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Evolutionsbiologie
Intelligente Eltern braucht das Kind

Evolutionsbiologen suchen schon lange nach den Gründen, warum sich der menschliche Geist so schnell entwickelt hat. Waren es die rasch wechselnden Umweltbedingungen, die einen klugen Kopf erforderten, die sozialen Beziehungen in der Horde? Einer neuen Theorie zufolge drehte sich das menschliche Denkvermögen zuallererst um die kleinen Kinder.

Von Volkart Wildermuth | 24.05.2016
    Baby
    Ist alleine völlig hilflos: ein sechs Wochen altes Baby. (picture alliance / dpa / Foto: Stephan Görlich)
    Viele Versuchspersonen im Kidd Lab, dem Kinder Labor von Celeste Kidd, tragen noch einen Schnuller im Mund. In ihren Experimenten mit Babys und Kleinkindern möchte die Psychologin und Hirnforscherin von der Universität im amerikanischen Rochester verstehen, wie sich der menschliche Geist nach und nach entfaltet. Ein Umstand hat sie dabei immer wieder verblüfft: Menschliche Babys sind geradezu unwahrscheinlich hilflos.
    "Vergleichen sie ein Baby mit sagen wir mal einer neugeborenen Giraffe. Innerhalb von Stunden ist die in der Lage, aufzustehen und vor Raubtieren wegzurennen. Menschliche Babys können nicht mal ihren Kopf hochhalten. Das ist wirklich ein Rätsel, dafür muss es einen guten Grund geben."
    Eigentlich ist die Erklärung einfach: Der weibliche Geburtskanal bietet nur beschränkt Platz. Menschen haben aber einen recht großen Kopf. Dieses Problem lässt sich mit einer vergleichsweise frühen Geburt lösen. Während andere Säugetiere im Mutterleib ausreifen, verlegen Menschen einen Teil des Wachstums hinter den Geburtstermin, so bekommen sie am Ende ein besonders großes Gehirn. Also Menschen sind intelligent, deshalb werden ihre Babys unreif geboren. Klingt logisch, aber Celeste Kidd vermutet, dass der Zusammenhang genau andersherum verläuft.
    "Wenn die Kinder unreif sind, dann sind sie auf intelligente Eltern angewiesen, die sie versorgen und beschützen. Das führt zu einem Selektionsdruck hin zu einem größeren Verstand: Also es braucht kluge Eltern, die dann Babys mit einem noch größeren Kopf bekommen die dann noch früher zur Welt kommen und immer so weiter."
    Zusammen mit einem Kollegen hat Celeste Kidd ein mathematisches Modell entworfen, das die Dynamik von Gehirngröße, Intelligenz und Geburtszeitpunkt beschreibt. Dabei zeigt sich, dass es mehrere stabile Entwicklungspfade in der Evolution gibt. Gruppen mit einer vergleichsweise späten Geburt werden sich nach und nach in Richtung eines kleinen Kopfes und einer eher niedrigen Intelligenz entwickeln. Aber wenn eine Art, warum auch immer, einmal einen sehr frühen Geburtstermin hat, dann beginnt tatsächlich ein sich selbst verstärkender Kreislauf aus immer hilfloseren Babys und immer intelligenteren Eltern, der am Ende zur Entwicklung superintelligenter Organismen geführt haben könnte.
    "Unser Modell zeigt: So könnte es theoretisch gewesen sein, aber es ist stark vereinfacht", gibt auch Celeste Kidd zu. Aber zumindest der Vergleich von 23 Affenarten passt zu den Vorhersagen. "Wir haben verschiedene Abschätzungen ihrer Intelligenz genommen und mit der Stillzeit der jeweiligen Art verglichen. Die zeigt in etwa, wie hilflos die Neugeborenen sind. Es stellt sich heraus, Affenarten mit langer Stillzeit sind auch intelligenter, da gibt es einen engen Zusammenhang."
    Natürlich ist es für die Versorgung des Nachwuchses auch von Vorteil, auf die Hilfe von anderen Mitgliedern in der Gruppe zählen zu können. Von daher, so Celeste Kidd, ergänzt sich ihre Theorie gut mit der Vorstellung, dass die menschliche Intelligenz entstanden ist, um in komplexeren Sozialverbänden zu Recht zu kommen.
    "Menschen haben eine besondere Form der Intelligenz, die sie von anderen Arten unterscheidet. Und das ist die Theorie des Geistes, ein intuitives Verständnis für die Interessen und den Standpunkt von anderen. Wenn die Evolution unserer Intelligenz tatsächlich auf die Versorgung von Kindern zurückgeht, dann würde man genau diese Form der Intelligenz erwarten."
    Celeste Kidd ist überzeugt: Der menschliche Verstand ist nicht entstanden, um die Relativitätstheorie zu erdenken, ein Smartphone zu erfinden oder um Gedichte zu ersinnen. Er dient zu allererst dazu, hilflose Babys bei einem sichern Start ins Leben zu unterstützen.