, sie sozusagen versklavte. Bock:

    "Und was für uns zum Beispiel interessant ist, ist, dass dabei das Genom dieser Blaualge sehr, sehr stark reduziert wurde. Diese Gene sind aber nicht einfach verschwunden, sondern ein großer Teil von diesen Genen ist dann letzen Endes im Zellkern der Pflanzenzelle gelandet, und wie diese Mechanismen ablaufen, das ist also ein Teil unserer Forschung, wie die Gene aus dem Chloroplasten in den Kern wandern können."

    "Wir sind jetzt hier im Keller des Institutes. Dr. Stephanie Ruf hat mich hierhergeführt, hier sind die Klimakammern, man hört im Hintergrund das laute Wummern. Wir haben die Tür aufgemacht, es sieht so ein bisschen aus wie ein Kühlschrank, oben sind Neonröhren und auf den Gittern sind Dutzende runder Petrischalen, und dann sind da so kleine Klümpchen, das sieht so ein bisschen aus wie Blumenkohl. Was ist das denn?"

    Ruf:

    "Das sind kleingeschnittene Tabakblätter, allerdings jetzt nicht mehr grün, wie man das von einer Pflanze üblicherweise gewohnt ist. Sondern inzwischen ausgebleicht, dank Antibiotikum."

    Ruf:

    "Diese Pflanzen haben künstlich Chloroplastengene erhalten, die sie widerstandsfähig gegen ein Antibiotikum machen, aber in den Chloroplasten selber funktionieren die nicht, die funktionieren erst, wenn dieses Gen hinüber hüpft in das Kerngenom, in das eigentliche Genom der Tabakpflanze. Wie lange müssen Sie den schauen, bis Sie etwas gefunden haben?"

    Ruf:

    "Es dauert je nach Test schon 200 bis 2000 Platten, bis man mal ein Gentransferereignis sieht."

    Ruf:

    "Hier haben wir jetzt glücklicherweise gerade eine Platte, wo man sehr schön sieht, wie sich neue Tabakpflänzchen entwickeln, also wir sehen hier letztendlich eine einzige Zelle, die sich zu mehreren Tabakpflanzen entwickelt hat, und diese Pflanzen sind jetzt resistent gegen das Antibiotikum. Es ist unendlich spannend."

    Bock:

    "Das ist für uns der ultimative Beweis. Jawohl, so kann die Evolution tatsächlich abgelaufen sein, weil wir sind in der Lage, wenn wir den Prozess ausreichend beschleunigen, das auch innerhalb kürzerer, viel kürzerer Zeit im Labor ablaufen zu lassen. Ich glaube, das ist eine wichtige Säule, diese so genannte experimentelle Evolutionsbiologie, um tatsächlich nachzuweisen, dass Evolution heutzutage keine Theorie mehr ist, sondern ein wissenschaftlicher Fakt."

    Im 19. Jahrhundert lagen viele Ideen in der Luft. Jean-Baptiste de Lamarck hatte die Unveränderlichkeit der Arten in Zweifel gezogen. Die Bevölkerungstheorie des britischen Ökonomen Thomas Malthus zeigte, dass begrenzte Ressourcen dem Vermehrungsdrang der Menschen Grenzen setzen. Und der Geologe Charles Lyell konnte die Entstehung von Gebirgen und Meeren durch die alltäglichen Kräfte von Wind und Wasser erklären, wenn sie nur lange genug wirkten. Charles Darwin griff all diese Gedanken auf, wandte sie auf die Biologie an und formulierte schon ein gutes Jahr nach seiner Rückkehr mit der "Beagle" erste Skizzen eines Grundgesetzes des Lebens. Etwas später schreibt er:

    So geht aus Tod, Hungersnot und dem Ringen um Überleben die Erzeugung der höheren Tiere unmittelbar hervor.

    Zufall und Notwendigkeit. Spontane, aber vererbte Unterschiede zwischen den Individuen einer Art. Dann das harte Urteil der natürlichen Selektion: wer schlechter angepasst ist, hinterlässt weniger Nachkommen. Und schließlich die Zeit, Millionen von Jahren. Milliarden Wiederholungen des Tanzes von Zufall und Notwendigkeit ergeben schließlich aus einem Ursprung die Vielfalt der Formen. Wahrlich eine großartige Sicht des Lebens, die festgefügte Ansichten in der Biologie und weit darüber hinaus hinwegfegen konnte. Doch Charles Darwin war kein heißblütiger Revolutionär. Er wollte Gewissheit. Und so unternahm er eine zweite Reise, eine Reise des Intellekts, während sein anfälliger Körper bei seiner Frau und den vielen Kindern in seinem Haus in Down blieb.

    "Er hatte einen Schreibtisch, er hatte ein Arbeitszimmer da auf seinem Landsitz und hat natürlich, wann immer es, sagen wir mal, um spezielle Fragestellungen ging, auch durchaus die Ressourcen, die ihm London und Cambridge in Form von naturwissenschaftlichen und naturkundigen Kapazitäten zur Verfügung gestellt hat, die hat er angezapft."

    Hans-Jörg Rheinberger. Fast noch wichtiger als die direkten Kontakte waren die unzähligen Briefe. Darwin stand mit über 2000 Personen in Kontakt, belästigte sie mit einer Lawine von Fragen, immer auf der Suche nach weiteren Bestätigungen für sein Kind, seine Theorie.

    Mein Geist scheint eine Art Maschine geworden zu sein, die große Mengen von Fakten zu allgemeinen Gesetzen zermahlt.

    Trotzdem war er auch zwei Jahrzehnte nach seiner genialen Idee nicht so weit, sie auch zu veröffentlichen. Da erhielt er einen Brief des Naturforschers Alfred Russel Wallace, der unabhängig von Darwin zu denselben Schlüssen gelangt war. Aber es war Charles Darwin, der am 24. November 1859 in seinem Buch "Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn" die vielen, vielen Argumente präsentierte, die auf lange Sicht Forscher und Gesellschaft überzeugen sollten.

    Artbildung oder die Darwinschen Schnecken aus Sulawesi

    "So, das ist also zum Beispiel eines solcher Sammlungsschätze, das ist aufgearbeitetes Material einer Gruppe von Süßwasserschnecken aus Südostasien."

    Im Berliner Museum für Naturkunde beschäftigt sich Professor Mathias Glaubrecht mit der Frage, wie es zur Vielfalt des Lebens kommt, die Darwin Zeit seines Lebens mit Ehrfurcht erfüllte. Seine Theorie erklärt vor allem die Anpassung bestehender Arten an ihre Umwelt. Wie neue Äste am Baum des Lebens sprießen, war ihm weniger klar. Moderne Evolutionsbiologen werfen mit Elektronenmikroskop, DNA-Vergleich und vor allem mit einer systematischen Sammlung von Tieren und Pflanzen neues Licht auf die Kräfte der Artbildung. Mathias Glaubrecht studiert sie in den Seen der Insel Sulawesi.

    "Das Erstaunliche an Sulawesi ist, dass es tatsächlich ein Naturlaboratorium ist, wo die Evolution in sehr kurzer Zeit offensichtlich - die Geologen sagen uns, das kann nicht länger her sein als ein bis zwei Millionen Jahre, das ist ein vergleichsweise geringer Zeitraum - dass es dort zu einem Artenschwarm gekommen ist. Das heißt zu einer geradezu explosionsartigen Auffächerung in 40, vielleicht sogar 50 verschiedene Süßwasserschnecken auf dieser Insel. Und gerade das ist natürlich ein wunderbares Schauspiel, das wir untersuchen können. Also wir können der Natur in Aktion dabei gleichsam über die Schulter gucken."

    "Hier sind jetzt Fotos von den Raspelzungen der verschiedenen Schnecken, das sind mit dem Rasterelektronenmikroskop gemachte Aufnahmen. Was können Sie denn aus den Bildern ablesen?"

    Glaubrecht:

    "Wir wissen also, dass die hier so ein bisschen wie Pilze aussehen, dass die sehr viel mehr, ich würde sagen spatelförmig, wie so ein Spachtel zum Abkratzen von Algen auf Hartsubstrat geeignet sind. Wir finden diese Schnecken, die eine solche Radulaform haben, auch immer auf Felsen oder auf den Bäumen, die unter Wasser untergetaucht sind, dort finden wir also diese Radulaform am häufigsten, während andere, die feine, spitze Zähne haben, die fast so wie Haken und Rechen aussehen, das sind Radula von Arten, die wir im Weichsubstrat finden. Wir wissen durch die ökologischen Daten, die wir bei der Aufsammlung im Gelände erhoben haben, dann auch tatsächlich, wo sie genau gelebt haben, und wir können dann auch über die genetischen Vergleiche rausfinden, dass sie sich tatsächlich genetisch unterscheiden. Das heißt, wir wissen, dass es offensichtlich Spezialisierungen auf bestimmte Nahrung gibt, und das würde uns einen Mechanismus andeuten, wie ihn Darwin schon erkannt hat."

    "Die Entstehung der Arten" provozierte eine breite öffentliche Debatte. Unter Naturforschern war die natürliche Auslese hochumstritten. Es gab glühende Verehrer Darwins ebenso wie gnadenlose Kritiker. Besonders die Vorstellung, der Mensch habe affenähnliche Vorfahren, erregte die Gemüter. Dabei hatte Darwin selbst sich bei dieser Frage vornehm zurückgehalten und ihr in seinem Buch nur einen kurzen Satz gewidmet.

    Licht wird auch fallen auf den Menschen und seine Geschichte.

    Der Mensch kein Ebenbild Gottes, sondern ein Produkt blinder Evolution? Viele Geistliche verdammten das Buch. Während die Kirche Darwin kritisch gegenüberstand, nahm die Politik seine Ideen bereitwillig auf. Hans-Jörg Rheinberger betont, dass keineswegs nur das rechte Lager Darwin für eine quasi naturgesetzliche Bestätigung der eigenen Position vereinnahmte.

    "Die frühe Arbeiterbewegung in Deutschland hat Darwin durchaus in dem Sinne interpretiert, dass alles sich zum Besseren wenden wird. Es verändert sich ja auch etwas in der Natur, also, warum soll man das nicht eben auch für gesellschaftliche Entwicklungen fruchtbar machen? Auf Seiten sagen wir mal des Liberalismus wurde das Konkurrenzprinzip, das ja irgendwie in der Darwinschen Form der Evolutionstheorie eine wichtige Rolle spielt, auch als Prinzip der gesellschaftlichen Entwicklung, als Prinzip des laisser faire und der marktwirtschaftlichen Entwicklung und der Selbstregulation gesehen."

    Der so genannte Sozialdarwinismus argumentierte, Armenhäuser und Sozialsysteme würden die Schwachen vor der Kraft der Auslese schützen und damit zur Degeneration der Gesellschaft führen. Die Eugenische Bewegung ging noch einen Schritt weiter, forderte wie auch immer definierte "Minderwertige" gleich an der Fortpflanzung zu hindern. In vielen Ländern wurden Gesetze zur Zwangssterilisation verabschiedet, die zum Teil bis in die 70er Jahre in Kraft bleiben. Schließlich wurden Darwins graduelle Unterschiede im Vermehrungsvermögen der Individuen umgedeutet in einen schicksalhaften Überlebenskampf unterschiedlicher Menschenrassen. Charles Darwin lernte auf seiner Reise mit der "Beagle" viele für ihn fremdartige Völker kennen. Meist überraschten ihn Gemeinsamkeiten. Bei seinem Kontakt zu den Feuerländern hatte er aber gemischte Gefühle.

    Diese armen Teufel waren im Wachstum verkümmert, ihre hässlichen Gesichter mit weißer Farbe beschmiert, die Haut verdreckt und schmierig, die Haare verfilzt, die Stimme misstönend und die Gebärden gewalttätig. Angesichts solcher Männer vermag man sich kaum einzureden, dass dies Mitmenschen und Bewohner ein und derselben Welt sind.

    Rheinberger:

    "Darwin war in dieser Hinsicht ein Kind des 19. Jahrhunderts. Das ist klar, aber Darwin hat sich immer relativ vorsichtig ausgedrückt und in seiner Familie gab es ja doch eine massive Tradition der Haltung gegen den Sklavenhandel beispielsweise, was ja auch impliziert, dass man die schwarze Bevölkerung nicht als irgendwie Untermenschen ansieht. Ganz im Gegenteil."

    Obgleich die jetzt lebenden Rassen des Menschen in vielen Beziehungen voneinander verschieden sind, so findet man doch auch wieder, dass sie einander in einer ganzen Menge von Punkte außerordentlich ähnlich sind. Dieselbe Bemerkung trifft in gleicher oder noch größerer Stärke hinsichtlich der zahlreichen Punkte geistiger Ähnlichkeit zwischen den verschiedensten Rassen des Menschen zu.

    So schreibt der 59 jährige Charles Darwin. Zum Vergleich Ernst Haeckel, der die Evolutionstheorie in Deutschland populär gemacht hatte.

    Naturmenschen stehen in psychologischer Hinsicht näher den Säugethiren - Affen, Hunden - ,als dem hochcivilisierten Europäer. Daher ist auch ihr individueller Lebenswerth ganz verschieden zu beurtheilen.

    Diese Ansicht gewann im frühen 20. Jahrhundert breite Zustimmung, nicht nur in Deutschland, aber hier mit besonders dramatischen Auswirkungen. Viele namhafte Biologen wollten ihre Wissenschaft in der Politik angewandt sehen. Die Nationalsozialisten machten dann Ernst aus der Theorie und ermordeten Millionen Juden, Zigeuner, Slawen in ihrem Wahn von der reinen Rasse. Hans-Jörg Rheinberger:

    "Darwin ist sicher eines der Reservoirs oder das Darwinsche Denken ist eines der Reservoirs, auf das man zurückgreifen konnte. Ich wäre weit davon entfernt, da ursächliche Zusammenhänge herstellen zu wollen. Ich glaube, das macht man sich immer viel zu einfach. Darwin hätte sich wahrscheinlich im Grabe umgedreht, wenn er das hätte erfahren müssen, wie da mit Versatzstücken seiner Theorie umgegangen wird. "

    Vom egoistischen Gen zum Superorganismus.

    Konkurrenz ist in der Biologie allgegenwärtig. Kooperation ist es aber auch. In jeder Zelle kooperieren winzige Zellorgane. Insekten befruchten Blüten und erhalten dafür Nektar. Die Darmflora versorgt den Menschen mit Vitaminen und profitiert selbst von der gesicherten Nahrungszufuhr. Am weitesten treiben die Kooperation aber die Insektenstaaten. Millionen von Individuen arbeiten zusammen, damit eine Königin erfolgreich Ei nach Ei nach Ei legen kann.

    "Als Darwin sein großes und so wichtiges Buch, ,The origin of species‘ also die Entstehung der Arten durch natürliche Selektion herausbrachte, waren die sozialen Insekten und speziell die Ameisen und die Bienen ein großes Problem für ihn. Wie kann solches altruistisches Verhalten evolvieren durch natürliche Selektion, wenn die Individuen, die das Verhalten zeigen, selbst keine Nachkommen haben. Und in seiner Genialität, er hat lange daran gearbeitet, hat er dann eigentlich die Lösung gefunden. Er hat genau das, was wir jetzt machen, er hat die Kolonie als die Einheit der Selektion gesehen, und als er das gelöst hatte, das hat ihn lange geplagt, war eigentlich seine Theorie gerettet."

    Ameisenforscher Professor Bert Hölldobler von der Arizona State University ist voller Bewunderung für Darwin. Dabei wurden dessen Ideen zur Kooperation lange Zeit abgetan. Unter Biologen war es fast ein Tabu, von der "Selektion von Gruppen", von "Kolonien" zu sprechen. Evolution, so lautete das Dogma, spielt sich auf der Ebene von egoistischen Genen ab. Pflanzen, Tiere, Menschen galten als bloße Vermehrungsvehikel für die Erbanlagen. Eine Kolonie nur als Summe der darin aktiven Gene. Seit einiger Zeit steigt aber das Unbehagen an diesem rein gen-zentrierten Blick auf die Biologie. Bert Hölldobler ist fest überzeugt: die Evolution der Insektenstaaten kann man nur verstehen, wenn man einen ganzen Ameisenstaat nicht als Ansammlung von Individuen begreift, sondern als Superorganismus. Die Einzeltiere ähneln dabei den Zellen und Organen eines Körpers, die nur zusammen überleben können. Hölldobler:

    "Eine Späherin entdeckt eine Futterquelle, sie muss nach Hause laufen, sie muss in großer Geschwindigkeit Nestgenossinnen rekrutieren. Das geht meist chemisch bei den Ameisen. Also die Kolonie, die das besser macht, wird mehr Ressourcen reinbringen als die Nachbarkolonie, wird mehr Geschlechtstiere produzieren, die letztlich dann hinausfliegen, sich paaren und neue Kolonien gründen. Also Sie sehen, hier kommt es auf die Kolonie drauf an, die funktionieren muss, und deswegen auch der Begriff Superorganismus."

    So heißt auch das Buch, das Bert Hölldobler gerade zusammen mit seinem Kollegen Ed Wilson geschrieben hat und das unter Biologen für heftige Debatten sorgt. Die Bedeutung der Kolonie zeigt sich am überzeugendsten in den Turnieren mancher Ameisenarten. Dabei lassen zwei Kolonien ihre Truppen zu tagelangen Schaukämpfen aufmarschieren, um zu bestimmen, welches Volk das stärkere ist. Analogien zu menschlichem Verhalten bieten sich an, vielleicht nicht ganz zufällig. Die Frühmenschen werden schließlich nur in der Gruppe und als Gruppe überlebt haben. Und die Gruppe bot die Chance, von der Selektion der Gene endgültig überzugehen in eine Evolution der Ideen, die Kultur.

    "Mein Kind", nannte Darwin seine Evolutionstheorie. Und dieses Kind unterstützte er tatkräftig auf seinem Weg in die Welt. Er suchte weiter Fakten, beantwortete Fragen und stellte sich der Kritik. Zu seinen Lebzeiten erschienen sechs Auflagen der "Entstehung der Arten". In jeder ging er in der für ihn typischen offenen und ehrlichen Weise auf neue Einwände ein, stärkte so letztlich die Theorie. Daneben schrieb er weitere Bücher, über die Anpassung zwischen Insekten und Orchideen, die Bewegungen der Pflanzen, fleischfressende Pflanzen. Sie alle sind Variationen über ein Thema, so Hans-Jörg Rheinberger: die Evolution. Sogar sein letztes Werk über die Bedeutung der Regenwürmer für die Fruchtbarkeit des Bodens.

    "Darwin hat ja sehr ökologisch gedacht, er hat den Evolutionsvorgang nicht als die Entwicklung einer bestimmten Organismenart vorgestellt, sondern als ein vielfältiges und vielflächtiges Netzwerk, in dem die Entwicklung von vielen Arten in ständiger Interaktion miteinander ist und zwar in einem Ausmaß, dass vielleicht sogar die organismische Umgebung für die Evolution einzelner Arten wichtiger wird als die physikalische. Da ist er ganz modern."

    Ganz modern ist er auch mit zwei weiteren Werken. "Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Thieren" lässt sich als Vorläufer der evolutionären Psychologie lesen. Sein Buch "Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl" entfaltet erstmals die Idee, dass Vorlieben der Geschlechtspartner eine mächtige Kraft der Selektion darstellen. Darwin erklärte damit etwa das Rad des Pfaus. Heute ist die sexuelle Selektion ein zentrales Forschungsgebiet der Biologie.

    Die Macht der Weibchen.

    An der Universität Potsdam hat Dr. Martin Plath ein Weibchen des Mexikanischen Zahnkärpflings vor die Qual der Wahl gestellt. Links ist ein Männchen, rechts ist ein Männchen. Je nachdem, wohin sich der kleine Fisch, ein Verwandter des bekannten Guppys, wendet, drückt der Evolutionsbiologen den entsprechenden Knopf.

    "Sie können jetzt hier zum Beispiel messen, dass sich das Weibchen zu dem Männchen auf der rechten Seite orientiert und es jetzt wieder tut und jetzt wieder eine Interaktion mit dem rechten Männchen, jetzt schwimmt es ein bisschen zur Seite, geht jetzt einmal auf die linke Seite, da haben wir auch eine Interaktion, ein anderer Knopf. Jetzt braucht es eine Zeit, jetzt macht es erst einmal gar nichts."

    "Worauf steht das Zahnkärpfling-Weibchen, was findet es attraktiv an den Männchen?"

    Plath:

    "Es findet in jedem Fall immer Körpergröße gut. Es findet Männchen gut, die aktiv schwimmen, die damit Körperstärke beweisen. Es findet Männchen gut, mit einem starken Orangeanteil. Und die Frage war, wie können wir zeigen, dass diese Weibchenwahl, die, wie gesagt, experimentell gezeigt wurde, in natura tatsächlich einen Effekt auf Evolutionsvorgänge haben. Was wir da glücklicherweise gefunden haben, sind zwei Höhlenpopulationen des Atlantikkärpflings und in einer dieser Höhlenpopulationen fanden wir eine Präferenz für männliche Größe, in der anderen fanden wir keine Präferenz. Und korreliert mit dem Verlust dieser Präferenz haben wir gefunden, dass die Männchen in dieser zweiten Höhle sehr viel kleiner sind als in der ersten Höhle, und dass die große Männchenklasse komplett verloren geht."

    "Das heißt also, hier hat wirklich die Wahl der Weibchen die Größe der Männchen beeinflusst, beziehungsweise der Wegfall der Wahl hat dann dazu geführt, dass die Männchen kleiner bleiben konnten und trotzdem ihren sexuellen Erfolg hatten. Schon Darwin hat im Bezug auf die sexuelle Selektion ja Vorhersagen gemacht auch bestimmte Männer und Frauenrollen, die Männer konkurrieren um die Frauen, das hat auch ganz gut zu dem gesellschaftlichen Rollenbild seiner Zeit gepasst. Ist das denn heute noch aktuell?"

    Plath:

    "Männer produzieren relativ billige Spermien, die sie rein theoretisch an sehr, sehr viele Frauen weitergeben können und damit ein Optimum an Nachkommen erzeugen können, während Frauen natürlicherweise limitiert sind. Daraus ergibt sich, dass Frauen sich tendenziell mehr und inniger um ihre Nachkommen kümmern werden. Nun will ich damit nicht Tor und Tür öffnen für die Tatsache, dass viele Männer sich nicht um ihren Nachwuchs kümmern, aber eine Tendenz ist dadurch durchaus zu erklären. Darauf setzen wir natürlich unser Kulturgebäude und dadurch ist unser Verhalten komplexer, als es einfach durch die biologische Basis zu erklären wäre."

    Die Evolution hat die Schlagzeilen erobert. "Menschliches Genom entschlüsselt." "Ursprung aller Augen in Wurm gefunden." "Steinzeitgene programmieren Börsenmakler." Die moderne Evolutionsforschung bietet all das und noch viel mehr. Sie beginnt auf molekularer Ebene zu erklären, was Darwin mit den Augen und mit dem Verstand erkannt hat. Die vielleicht wichtigste Einsicht: unter der Oberfläche gibt es keine biologischen Unterschiede zwischen den Völkern. Die Gene eines Engländers können denen eines Feuerländers mehr gleichen, als denen seiner Nachbarn im Cottage nebenan. Mathias Glaubrecht:

    "Ich bin ganz sicher, dass Darwin begeistert wäre davon, was wir heute auf seinen Spuren sozusagen untersuchen und herausfinden können."

    Es ist vor allem die DNA, die neue Einsichten ermöglicht. Springende Gene, Epigenetik, horizontaler Gentransfer, das sind Forschungsfelder, die das Werk von Charles Darwin Werk ergänzen, im Detail korrigieren. Seine zentrale These steht aber nach wie vor auf festem Grund.

    Es ist wahrhaftig eine großartige Ansicht, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat und dass, während unser Planet den strengsten Gesetzen der Schwerkraft folgend sich im Kreise geschwungen, aus so einfachem Anfang sich eine unendliche Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt.