Archiv


Experiment mit Goethe

Frankfurt hat die Goethe-Festwoche ins Leben gerufen. Jeweils ein Werk soll alljährlich wechselnd im Mittelpunkt stehen. Zum Auftakt von "goethe ffm" sind "Die Wahlverwandtschaften" dran.

Von Ruth Fühner |
    Er behauptet sich erstaunlich gut gegen den nüchternen Hintergrund: Seit gestern, seinem 258. Geburtstag, steht Goethe wieder überlebensgroß auf seinem angestammten Platz in der Mitte Frankfurts. Eher jahrmarktmäßig als feierlich wurde die restaurierte Bronzefigur enthüllt - die fleischgewordene Erhabenheit vor himmelstürmenden Bankentürmen.

    Gleich vom Sockel holte ihn beim anschließenden Symposium die Schauspielintendantin Elisabeth Schweeger: Weniger als Titan, eher als Dichter und Denker der Liebe wollte sie ihn über der Festwoche "goethe ffm" thronen sehen. Und über die Liebe zu sprechen, sollte man sich auch in einer kühl kalkulierenden Stadt wie dieser nicht genieren müssen.

    "Wie lieben" lautete der Titel der hilflosen Veranstaltung, bei der die Krimiautorin Thea Dorn durch ihre haarsträubende Goethe-Kritik auffiel - die Frauen seines Romans "Die Wahlverwandtschaften" seien blutleer, könnten nicht ich sagen und überhaupt sei heute alles ganz anders zwischen den Geschlechtern. Eine Behauptung, die Martin Nimz mit seiner Inszenierung des Romans in fünf Sekunden mühelos widerlegte. Seine Figuren wirken, als wären sie einem Film von Eric Rohmer entsprungen - gutaussehend, weitgehend ohne Sorgen und eigentlich ziemlich alltäglich, nur dass sie eben, eingebettet in eine Erzählerstimme aus dem Off, Goethe sprechen. Aber das tun die vorzüglichen Frankfurter Schauspieler, dank Mikroport, so intim und beiläufig, als fielen ihnen seine schwierigen Satzperioden gerade erst ein. Und auch die Rollenverteilung kommt einem sofort bekannt vor: Sie, die Beziehungsexpertin, abwägend, skeptisch – Er, der Draufgänger, der auf ihre Ahnungen, Befürchtungen reagiert, wie Männer das eben tun - fühlt sich irgendwie erpresst von ihrer weiblichen Intuition und verdrängt mögliche Probleme lieber. Und so laden sich die beiden, Charlotte und Eduard, jene beiden andern ein, mit denen zusammen sie das Parkparadies, das sie planen, in eine Hölle verwandeln werden: den von seinen eigenen Visionen beflügelten Hauptmann Otto und die pflanzengleiche Ottilie.

    Goethes künstliche Naturlandschaft ist in Frankfurt ein riesiger schwarzer Kasten, leer bis auf zwei Holzstege, die sich ständig gegeneinander verschieben, die Menschen mitunter verbinden, häufiger voneinander trennen. Ein symbolisch hoch aufgeladener Raum, der im zweiten Teil immer mehr einem Grab ähnelt, erfüllt nur noch von der Stimme des Erzählers, während die Personen stumm agieren, als hätten sie mit ihrem freien Willen auch die Sprache verloren und folgten nur noch der dunklen Macht der Triebe.

    Dafür findet Nimz immer wieder staunenswerte Bilder und Szenen. Komische wie die, in der Eduard der Geliebten Ottilie ein Feuerwerk ganz allein aus Stimme und Körper entfacht, grausig groteske, wenn Ottilie, nachdem ihr Eduards und Charlottes Kind ertrunken ist, sich über den Kinderwagen beugt und klatschnass daraus wieder auftaucht. Höchst unbehagliche, wenn Eduard und Charlotte angezogen übereinander herfallen, obwohl in diesem Augenblick beide an jemand anderen denken; Gewalt, Verzweiflung, Lust, auch alte Liebe steckt darin - ausgerechnet in dieser Szene, die Thea Dorn zuvor als Beleg für Goethes Verstaubtheit und Ferne herangezogen hatte.

    Fern bleiben die Figuren dieser Inszenierung, aber in einem ganz anderen Sinn. Die Regie verzichtet darauf, die Figuren gewaltsam in die Gegenwart zu zerren. Sie füllt nur die Laborsituation des Romans mit Fleisch und Blut, ernst und kühl konterkariert sie Goethes gemessene Worte durch die explosive Spannung von Körpern, die eine ganz andere, zerrissene Sprache sprechen. Und wir verstehen, wie widersprüchlich und wie nah uns das ist, dieses Experiment, in dem die aufgeklärte Vernunft von der Naturgewalt der Liebe ausgehebelt wird, in dem alle nur das Beste wollen und gerade dadurch Unheil stiften, in dem am Ende die Toten als Brautpaar grüssen und die Lebenden ihre Leichenblässe nicht mehr loswerden.