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Experte: Gewerkschaften schaffen keine Arbeitsplätze

Anlässlich der diesjährigen Mai-Kundgebungen hat Gewerkschaftsforscher Manfred Wilke den Gewerkschaften weitgehende Ohnmacht bei der Schaffung von Arbeitsplätzen bescheinigt. Sie könnten lediglich anklagen und fordern. Das Zusammenspiel von Regierung, Wirtschaft und der Arbeitnehmerseite in Gestalt der Gewerkschaften funktioniere schon lange nicht mehr, fügte Wilke hinzu.

Moderation: Hans-Joachim Wiese |
    Hans-Joachim Wiese: Am Telefon begrüße ich jetzt den Wirtschaftssoziologen und Gewerkschaftsforscher Prof. Manfred Wilke. Herr Wilke, laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS Emnid sind 47 Prozent der Befragten der Meinung, 1. Mai-Kundgebungen seien nicht mehr zeitgemäß. Was halten Sie von solchen Veranstaltungen?

    Manfred Wilke: Na ja, diese Umfragen sind doch nur von mäßigem Wert, denn die Zeiten, als an den Maiveranstaltungen der Gewerkschaften hunderttausende teilnahmen, scheinen vorbei zu sein. Aber Ihre Berichterstattung eben hat noch mal hervorgehoben, dass immerhin 500.000 gestern auf die Straße gegangen sind und bei dem zehnfachen an Arbeitslosigkeit, dass in diesem Land seit Jahren herrscht, wann bitte sollen die Proteste eigentlich stattfinden?

    Wiese: Ja, aber wenn, wie Sie sagen, gestern 500.000 teilnahmen und die Massenarbeitslosigkeit sehr viel mehr Menschen betrifft, warum können die Gewerkschaften dann - und der Sozialabbau kommt ja auch noch dazu - nicht noch viel mehr Demonstranten mobilisieren?

    Wilke: Weil es ein Problem gibt beim gewerkschaftlichen Protest und Sie haben die Zitate von Peters und Bsirske gehört, sie können anklagen, sie können fordern, aber die Gewerkschaften schaffen keine Arbeitsplätze. Das haben sie noch nie vermocht. Und als sie es geschafft haben, in der alten Zeit der Bundesrepublik, zum Beispiel mit der neuen Heimat, haben sie sozusagen so erfolgreich gewirtschaftet, dass von diesem großen gemeinwirtschaftlichen Unternehmen nichts mehr übrig ist. Also das Problem ist, dass die Gewerkschaften in der Tradition Deutschlands immer den Staat gebraucht haben als Verbündeten, um Marktregulierungen durchzusetzen, Investitionsprogramme, die Arbeitsplätze schaffen voranzubringen. All dieses fehlt zur Zeit in diesem Land und insofern sind die Gewerkschaften bei aller Kritik auch weitgehend ohnmächtig. Und das ist ein Problem, dass über diese Maiproteste hinausführt. Das Zusammenspiel, was in Deutschland immer funktioniert hat in vergangenen Zeiten der alten Bundesrepublik zwischen Regierung, Wirtschaft - sprich Unternehmern, vor allem dem Mittelstand und dem Handwerk - und der Arbeitnehmerseite in Gestalt der Gewerkschaften, das funktioniert schon lange nicht mehr.

    Wiese: Wieso funktioniert das nicht mehr? Weil die Regierung inzwischen mehr die Politik der Unternehmensinteressen verfolgt?

    Wilke: Das würde ich so nicht sagen wollen, sondern der Punkt ist, dass das Land keine Hoffnung hat und keine Wachstumsperspektive. Wenn sie sich die deutschen Debatten angucken und wenn Sie vor allem auch die Medienberichterstattung sich ansehen, so sind wir in einem Pleiteuntergangsland - und Sie brauchen auch nur die Demographie zu bemühen - kurz um, was zum Beispiel fehlt ist so ein Anlauf, der immerhin vor acht Jahren gemacht worden ist und den die Gewerkschaften auch mit zerstört haben, dieses berühmte Bündnis für Arbeit, von dem niemand mehr reden will, auch nicht der Kanzler, der damals die Arbeitslosenzahl von vier Millionen halbieren wollte und daran wollte er gemessen werden und diese Kraft, zum Beispiel bei der Gentechnologie, bei Biotechnologien, wo es ja in Deutschland eine Partei gibt, die Blockade macht, das sind die Grünen, dass diese Zukunftstechnologien nicht beherzt aufgegriffen werden, dass die Forschungsinvestitionen, die Bildungsinvestitionen - fünf, sechs Jahre wird darüber geredet und Föderalismusbürokraten und Bundesregierung blockieren sich wechselseitig. Dieses Spiel, dass man Bürokratieabbau ab und zu mal anspricht, findet immer wieder statt. Und solange dieses alles geschieht, die Politik also nicht Mut hat, das Land aus der Krise zu führen, wird diese Geschichte so weitergehen und daran können die Gewerkschaften nichts ändern.

    Wiese: Wenn das so ist, wie Sie sagen, muss man dann den Gewerkschaften nicht attestieren, in einer ganz existentiellen Krise sich zu befinden? Droht ihnen künftig die Bedeutungslosigkeit?

    Wilke: Das zeichnet sich ab, aber es gibt den alten schönen Spruch, "Totgesagte leben länger". Solange es abhängig beschäftigte Menschen gibt in diesem Land, ist eine Interessenvertretung dieser Menschen im politischen Raum unbedingt notwendig. Und Sie können ja mal die Parlamente durchgucken, wie viele Arbeitnehmer noch drinsitzen. Und Sie können ja auch mal die Parteien befragen, ein Stück hat Müntefering abgekriegt, wo es noch eine Arbeitnehmerpolitik, das würde ich allerdings noch erweitern auch auf eine Mittelstandspolitik, wirklich noch gibt. Und diese Strukturverwerfungen in der Entwicklung der politischen Parteien die sind auch mitverantwortlich dafür, dass die politische Klasse ab und zu, um es mal vorsichtig zu formulieren, die Bodenhaftung zu dem Land verliert, das sie regiert.

    Wiese: Welche Konsequenzen schlagen Sie vor für die Gewerkschaften? Wo müssten sie sich besonders engagieren?

    Wilke: Die Gewerkschaften müssen sich stärker als bisher noch, programmatisch einlassen auf ein konzeptionelles Nachdenken, was sie mit ihrem Tun befördern können, dass so ein Wachstumspakt für Deutschland entsteht. Eine andere Chance haben sie nicht. Wenn sie diese Chance nicht nutzen, wird der Niedergang weitergehen.

    Wiese: Und müssten sich die Gewerkschaften auch wieder näher an die SPD anschließen? Müssten sie sich zunächst einmal mit der SPD, Stichwort Agenda 2010, versöhnen? Und hilft da vielleicht sogar die Kapitalismuskritik von Franz Müntefering?

    Wilke: Das ist mit Sicherheit einer der Zielpunkte von Müntefering, gewissermaßen die Ausfransung der SPD am linken Rand zu verhindern. In Nordrhein-Westfalen hat sich ja schon eine Gruppierung abgespalten, die bei diesen Wahlen mit der SPD konkurriert, die aus der Sozialdemokratie gekommen ist, und die vor allen Dingen auch von Gewerkschaftsfunktionären der IG-Metall geführt wird. Hier gibt es Handlungsbedarf für die SPD, soll sie nicht schleichend in diesem wichtigen Segment ihrer Anhängerschaft, ihrer Wähler, noch mehr Boden verlieren. Das ist mit Sicherheit so und deswegen ist ja dem Müntefering auch entgegengeschlagen das Wort "Lügner", das heißt: Jetzt kommt Ihr, drei Wochen bevor Ihr eine Wahl vielleicht verliert und spitzt den Mund und pfeift und sagt, "der Kapitalismus ist schuld". Dann kommt die Antwort: Ja, in Duisburg. Warum nicht gerade in Duisburg? Wo ist die Stahlindustrie in Duisburg? Die ist weg. Und die Leute haben das noch alles nicht vergessen. Oder wenn Sie sich so einen Skandal ansehen, dass so eine Kältetechnik wie Linde in Wiesbaden von so einer amerikanischen Übernahmefirma gekauft wird, zerlegt wird und die Arbeitsplätze verschwinden. Ja, das geschieht alles in diesem Land und die Frage ist, gibt es da niemanden, der mal sagt, so geht es eigentlich nicht, oder wie der Verkauf der HDW-Werke, wo die Deutschen natürlich Rüstungstechnologie produzieren, höchsten Standards. Die Amerikaner haben es gekauft und danach hat die Bundesregierung ein Gesetz gemacht, dass bei bestimmten wichtigen Industrien die Regierung ein Veto-Recht haben will, was die Amerikaner längst haben.