Dort wo ich nicht mehr "ich" sagen kann, wo nicht ich denke, sondern es in mir, beginnt für den Normalmenschen das "innere Ausland". Expeditionen in diesen unbekannten Bereich sind normalerweise mit Ängsten verbunden. Hans Jürgen Heinrichs ängstigt sich allerdings mehr vor der tumben Normalität einer bürgerlichen Gesellschaft, die ihre Bewohner mit unzähligen "Anpassungs- und Unterwerfungsritualen" einem "bürokratischen Selbstverstümmelungsprozess" ausliefern würde.
Diese Kritik ist weder originell, noch neu: Schon Wilhelm Reich hatte ihr mit seinem Schlagwort vom Charakterpanzer einen illustren Ausdruck verliehen. Auch Heinrichs will innere Panzer beseitigen. Selbst im 21. Jahrhundert würden unsere Vorstellungen von Normalität immer noch in der Art einer inneren "Militärjunta" exekutiert. Obwohl die viktorianische Moral natürlich längst überwunden ist, lasten nach wie vor die Relikte einer von zwanghaften Charakteren bestimmten Normalgesellschaft auf uns. Dabei käme es doch darauf an, innere Widerstände zu verflüssigen und in unserem je eigenen ungerichteten Begehren das Potential jedweder Kreativität zu erkennen. Die von Roland Barthes propagierte Seefahrerromantik der Entzifferung von im Grunde nicht entzifferbaren Texten in einem unendlichen Bedeutungsgeflecht von Verweisungen sollte wieder aufgenommen werden. Wer sich selbst verstehen möchte, dürfe das Unbekannte im Jenseits der eigenen Vernunft nicht fürchten. Darum fordert uns der Autor schon mit seinem Titel auf, "ins innere Ausland" der eigenen Seele eine oder auch mehrere "Expeditionen" zu wagen und führt uns vier verschiedene mögliche Verlaufsformen solcher Expeditionen vor.
Wer Expeditionen unternimmt, bedient sich in der Regel eines Führers, eines Guides. Heinrichs hat in seinem Buch gleich vier Guides engagiert, mit deren Hilfe er in den Dschungel des Unbewussten eindringen will: Dabei markiert jeder der hier angeführten Gurus eine besondere Perspektive auf das Unbewusste: Sigmund Freud steht für einen psychoanalytischen Zugang, der Psychoanalytiker und Maler Fritz Morgenthaler für einen verführerisch-schamanistischen, Claude Lévi-Strauss für den ethnologischen und Karl Kerényi für den mythologischen Einbruch ins phantastische Reich des Unbewussten.
Es ist selbstverständlich, dass sich alle diese verschiedenen Zugänge zum Irrgarten der Seele durchkreuzen. Denn alle genannten Ansätze behandeln die je eigene und auch fremde Seele als ein unbekanntes Land, als ein Ausland, dessen Fremdheit wir nicht dadurch überwinden können, indem wir die sich zum Beispiel in Träumen offenbarenden Muster dieser Seelenlandschaft nach den allzu engen Maßstäben der bürgerlichen Norm deuten. Das Realitätsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft ist nämlich an oft unreflektierten moralischen Prinzipien orientiert. Wenn Heinrichs vom Realen spricht, meint er nicht das von Freud befürwortete Realitätsprinzip, sondern das Reale Lacans, das eher einem sich entziehenden Abgrund gleicht und niemals dingfest zu machen ist. Das wahre Reale ist in diesem Sinne das niemals greifbare innere Ausland, das sich gegen die bürgerliche Moral sperrt.
Um in seine Nähe zu kommen formuliert der Autor das erste Gebot der psychoanalytischen Verfahrensweise. Dieses lautet: "Das Sein steht über dem Sollen." Die einfühlende Wahrnehmung steht über dem moralischen Urteil. Alles ist möglich, das heißt auch: Alles ist erlaubt. Wenn Heinrichs dieses Gebot auf die psychoanalytische Kur beschränken würde, ließen sich einige ethische Unstimmigkeiten vermeiden.
An seine Grenzen stößt dieses Gebot nämlich im Gebiet der Perversion. Hier schwimmt der Autor in einem universalisierten Toleranzprinzip, das in jeder noch so irritierenden und schockierenden Perversion nur ein an sich harmloses "Mittel zur Erhaltung ungerichteter Triebhaftigkeit" zu erkennen glaubt. Innerhalb der Therapie selbst mag eine solche Diagnose ihren Zweck erfüllen, der unter anderem darin besteht, sich auch all denjenigen Gespenstern im inneren Ausland auszusetzen, die dem alltäglichen Normbewusstsein als unheimlich erscheinen. Sobald es aber um eine Integration der tiefenpsychologischen Erfahrung in den Alltag geht, weiß Heinrichs nicht mehr weiter. Immer geht es ihm nur um "unerklärliche Reste", um Freilegung von "Fährten" in das "Sich verhüllende", Verschobene, Verzerrte, Verdrängte" - oder kurz um das mystifizierte ganz Andere.
Wie ein Gnostiker scheint Heinrichs die von Freud geforderte empirische Realitätsprüfung umgehen zu wollen, um sich in ozeanischen Gefühlen aufzulösen. Innerhalb einer immer entrückten Traumwelt ist selbst der Sadismus nur eine entzückende Spielart unter vielen anderen. In der empirischen Realität zielt er dagegen auf faktische Vernichtung eines Opfers. Hier ist er die in sich sehr beschränkte, sich selbst und Andere beschränkende und vernichtende Zu-Richtung eines Opfers, eine Perversion, in der sich das "radikal Andere der Vernunft" beispielsweise als Rassenhass ausleben würde, wenn es nicht von einer Realitätsprüfung korrigiert wird.
"Wer sich im Reiche der Phantome verliert, geht darin verloren", hieß es in Bram Stokers Dracularoman. Die Verklärung des Anderen der Vernunft, zu der auch Heinrichs neigt, ist ein solches Phantom. Aber in den von den Ethnopsychologen idealisierten Natur-Gesellschaften gab es immer auch Tabus: Das Heilige war nicht nur - wie Bataille suggerierte - Ausdruck des Durchbrechens von Schranken, sondern baute oft selbst neue Schranken auf. Das Heilige war nicht nur das Unendliche, sondern auch das endlich begrenzende, eben dasjenige, was die Romantiker des inneren Auslands nicht mögen: ein Über-Ich.
So konstatiert Hans-Jürgen Heinrichs hilflos, dass solcherlei Arten von Perversionen wie sie zum Beispiel Jean Genet mit seiner Begeisterung für Hitler gezeigt habe, "uns in eine schwierige Konfrontation bringen" würden, "da sie nicht unserem Selbstbild entsprechen" würden. Wenn das im inneren Ausland erlebbare ozeanische Sein höher gewertet werden soll als das ethische Sollen, gibt es keine Brücke mehr zur empirischen Realität: Wir wären genötigt, auch den Massenmord zu rechtfertigen, nur weil er ist.
Eine solche ethische Indifferenz will Heinrichs nicht zulassen, darum flüchtet er zu Emmanuel Lévinas, der eine Ethik gegen den Terror formuliert hatte. Wenn ich dem Anderen Vorrang vor mir selber gebe, verbietet sich ein jeder Sadismus von selbst. Dieser Sprung des Autors von der psychoanalytischen Selbsterfahrung in eine Ethik des Anderen bleibt undeutlich. Auch wenn Heinrichs zweiter Guru - Fritz Morgenthaler - darauf insistiert, dass sich der Analytiker selbst offenbaren sollte, damit die psychoanalytische Begegnung ihren einseitig gerichteten Charakter aufsprengt, kreist doch auch die beidseitige Bespiegelung noch immer in einem narzisstischen Milieu. Eben weil Lévinas jeden Narzissmus - auch den psychoanalytischen - sprengt, kann man mit ihm die Psychoanalyse nicht von ihrem ethischen Dilemma befreien.
Expeditionen ins innere Ausland. Freud. Morgenthaler. Lévi-Strauss. Kérenyi.
Das Unbewusste im modernen Denken
Von Hans-Jürgen Heinrichs
Psychosozial-Verlag
Diese Kritik ist weder originell, noch neu: Schon Wilhelm Reich hatte ihr mit seinem Schlagwort vom Charakterpanzer einen illustren Ausdruck verliehen. Auch Heinrichs will innere Panzer beseitigen. Selbst im 21. Jahrhundert würden unsere Vorstellungen von Normalität immer noch in der Art einer inneren "Militärjunta" exekutiert. Obwohl die viktorianische Moral natürlich längst überwunden ist, lasten nach wie vor die Relikte einer von zwanghaften Charakteren bestimmten Normalgesellschaft auf uns. Dabei käme es doch darauf an, innere Widerstände zu verflüssigen und in unserem je eigenen ungerichteten Begehren das Potential jedweder Kreativität zu erkennen. Die von Roland Barthes propagierte Seefahrerromantik der Entzifferung von im Grunde nicht entzifferbaren Texten in einem unendlichen Bedeutungsgeflecht von Verweisungen sollte wieder aufgenommen werden. Wer sich selbst verstehen möchte, dürfe das Unbekannte im Jenseits der eigenen Vernunft nicht fürchten. Darum fordert uns der Autor schon mit seinem Titel auf, "ins innere Ausland" der eigenen Seele eine oder auch mehrere "Expeditionen" zu wagen und führt uns vier verschiedene mögliche Verlaufsformen solcher Expeditionen vor.
Wer Expeditionen unternimmt, bedient sich in der Regel eines Führers, eines Guides. Heinrichs hat in seinem Buch gleich vier Guides engagiert, mit deren Hilfe er in den Dschungel des Unbewussten eindringen will: Dabei markiert jeder der hier angeführten Gurus eine besondere Perspektive auf das Unbewusste: Sigmund Freud steht für einen psychoanalytischen Zugang, der Psychoanalytiker und Maler Fritz Morgenthaler für einen verführerisch-schamanistischen, Claude Lévi-Strauss für den ethnologischen und Karl Kerényi für den mythologischen Einbruch ins phantastische Reich des Unbewussten.
Es ist selbstverständlich, dass sich alle diese verschiedenen Zugänge zum Irrgarten der Seele durchkreuzen. Denn alle genannten Ansätze behandeln die je eigene und auch fremde Seele als ein unbekanntes Land, als ein Ausland, dessen Fremdheit wir nicht dadurch überwinden können, indem wir die sich zum Beispiel in Träumen offenbarenden Muster dieser Seelenlandschaft nach den allzu engen Maßstäben der bürgerlichen Norm deuten. Das Realitätsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft ist nämlich an oft unreflektierten moralischen Prinzipien orientiert. Wenn Heinrichs vom Realen spricht, meint er nicht das von Freud befürwortete Realitätsprinzip, sondern das Reale Lacans, das eher einem sich entziehenden Abgrund gleicht und niemals dingfest zu machen ist. Das wahre Reale ist in diesem Sinne das niemals greifbare innere Ausland, das sich gegen die bürgerliche Moral sperrt.
Um in seine Nähe zu kommen formuliert der Autor das erste Gebot der psychoanalytischen Verfahrensweise. Dieses lautet: "Das Sein steht über dem Sollen." Die einfühlende Wahrnehmung steht über dem moralischen Urteil. Alles ist möglich, das heißt auch: Alles ist erlaubt. Wenn Heinrichs dieses Gebot auf die psychoanalytische Kur beschränken würde, ließen sich einige ethische Unstimmigkeiten vermeiden.
An seine Grenzen stößt dieses Gebot nämlich im Gebiet der Perversion. Hier schwimmt der Autor in einem universalisierten Toleranzprinzip, das in jeder noch so irritierenden und schockierenden Perversion nur ein an sich harmloses "Mittel zur Erhaltung ungerichteter Triebhaftigkeit" zu erkennen glaubt. Innerhalb der Therapie selbst mag eine solche Diagnose ihren Zweck erfüllen, der unter anderem darin besteht, sich auch all denjenigen Gespenstern im inneren Ausland auszusetzen, die dem alltäglichen Normbewusstsein als unheimlich erscheinen. Sobald es aber um eine Integration der tiefenpsychologischen Erfahrung in den Alltag geht, weiß Heinrichs nicht mehr weiter. Immer geht es ihm nur um "unerklärliche Reste", um Freilegung von "Fährten" in das "Sich verhüllende", Verschobene, Verzerrte, Verdrängte" - oder kurz um das mystifizierte ganz Andere.
Wie ein Gnostiker scheint Heinrichs die von Freud geforderte empirische Realitätsprüfung umgehen zu wollen, um sich in ozeanischen Gefühlen aufzulösen. Innerhalb einer immer entrückten Traumwelt ist selbst der Sadismus nur eine entzückende Spielart unter vielen anderen. In der empirischen Realität zielt er dagegen auf faktische Vernichtung eines Opfers. Hier ist er die in sich sehr beschränkte, sich selbst und Andere beschränkende und vernichtende Zu-Richtung eines Opfers, eine Perversion, in der sich das "radikal Andere der Vernunft" beispielsweise als Rassenhass ausleben würde, wenn es nicht von einer Realitätsprüfung korrigiert wird.
"Wer sich im Reiche der Phantome verliert, geht darin verloren", hieß es in Bram Stokers Dracularoman. Die Verklärung des Anderen der Vernunft, zu der auch Heinrichs neigt, ist ein solches Phantom. Aber in den von den Ethnopsychologen idealisierten Natur-Gesellschaften gab es immer auch Tabus: Das Heilige war nicht nur - wie Bataille suggerierte - Ausdruck des Durchbrechens von Schranken, sondern baute oft selbst neue Schranken auf. Das Heilige war nicht nur das Unendliche, sondern auch das endlich begrenzende, eben dasjenige, was die Romantiker des inneren Auslands nicht mögen: ein Über-Ich.
So konstatiert Hans-Jürgen Heinrichs hilflos, dass solcherlei Arten von Perversionen wie sie zum Beispiel Jean Genet mit seiner Begeisterung für Hitler gezeigt habe, "uns in eine schwierige Konfrontation bringen" würden, "da sie nicht unserem Selbstbild entsprechen" würden. Wenn das im inneren Ausland erlebbare ozeanische Sein höher gewertet werden soll als das ethische Sollen, gibt es keine Brücke mehr zur empirischen Realität: Wir wären genötigt, auch den Massenmord zu rechtfertigen, nur weil er ist.
Eine solche ethische Indifferenz will Heinrichs nicht zulassen, darum flüchtet er zu Emmanuel Lévinas, der eine Ethik gegen den Terror formuliert hatte. Wenn ich dem Anderen Vorrang vor mir selber gebe, verbietet sich ein jeder Sadismus von selbst. Dieser Sprung des Autors von der psychoanalytischen Selbsterfahrung in eine Ethik des Anderen bleibt undeutlich. Auch wenn Heinrichs zweiter Guru - Fritz Morgenthaler - darauf insistiert, dass sich der Analytiker selbst offenbaren sollte, damit die psychoanalytische Begegnung ihren einseitig gerichteten Charakter aufsprengt, kreist doch auch die beidseitige Bespiegelung noch immer in einem narzisstischen Milieu. Eben weil Lévinas jeden Narzissmus - auch den psychoanalytischen - sprengt, kann man mit ihm die Psychoanalyse nicht von ihrem ethischen Dilemma befreien.
Expeditionen ins innere Ausland. Freud. Morgenthaler. Lévi-Strauss. Kérenyi.
Das Unbewusste im modernen Denken
Von Hans-Jürgen Heinrichs
Psychosozial-Verlag