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Exoten des deutschen Geisteslebens

Die Lebensläufe des Dichters Paul Celan und des Literaturwissenschaftlers Peter Szondi sind aufs mannigfaltigste miteinander verwoben: Beide sind jüdischer Herkunft, beide sind nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie in den Vielvölkerstaaten Mittel- und Osteuropas geboren.

Von Klaus Englert | 12.12.2005
    Peter Szondi, ein Neffe Anna Seghers, wuchs in Budapest auf, wurde als Jugendlicher 1944 mit seiner Familie nach Bergen-Belsen verschleppt und von dort in die Schweiz freigekauft. Paul Celan musste 1942 im rumänischen Czernowitz miterleben, wie die Eltern in die Straflager von Transnistrien deportiert wurden. Er hat sie nie wiedergesehen.

    Kurze Zeit später wurde Celan zur Zwangsarbeit eingezogen. Nach Kriegsende gelangte er über Stationen in Bukarest und Wien schließlich nach Paris. Dort kreuzten sich 1959 die Wege von Szondi und Celan. Der Deutsch-Ungar erhielt nämlich, nach seiner Promotion in Zürich bei Emil Steiger, ein Lektorat an der renommierten Ecole Normale Supérieure. Doch der strebsame Szondi bekam schon bald ein Extraordinariat an der Freien Universität Berlin. Die freigewordene Stelle in Paris trat im Oktober 1959 Paul Celan an.

    Christoph König, der den Briefwechsel von Celan und Szondi edierte, erzählt von einem denkwürdigen Treffen, bei dem ein Gedicht des jüdischen, in der sibirischen Verbannung gestorbenen Dichters Ossip Mandelstam im Mittelpunkt stand:

    "Peter Szondi hatte Paul Celan im April 1959 zum ersten Mal in Paris besucht. Zehn Tage später kam er zusammen mit seinem Freund, dem Gräzisten und Philosophen Jean Bollack, wieder zu Celan. Und hier ereignet sich etwas, was bis heute, denke ich, eine Bedeutung hat: Celan las den beiden Philologen das Gedicht "Schlaflosigkeit. Homer" vor – eine Übersetzung Celans von Mandelstam. Es ist ein Gedicht über die Aneignung von Traditionen, über das Verstehen vergangener schriftlicher Äußerungen und über den Anteil des Jüdischen an diesen Traditionen. Es ging Celan um die Frage: 'Wie kann ich mit diesem Dichter solidarisch sein?' "

    Der Briefwechsel zwischen Szondi und Celan dauerte fast elf Jahre, bis zu Celans Freitod im Jahre 1970. Er war geprägt von vorsichtigen Annäherungen, neuen Publikationen und Plagiatsvorwürfen. Eine spannende Lektüre sollte niemand erwarten. Kein Panorama des intellektuellen Nachkriegs-Deutschland. Auch keine umstürzenden Erkenntnisse für die Literaturwissenschaft. Trotz allem lohnt die Auseinandersetzung mit den beiden Exoten des deutschen Geisteslebens, ebenso mit den hinzugefügten Dokumenten und Kommentaren von Christoph König.

    Dem Leser wird schnell klar, dass die Briefschreiber den persönlichen Austausch scheuen. Als Peter Szondi im Dezember 1960 schrieb: "Wir wollen Freunde sein in dieser so wenig freundlichen Welt", muss dies für ihn das Äußerste der Gefühle bedeutet haben. Der spätere Insel-Verlag-Lektor Klaus Reichert, der seinerzeit Szondis Berliner Seminare besuchte, bestätigte diesen Eindruck: Er empfand ihn als "schweigsamen, in sich gekehrten Lehrbeauftragten, der eine Aura wie einen ehrfurchtgebietenden Schutzraum um sich hatte, die seine Übersensibilität ahnen ließ". Ähnliche Eigenschaften zeichneten auch Paul Celan aus. Wenn sich der Lektor Reichert in Frankfurt mit dem Dichter treffen wollte, fragte er zunächst vorsichtig bei Szondi nach: "Verträgt er Menschen? Darf meine Frau wieder nichts Farbiges tragen?"

    Peter Szondi und Paul Celan hatten schnell ihre Gemeinsamkeiten erkannt – das Judentum, die Herkunft aus dem osteuropäischen Sprachraum, die Liebe zur Dichtung. Szondi stammte aus einem assimilierten jüdischen Elternhaus, die Mutter von Celan vertrat ein mystisch chassidisches, der Vater ein orthodox zionistisches Judentum. In ihren Briefen bekennen sich die Freunde zwar zum Judentum, doch Christoph König sieht darin eher eine Identifikation mit kulturellen Werten:

    "Für Celan ist das Judentum, wie er selbst sagt, eine bestimmte Gestalt des Menschseins. Es ist kein religiöses Verhältnis zu einem Judentum, es ist auch kein unmittelbar politisches Verhältnis zum Judentum, sondern das Judentum ist für Celan eine bestimmte Art nachzudenken, eine bestimmte Form der Rationalität, und diese geformte Rationalität ist mehr als andere Denkmöglichkeiten in der Lage, die Katastrophe der deutschen Juden zu integrieren. Das bedeutet, dass das Judentum eine normativ-ethische Position darstellt, die auf eine Kritik der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte zielt und ihr Mittel vor allem im zugeschliffenen Gedanken hat. "

    Paul Celan wollte – wie Jean Bollack einmal sagte -, "das Band zum Judentum neu knüpfen". Darin war sich der Dichter mit Franz Kafka, einem anderen jüdischen Schriftsteller des östlichen deutschen Sprachraums, einig. An Szondi schrieb er Kafkas Ausspruch: "Die Tatsache, dass es nur eine geistige Welt gibt, nimmt uns die Hoffnung und gibt uns die Gewissheit". Dieser "geistigen Welt" fühlten sich die beiden Freunde zugehörig. Celan und Szondi empfanden sie als Ort der kulturellen Katastrophe, den es immer wieder mit aller gedanklichen Schärfe zu erfassen gelte. Seine dichterische Tätigkeit verstand Celan als Schreiben im Angesicht der Vernichtungslager. Deswegen meinte Bollack, "jeder Hauch seiner Dichtung bleibt durchdrungen vom Rauch der Gasöfen".

    Für Christoph König ist dies aber nur die eine Seite von Celans Dichtung:

    "Celan versucht in seinen Gedichten das Wort- und Zitatmaterial der deutschen Dichtung zu zerstören, um daraus eine neue dichterische Sprache zu gewinnen. In der Überzeugung, dass gerade ein Mißbrauch dieser Dichtung, den diese Dichtung oft erst möglich gemacht hat, zur Vernichtung der Juden mit beigetragen hat. Sein Medium war die Sprache, und diese Sprache wollte er neu gewinnen, eine deutsche Muttersprache, die resemantisiert und neu gemacht wird in den Gedichten von Celan. Die große Fremdheit der Gedichte hat zu den großen Verständnisschwierigkeiten in den fünfziger und sechziger Jahren geführt (...) und Szondi war einer der ersten, der versucht hat, diese Gedichte so zu verstehen, wie sie gemeint und geschrieben waren. "

    Peter Szondi setzte sich in den sechziger Jahren wie kein anderer für den befreundeten Dichter ein. Dies zeigt sich an der heute fast vergessenen Ivan Goll-Affäre, die mehr als die Hälfte des Briefwechsels einnimmt. Golls Witwe Claire verbreitete bereits 1956 das Gerücht, Paul Celan sei ein Plagiator am Werk ihres Mannes. Für Celan bedeutete der jahrelange juristische Streit eine kaum vorstellbare psychische Belastung. Peter Szondi war der einzige Wissenschaftler, der Celan verstand und bedingungslos unterstützte. Als er Anfang 1961 Joachim Kaiser von der "Süddeutschen Zeitung" schrieb, es gehe darum, "einen Menschen zu retten", sprach er an, was im Grunde niemand hören wollte – die Taktlosigkeit der Gefühle gegenüber einem Verfolgten.

    Der Dichter und sein Interpret kamen sich über die Goll-Affäre näher. Die jüdische Herkunft spielte dabei eine besondere Rolle. Christoph König ist davon überzeugt, dass Celan seinen Freund von seinem Judentum überzeugen wollte:

    "Ich denke etwa an die Widmung des Prosatexts 'Gespräch im Gebirg'. Die Widmung lautet für Peter Szondi: 'krummnasig und herzlich, herzlich und krummnasig', und bedeutet eigentlich, dass man mit einer jüdischen Entscheidung, mit der Krummasigkeit beginnen muss, um herzlich sein zu können. Und herzlich ist dann, in der Celanschen Sprache, auch ein Wort für Erinnerung an die schreckliche jüdische Vergangenheit. Das Herz ist der Ort der Erinnerung, diesen Ort erreicht man nur über die Entscheidung für eine gemeinsame Krummnasigkeit. "

    Der Briefwechsel gibt kaum Hinweise auf einen Dissens zwischen den beiden Freunden. Nur einmal, Mitte der sechziger Jahre, kam eine tiefgreifende, aber nur dezent angesprochene Mißstimmung auf. Der Grund war die höchst unterschiedliche Beziehung beider zu einem anderen jüdischen Intellektuellen - Theodor W. Adorno. Szondi muss in dem Sozialphilosophen so etwas wie seinen geistigen Vater gesehen haben.

    Adorno förderte ihn nach allen Möglichkeiten, andererseits lud Szondi den Frankfurter Neomarxisten zu einem Vortrag an die Freie Universität Berlin ein, wo er seinen Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft zu einem einzigartigen Resonanzboden für die Kritische Theorie entwickelte. Paul Celan war dieses Verhältnis nicht geheuer.

    Er konnte Adorno nicht verzeihen, dass er den Ausspruch prägte, nach Auschwitz seien keine Gedichte mehr möglich. Szondi versuchte zu vermitteln. Seine Antwort: Gedichte sind nach Auschwitz nicht mehr möglich, es sei denn auf der Grundlage von Auschwitz. Es half alles nichts. Celan sah durch derartige Äußerungen sein eigenes Schaffen erschüttert. Sein Befinden verschlimmerte sich durch lange Depressionsschübe, mit denen auch Szondi zu kämpfen hatte.

    Wenige Wochen nach dem letzten Briefwechsel fand man am 1. Mai 1970 Paul Celans Leiche in der Seine. "Es ist gut. Jetzt hat er die Ruhe. Endlich", soll Peter Szondi gesagt haben. Seine eigene Ruhe soll er nur anderthalb Jahre später gefunden haben. Auch er ertränkte sich. Im Berliner Halensee.

    Paul Celan/Peter Szondi: Briefwechsel. Mit Briefen von Gisèle Celan-Lestrange an Peter Szondi und Auszügen aus dem Briefwechsel zwischen Peter Szondi und Jean und Mayotte Bollack, hg. von Christoph König, Suhrkamp, Ffm. 2005, 264S., 19,80Euro.