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Experimentierfeld der literarischen Formen

Die Literaturzeitschrift "Edit" macht sich neben aktueller deutschsprachiger Literatur und Erstübersetzungen besonders für den literarischen Essay stark.

Von Nils Kahlefendt |
    Eigentlich hatten die Redakteure der Literaturzeitschrift "Edit" den US-Autor Mark Greif eingeladen, um mit ihm über Hipster, die Occupy-Bewegung und den "Essay als Form" zu sprechen. Dass der Mitherausgeber des auch in deutschen Universitätsstädten schwer angesagten New Yorker Magazins n+1 gleich ungeschützt über die (Selbst-)Ausbeutung der "Generation Praktikum" witzelte, die seine Zeitschrift stärker vorangebracht habe als alle Diskussionen über ästhetische oder Stilfragen zusammen, klang den Leipzigern merkwürdig vertraut in den Ohren.

    Auch die seit 1993 erscheinende "Edit" lebt zuerst vom Enthusiasmus ihrer Macher. Zwar ist die ehrenamtliche Arbeit in der sich kontinuierlich erneuernden Redaktion eines der effektivsten Trainee-Programme des deutschen Literaturbetriebs: Jo Lendle etwa oder Tom Kraushaar, heute in verlegerischer Verantwortung bei DuMont und Klett Cotta, haben hier begonnen. Doch wer dabei ist, wird zumeist nicht von schnöder Karriereplanung getrieben. Das gilt auch für Jörn Dege, noch Student am Deutschen Literaturinstitut und seit knapp zwei Jahren an Bord:

    "Also, ich persönlich mache diese Zeitschrift wirklich aus Enthusiasmus. Es ist eigentlich nicht zu fassen, welche Möglichkeiten man da hat, etwas zu gestalten. Also, wenn man selber auch dann Ideen hat, etwas mitzugestalten, was sich in diesem literarischen Umfeld tut - dann ist diese Zeitschrift nicht zu toppen! Weil: Die hat einen guten Ruf, man hat einigermaßen finanzielle Grundlagen, man hat eine gewisse Reichweite. Und man kann erst mal tun, was man will. Man hat Freiheiten, die sind, bei mir zumindest, auch für diesen Enthusiasmus verantwortlich. Da gibt es nur eine kleine Leserschaft für so etwas. Und natürlich nur einen beschränkten Wirkungskreis. Wir sind ein ganz kleines Mini-Rädchen im Literaturbetrieb, das ist uns schon bewusst. Nur selbst für diesen kleinen Raum, der uns ja selbst auch mit Haut und Haaren interessiert - dafür kann man schon was tun."

    Obwohl sich das "Papier für neue Texte", so der "Edit"-Untertitel, in den letzten Jahren auch für internationale Literaturströmungen öffnete, gehört die Zeitschrift zu den wichtigsten Foren für junge deutschsprachige Autoren. Wobei das Beiwort "jung" nicht unbedingt eine Frage des Lebensalters ist. Den Ruf der "Entdeckerzeitschrift" trägt "Edit" nicht zu unrecht; von Beginn an wurden mit Namen wie Jan Peter Bremer, Katrin Röggla, Julia Franck oder Georg Klein Autorinnen und Autoren ins Blatt geholt, die heute zu den wichtigsten ihrer Generation zählen.

    Neben den aktuellen Entwicklungen deutschsprachiger Prosa und Lyrik, Erstübersetzungen und Literaturkritik konzentriert sich "Edit" seit geraumer Zeit auf die hierzulande eher unterschätzte Form des literarischen Essays. So unternahm ein Prosa-Sonderheft 2011 den Versuch, sich auch auf einer Metaebene mit den Möglichkeiten der Gattung auseinanderzusetzen – eine poetologische Selbstreflexion, die in der Lyrik Gang und Gäbe ist.

    Der überaus lebendigen US-amerikanischen Essay-Szene wurde in Heft 57 ein ganzer Schwerpunkt gewidmet: Die fast ausnahmslos exklusiv übersetzten Texte bilden nicht nur die Bandbreite möglicher Stilformen ab, die von der literarischen Reportage bis in die Grenzregionen zur Fiktion reichen – sie lassen auch die Vielfalt der amerikanischen Magazinlandschaft von "Harper's Magazine" bis zu kleinen, ambitionierten Periodika wie "Triple Canopy" aufscheinen. Angesichts der permanenten Forderung nach "Welthaltigkeit" in der Literatur ist der Sachtext als künstlerische Form für Dege höchst zeitgemäß:

    "Was der Essay kann – und dann in dem Fall auch besser kann - ist tatsächlich so eine Art Gegenwärtigkeit auch in künstlerische Texte hineinzubringen. Weil man hat eben einen Autor, der da "ich" sagt - aber nicht nur das. Sondern für dieses "ich" auch einstehen muss. Und da keine fiktionale Figur unterschieben kann. Deswegen glaube ich, für dieses Bedürfnis in einer Welt, die immer reicher an Informationen wird. Und gleichzeitig immer unpersönlicher wird. Die es dem Einzelnen immer schwieriger macht, eine bestimmte Sinnhaftigkeit oder einen Sinnzusammenhang herzustellen zwischen dieser Überfülle an Informationen – da kann ich mir vorstellen, dass die essayistische Form gewisse Bedürfnisse da trifft."

    Dem wollten die Redakteure auch über die eigenen Heftseiten hinaus ein Forum geben. Zur Leipziger Buchmesse kürten sie die Gewinner des ersten "Edit-Essaypreises", der - ohne thematische Vorgaben – mit über 660 Einsendungen rein quantitativ Open-Mike-Niveau erreichte. Wer einen Mark-Greif-Ähnlichkeitswettbewerb befürchtet hatte, sieht sich zumindest nach Lektüre der in der aktuellen Nummer 59 abgedruckten drei Siegertexte aufs Angenehmste enttäuscht: Wie Welterkundung als Selbsterkundung funktionieren kann, führt die 1986 in Frankfurt/Main geborene Simone Schröder mustergültig vor. "Wohin mit all den Dingen", fragt sie angesichts der Wohnungsräumung bei ihrer verstorbenen Großmutter – und nimmt uns mit auf eine mäandernde Gedankenreise, die von zivilisatorischen Nicht-Orten wie Kellern und Mietkabinen-Depots über die hybriden Edgelands im Weichbild britischer Städte bis zu jenem Dachboden führt, auf dem in Kafkas "Prozess" über Josef K. Gericht gehalten wird. Francis Nenik lässt in seinem Text "Vom Wunder der doppelten Buchführung" dieses Wunder vor dem Auge des Lesers entstehen, indem er die poetisch verdichteten Lebensläufe zweier einsamer, im letzten Jahrhundert aus dem Literaturbetrieb katapultierter Dichter – des Engländers Nicholas Moore und des im britischen Exil gestorbenen Tschechen Ivan Blatny – buchstäblich nebeneinander stellt. Bruno Preisendörfer, der älteste und erfahrenste im Trio, verwebt zwei denkbar entlegene Phänomene – das längste Orgelstück der Welt von John Cage und ein über dem Sambesi-Fluss gerissenes Bungee-Seil – kunstvoll zu einer Meditation über letzte Dinge: Zeit, Leben, Tod. Einem Amerikaner, dem ebenfalls im "n+1"-Umfeld verorteten Autor Benjamin Kunkel, überlassen es die "Edit"-Macher dann schlitzohriger Weise, die Fallstricke im Umgang mit der freiesten aller literarischen Formen in Erinnerung zu rufen. Mit dem Siegeszug digitaler Publikationsformen bedrohe eine "zwanghafte Blogginess", eine "allseits unerlässliche Lockerheit" die Prosa einer ganzen Generation: "Bald", so Kunkel, "wird es hochtrabend, elitär und altmodisch erscheinen, irgendetwas mit Geduld und Sorgfalt zu schreiben." Auf den Seiten von "Edit", das neue Heft zeigt es eindrucksvoll, ist dafür verlässlich Platz, noch immer. Die Wurzeln werden nicht gekappt.

    "Wir wollen nicht die literarischen Formen wie erzählerische Texte, Prosa, experimentelle Prosa oder Lyrik, alles, was es da gibt an Formen, und Dramatik, wollen wir nicht verlassen. Wir wollen jetzt keine Essay-Zeitschrift werden. Und gleichzeitig wollen wir auch nicht den Anschluss zu der jüngeren Generation von Autoren verlieren. Und, wie der "Merkur", dann uns aus einer Professoren-Riege da Texte generieren. Das ist einfach nicht unser Ding."

    Gute Literatur muss auch gut aussehen. Hatte die Zeitschrift ihr Gesicht bis 2009 nur einmal verändert, begann mit der Jubiläumsnummer 50 ein reges Experimentieren am Erscheinungsbild: Offene Bindung, Formatwechsel, verschiedene Papiersorten, der Verzicht auf einen klassischen Umschlag – gestalterische Ambition drohte inhaltlicher Klasse beinahe den Rang abzulaufen. Inzwischen hat sich "Edit" auch hier freigeschwommen: Der Leipziger Grafikdesigner David Voss hat der Zeitschrift ein Kleid geschneidert, das sitzt: Ein rein typografisches Cover und eine "bibliophilere" Außenanmutung, innen deutlich homogener; Seite für Seite mit Aufwand und Liebe zum Detail gesetzt. Ganz so, wie es sich bei einem "Papier für neue Texte" gehört.

    Infos:
    Die aktuelle, 111 Seiten umfassende Nummer 59 der "Edit" ist für fünf Euro im Buchhandel erhältlich. Das Jahresabo der im Frühling, Sommer und Herbst erscheinenden Zeitschrift kostet innerhalb Deutschlands 14 Euro.