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Experimentelles Theater aus dem größeren Europa

Es hört nicht auf zu klingeln in der dampfenden, roten Telefonzelle auf der Bühne. Doch wo vorher noch kryptische Botschaften über den Sinn der Arbeit aus dem Hörer kamen, geht nun niemand mehr ans Telefon. Was die alten Götter vielleicht noch sagen könnten, interessiert nicht mehr.

Von Dorothea Marcus |
    Fünf putzige Pandabären auf dürren Menschenbeinen sitzen zum Schluss nur noch apathisch vor dem Fernseher. Vorher haben sie sich in emsiger Geschäftigkeit Ziegelsteine gereicht, Bäume gepflanzt, schließlich Coladosen zerdrückt und Eier von Papp- in Plastikbehälter umgeschichtet. Ein Hamsterrad der Vergeblichkeit, das nun zwangsweise stillsteht: Im neuen Europa haben sich die proletarischen Arbeitsutopien vollends überholt. Wo es noch nicht einmal mehr Arbeit gibt, ist Sinnsuche jedem selbst überlassen - und findet sich am leichtesten in Shoppingtüte oder Fernseher, so kann man es zumindest aus dem mehrdeutigen Zeichensystem der polnische Theatergruppe "Akademia Ruchu" lesen. Seit über 30 Jahren gibt es die heute älteste freie Gruppe Polens. Doch während sie in der Zeit der Sowjetunion regelmäßig gefördert wurde, variiert die Subvention nun von Projekt zu Projekt und wird immer geringer. Im letzten Jahr waren es 30 000 Euro. Bei einem polnischen Durchschnittslohn von 500 Euro im Monat kann davon keiner leben: der Regisseur ist gleichzeitig der Direktor des Museums für zeitgenössische Kunst, die Schauspieler arbeiten nebenbei als Kuratoren, Multimediakünstler oder Journalisten.
    Regisseur Wojcech Krukowski:

    Polen war immer ein recht liberales Land. Dennoch: wenn wir früher auf der Straße spielten, konnten wir jederzeit von der Polizei aufgegriffen werden. Es gab viel mehr Druck. Aber gleichzeitig hatte Theater auch eine größere Notwendigkeit - wir waren eine Art Guerilla Theater. Nach 89 waren die Theater erst einmal leer. Heute ist die Situation weder besser oder schlechter, sondern natürlicher und dynamischer. In Polen haben wir jetzt eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Das ist schlimm: kreative, junge Leute sind besser ausgebildet als wir vor 20 Jahren - und können sich in ihrer Arbeit nicht mehr verwirklichen. Das Leben wird zum Konkurrenzkampf und verliert an Humanität.

    Auch die anderen Produktionen drücken ein tiefes Misstrauen aus gegenüber der europäischen Zukunft: In der lettischen Inszenierung von Gogols "Revisor" in der Regie von Alvis Hermanis ist das Russland des 19. Jahrhunderts eine nach Kohl und Zwiebeln stinkende sowjetische Garküche aus den 70er-Jahren geworden. Grotesk ausgestopfte Provinzpomeranzen buhlen um die Gunst des vermeintlichen Regierungsbeamten, reichen sich auf schmutzigen Toiletten Schmiergeld durch, schwärzen sich an und stechen sich aus - um dem vermeintlich großen und reichen Europa zu gefallen, das sich dann doch nur als pickeliger Jüngling entpuppt. Das in Mulhouse gezeigte Theater der Beitrittsländer kommt mit einfachsten Mitteln aus und kreiert doch düstere Atmosphären.
    Im Todesexperiment "Lium", eine ungarische Adaption von Ferenc Molnars Liliom, bilden schwankende Baumstämme einen jenseitigen Wald. In "Das Ende der Welt bei Gogo" aus Tschechien singt ein durchgeknalltes Ensemble aus Juden, Deutschen und Tschechen den Abgesang auf die kurze Hochzeit der Intellektuellen in Prag vor dem 2. Weltkrieg- und entschwindet rückwärts durch die Kabarettbühne, die man auf einmal als Deportationswaggon aus Pappmaché erkennt.

    Es ist Theater mit drastischen Aussagen, mit fast naivem und holzschnittartigen Pathos, dabei aber bilderreich und musikalisch. Doch auch die tschechische Regisseurin Federica Smetanova meint, dass sich das osteuropäische Theater seit dem Zusammenbruch des Ostblocks keineswegs im freiheitlichen Aufwind befindet:

    Es ist eine große Spaltung. Das Theater vor 1989 war zwar viel besser subventioniert. Doch erst nach 1989 ist in Tschechien überhaupt eine lebendige Theaterszene entstanden - und zum ersten Mal zeitgenössischer Tanz. Trotzdem verschlechtert sich die finanzielle Situation in Tschechien für die Kultur im Moment dramatisch. Das neue Europa scheint wie unsere letzte Chance: wenn wir nicht schaffen, uns mit
    europäischen Partnern auszutauschen, wird das Theater bei uns sterben.