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Existenzielle Fragen mit Eifer diskutiert

Als Max Frisch "Antwort aus der Stille" schrieb, war er erst 26 Jahre alt. Er beschreibt eine Initiationsgeschichte: die Schilderung eines Reifungsprozesses durch eine existenzielle Erfahrung hindurch. Dabei geht es Frisch nicht um den Nervenkitzel einer heroischen Tat, sondern vielmehr um die Gründe dafür.

Von Martin Krumbholz | 30.11.2009
    Nicht das geringste der Rätsel, das diese Neuerscheinung aus dem Hause Suhrkamp aufgibt, ist die Frage, warum Max Frisch sein Buch "Antwort aus der Stille" aus seinen Gesammelten Werken verbannte, die 1971, anlässlich seines 60. Geburtstags, veranstaltet wurden. Zwar war der Autor 1937 erst 26 Jahre alt, aber Frischs Debüt "Jürg Reinhart" war schon drei Jahre zuvor herausgekommen, und dieses hatte vor den Augen des Meisters Bestand.

    Die Lektüre der "Erzählung aus den Bergen", wie das zweite Buch im Untertitel heißt, fördert jedenfalls, hat man sich erst einmal vom abschreckenden Klischee des Berg- und Heimatromans befreit, die Erkenntnis zutage: Wir haben es hier mit einem formal und inhaltlich höchst spannungsvollen Werk zu tun, das entscheidende Motive aus Frischs späterem, sozusagen "reifem" Werk vorwegnimmt.

    Es geht auch hier schon um existenzielle Fragen, die womöglich mit einem gewissen pathetischen Eifer diskutiert werden, der im ausgefuchsten Raffinement der Nachkriegswerke überwunden oder besser aufgehoben ist. Das ist aber kein gewichtiger Einwand. Und wenn hier von Spannung die Rede war, dann ist damit nicht die äußerliche Action-Spannung gemeint, die ein Schweizer Erstbesteigungsthriller evozieren könnte – obwohl Frisch dieses Motiv benutzt, wenn er seinen 30-jährigen Helden (das Wort wird hier beinahe in seine ursprünglichen Rechte eingesetzt), wenn er also seinen Helden einen sogenannten "Nordgrat" in den Schweizer Alpen erfolgreich erstbesteigen lässt.

    Nein – natürlich geht es Max Frisch nicht um den Nervenkitzel einer heroischen Tat, sondern vielmehr um die Gründe dafür. Sein Held mit dem sprechenden Namen Balz klettert aus zwei Gründen auf den Berg: Erstens um einer Frau zu imponieren, zweitens um einer herausragenden Tat willen, mit der er sich selbst beweisen will, dass er kein gewöhnlicher Mensch ist; ein gewöhnlicher Mensch ist jemand, der sich mit der Glanzlosigkeit eines Durchschnittslebens abfindet, der also, nun wieder pathetisch gewendet, eigentlich gar nicht lebt.

    Dennoch bleibt die Frage: wozu? Die Frage nach dem Zweck ist wohlgemerkt eine andere als die nach dem Sinn. Die Sinnfrage ist komplex, die Zweckfrage ist nichts als schnöde. Die Frage "wozu?", heißt es in einer schönen Wendung, sei "schon die unhöflichste Frage, die man an das Leben richten kann." Wozu spielt einer Schach, der nächste an der Börse, während der dritte vielleicht Literaturkritiken verfasst? Nun ja, "irgendwas muss der Mensch doch tun." Jemand wie Balz, der von seinen Mitmenschen als Sonderling betrachtet wird, riskiert sein Leben für eine außergewöhnliche Tat, mit der er, wie seine Geliebte Irene etwas spöttisch bemerkt, "in die Zeitung kommt", die ihm andererseits eine Form der Selbstachtung ermöglicht, mit der er überhaupt erst zu leben imstande ist.

    An anderer Stelle heißt es sehr bezeichnend: "Wer keine Sehnsucht mehr hat, was bleibt ihm anderes übrig als der Ehrgeiz?" In dieser Formel wird dem Ehrgeiz eine kompensatorische Funktion zugeschrieben, aber der Fortgang der Erzählung macht deutlich, dass es sich um eine falsche Alternative handelt. Indem Balz sich in Irene verliebt, wird seine Sehnsucht wieder zum Leben erweckt – und sein Ehrgeiz vielleicht auf ein vernünftiges Maß beschnitten. "Antwort aus der Stille" ist, nüchtern und schubladenmäßig betrachtet, eine Initiationsgeschichte, die Schilderung eines Reifungsprozesses durch eine existenzielle Erfahrung hindurch.

    Doch die Spannungen, von denen eingangs die Rede war, werden keineswegs in Wohlgefallen aufgelöst, sondern bleiben über das Ende der Erzählung hinaus bestehen: Das erst macht ihr Format aus. Einerseits nämlich wird der Hochmut des Protagonisten vom Autor vernünftig relativiert und diskreditiert. Andererseits aber haben die Zweifel einem verspießerten, letztlich ungelebten Leben gegenüber durchaus ihre Gründe und lassen sich nicht so einfach besänftigen, wenn sie sich auch im unreifen Bewusstsein des Protagonisten in einer überspannten, sozusagen spätpubertären Form niederschlagen. Das ist das Thema, das den Schriftsteller Max Frisch ein Leben lang umtreiben wird, und es ist hier, in dieser frühen Erzählung, in beeindruckender Weise vorweggenommen.

    Max Frisch: Antwort aus der Stille. Eine Erzählung aus den Bergen, mit einem Nachwort von Peter von Matt.
    Suhrkamp Verlag, 172 S., 18,80 Euro.