Besser noch wäre es, sich um eine neue musikalische Sicht zu bemühen, die möglichst auch noch Sinn macht und nicht nur als aufgesetzter Effekt daherkommt. Dann wäre man der Konkurrenz wirklich um die berühmte Nasenlänge voraus und hätte etwas, was heute neumodisch ein "Alleinstellungsmerkmal" heißt. Ob dies bei der jetzt bei hänssler classic erschienenen kleinen Reihe mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR der Fall ist, erfahren Sie in den nächsten 20 Minuten.
Aus: Sinfonie Nr. 1
aus dem 1.Satz: Wiederholung Exposition Allegro molto vivace
Aus Track von 3’36 bis 5’05
Dauer: 1’29
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Leitung: Roger Norrington
hänssler Classic / SWR Media GmbH (LC 13312) CD 93.160
Als die Verantwortlichen beim Radio-Sinfonieorchester Stuttgart sich 1998 für Roger Norrington als neuen Chefdirigenten entschieden, war ihnen bewusst, dass sie hier ein Experiment wagten: Sie brachten ein groß besetztes modernes Sinfonieorchester mit einem Dirigenten zusammen, der seit den 60er Jahren mit und in der historischen Aufführungspraxis groß und dann auch bekannt geworden war, der, ausgehend von der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, das bekannte Repertoire vom Staub der Geschichte befreite, nicht so sehr vom Staub des Herumliegens in Archiven, sondern von der Patina, die die Werke durch ständiges Wiederaufführen angesetzt hatten.
Denn über die Jahre und Jahrzehnte hatte sich ihr ursprüngliches Erscheinungsbild verändert, weil die Instrumente sich technisch und eben auch klanglich fortentwickelt hatten, weil die Aufführungssituationen bedingt durch gesellschaftliche Entwicklungen immer wieder anders waren, weil jede Zeit ihre eigenen Vorstellungen von Schönklang, Tempo und Proportionen hatte und diese dann auch allzu bereitwillig der Musik vergangener Epochen überstülpte.
Roger Norrington gehörte also zur Gruppe der Revolutionäre, die mit ihren auf Darmsaiten spielenden Streichern und ventillosen beziehungsweise klappenarmen Bläsern den Musikbetrieb mit dem Begriff der "historischen Aufführungspraxis" aufmischten und mit ihren eigenen Spezialistenensembles den gut eingeführten, manchmal etwas lahmenden Traditionsorchestern ordentlich Dampf machten, ihnen über längere Zeit dann sogar einen großen Teil des Repertoires regelrecht abnahmen.
Wenn so jemand dann Chef eines Rundfunk-Sinfonieorchesters wird, ist klar, dass er die gewonnenen Erfahrungen auch hier einbringt und dem Orchester bei der Interpretation des Alten Neues abverlangt.
Zunächst einmal passt Norrington die Orchestergrösse den Erwartungen an, die der jeweilige Komponist gehabt hat: Für Mozart zum Beispiel schickt er einen großen Teil der Musiker von der Bühne, spielt mit gerade einmal 45 Streichern und Bläsern, ähnlich ist die Besetzung, die das Leipziger Gewandhausorchester zur Aufführung von Mendelssohn gehabt haben dürfte.
Oft setzt er aber auch das erweiterte, doppelt so große Orchester der Niederrheinischen Musikfeste ein, manchmal, wie bei den vorliegenden Schumann-Einspielungen, sind beide Orchestergrößen zu hören. Das funktioniert dann so, dass zum Beispiel bei der ersten Sinfonie die Ecksätze in großer und die beiden Mittelsätze in kleiner Streicherbesetzung gespielt werden. In sanfteren Sätzen oder bei der Begleitung eines Solisten das Orchester leicht zu reduzieren, war bei diesen großen Festival-Orchestern der Schumann-Zeit durchaus übliche Praxis. Und damals wie heute eröffnet es die Möglichkeit einer delikaten Veränderung des Klangbildes – ein erstes Plus für die Neueinspielung der Schumann-Sinfonien durch das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart.
Aus: Sinfonie Nr. 4
3. Satz Scherzo (Ausschnitt)
Aus Track <7> von 3’08 bis 4’41
Dauer: 1’33
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Leitung: Roger Norrington
hänssler Classic / SWR Media GmbH (LC 13312) CD 93.161
Ein Ausschnitt aus dem 2. Satz von Schumanns 1. Sinfonie, gespielt in verkleinerter Besetzung. Auch bei der Orchesteraufstellung lässt sich Roger Norrington von historisch überlieferten Vorbildern inspirieren. Das bedeutet hier im Falle von Schumann Anwendung der ursprünglichen deutschen Orchesteraufstellung, bei der sich erste und zweite Violinen und auch Hörner und Trompeten gegenüber sitzen und die Kontrabässe hinten in einer Reihe angeordnet sind. Das ergibt im Konzertsaal wie auch in der klanglichen CD-Abbildung einen ganz bestimmten, die Musik oft verdeutlichenden Effekt. Durch Sitzordnung und strenge Beachtung einer ausgewogenen Balance zwischen Streichern und Holzbläsern gelingt es Norrington außerdem, das lange auch von großen Musikern wie Gustav Mahler gepflegte Vorurteil zu widerlegen, Schumanns Sinfonien seien teilweise schlecht instrumentiert. Ein weiterer Pluspunkt der vorliegenden Einspielung.
Aus: Sinfonie Nr. 2
aus 2. Satz Scherzo (Ausschnitt)
Aus Track <2> von 4’40 bis Ende (7’28)
Dauer: 2’48
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Leitung: Roger Norrington
hänssler Classic / SWR Media GmbH (LC 13312) CD 93.161
Ein Ausschnitt aus Schumanns 2. Sinfonie, entstanden hörbar zu einer Zeit, als der Komponist sich intensiv mit dem Werk Johann Sebastian Bachs auseinandersetzte.
Wenn Roger Norrington im Zusammenhang mit seiner Arbeit beim auf modernen Instrumenten spielenden Stuttgarter Radio-Sinfonieorchester von den Errungenschaften der Forschung spricht, benutzt er nicht den Begriff der "historischen Aufführungspraxis", sondern den der "historisch informierten Aufführungspraxis". Er ist sich also bewusst, dass auch seine Schumann-Interpretationen hier anders klingen dürften als zum Beispiel die meist von Mendelssohn dirigierten Uraufführungen.
Aber historisch informiert ist er auch über die damals üblichen Notenlängen, Tempi und Phrasierungsmuster – ein weites Feld, bei dem die Norrington-Interpretationen sich in weiteren Punkten deutlich von denen der Konkurrenz unterscheiden. Das verblüffendste und zugleich am heftigsten umstrittene Merkmal des Norrington-Stils ist jedoch der völlige Verzicht auf Vibrato. Hier spricht Norrington von der "Aneignung des Klangs früherer Zeiten", vom "reinen Ton, über den die alten Meister so viel sprachen, bevor das Vibrato des 20. Jahrhunderts aufkam.
Dieser schöne Ton", so Norrington weiter, "war...der Klang eines jeden Orchesters von Bach hin bis zu Mahlers Zeiten. Beethoven, Schumann, Mendelssohn, Brahms und Wagner hörten niemals ein Sinfonieorchester, das mit Vibrato spielte." Dieses "Alleinstellungsmerkmal" der Norrington-Interpretationen ist für unsere Ohren, die es anders gewöhnt sind, zunächst äußerst gewöhnungsbedürftig. Das dürfte übrigens noch viel mehr für die Musiker gelten, die ihre langen Noten bisher geradezu automatisch mit Vibrato-Spiel "verschönerten".
Sich das abzugewöhnen, war für manche sicher ein geradezu schmerzhafter Prozess. Auch in diesem Punkt unterscheiden sich also diese Schumann-Neuaufnahmen deutlich von denen der anderen Orchester und Dirigenten, ein Grund mehr, sie sich anzuhören und mit einer Spannung zu lauschen, als höre man diese eigentlich doch so vertraute Musik zum ersten Mal.
Aus: Sinfonie Nr. 3
5. Satz "Lebhaft"
Track <9>
Dauer: 6’32 (Ende Beifall)
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Leitung: Roger Norrington
hänssler Classic / SWR Media GmbH (LC 13312) CD 93.160
Die Neue Platte – heute mit einer Neuaufnahme der vier Schumann-Sinfonien durch das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart unter der Leitung seines Chefdirigenten Roger Norrington. Zuletzt hörten Sie den Schlusssatz der 3., der "Rheinischen" Sinfonie. Die beiden CDs sind jetzt bei Hänssler Classics erschienen und bieten die entsprechenden Live-Mitschnitte vom Europäischen Musikfest Stuttgart 2004 aus der dortigen Liederhalle.
CD 1:
Titel: Robert Schumann: Symphonies No. 1 & No. 3
Orchester: Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
Leitung: Roger Norrington
Label: hänssler classic / SWR Media GmbH
Labelcode: LC 13312
Bestellnr.: 93.160
CD 2:
Titel: Robert Schumann: Symphonies No. 2 & No. 4
Orchester: Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
Leitung: Roger Norrington
Label: hänssler classic / SWR Media GmbH
Labelcode: LC 13312
Bestellnr.: 93.161