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Experten für Judaica

Die Einrichtung ist altehrwürdig. Seit mehr als 130 Jahren werden in dem Rabbinerseminar in Budapest Nachwuchsgeistliche ausgebildet. Mittlerweile kann man hier auch Liturgie, Kunstgeschichte und Sozialarbeit studieren. Die Jüdische Universität ist auch offen für Nicht-Juden: Gut 250 Studenten sind momentan eingeschrieben.

Von Stephan Ozsváth | 19.08.2008
    Eine kleine Seitenstraße im siebten Bezirk von Budapest. Draußen vor der Tür tost der Lärm der Millionenstadt: Die laute, die materielle Welt. Drinnen im terrakottafarbenen Gebäude im klassizistischen Stil: Beschaulichkeit. Zwischen den Säulen mit unzähligen Zetteln, die ins Budapester Nachtleben locken - ein Sicherheitsmann.

    Im ersten Stock, an den Wänden hängen Plakate mit den Konterfeis der Absolventen. Hier wird bald auch das Foto von Ervin Szerdócz hängen. Er ist einer der ältesten Studenten. Der 57-jährige stammt aus Rumänien, eigentlich ist er Zahntechniker. Aber er hatte das falsche Hobby: Er sammelte Kunst, kam mit der Securitate in Konflikt. Er wanderte aus. Vor neun Jahren begann Szerdózc mit dem Studium an der "Universität für jüdische Studien." Zunächst Kunstgeschichte. Dann Liturgie. Dann ließ er sich zum Kantor ausbilden. Jetzt möchte er Rabbiner werden. Dafür bringt er Opfer.

    "Damit ich lernen kann, habe ich meine Stelle als Zahntechniker aufgegeben. Ich arbeite derzeit als Hausmeister in einem jüdischen Kindergarten, dort arbeitet auch meine Frau. Dort konnte ich anfangen, weil sie erlaubten, dass ich lerne. "

    Ervin Szerdócz ist einer von zehn angehenden Rabbinern, die derzeit an der Einrichtung ausgebildet werden: Die einzige der sogenannten "Neologen" in Osteuropa. Gegründet 1877 - gegen den Widerstand der Orthodoxen, denn die Neologen förderten die Assimilation durch Ungarisch-Unterricht und Landeskunde.

    Universitätsdirektor Alfred Schöner ist Rabbiner. Er ist Jude und ungarischer Patriot - und damit ein typischer Neologe. Im Holocaust hat er drei Dutzend Familienangehörige verloren: Das Haus, dem er heute vorsteht, war Sammelpunkt - von hier starteten die Transporte in die Vernichtungslager. Schöner sagt.

    "Das ist in meinen Genen. In meinen 70 Jahren bin ich ein einziges Mal nach Auschwitz gepilgert. Und am Tag danach ging es mir so schlecht, dass ich nach Hause fahren musste. Denn ich habe immer noch den Gasgeruch verspürt. "

    Auch zu Ostblock-Zeiten lebte der Antisemitismus fort, sagt Schöner. Die Kommunistische Partei predigte Atheismus. Und auch die ungarische Stasi saß in den Hörsälen. Schwierige Zeiten, meint Schöner. Zunächst kamen die Studenten aus den Anrainer-Staaten: Ungarisch-Stämmige, die Kantoren oder Rabbiner werden wollten. Seit der Wende werden hier auch Experten für jüdische Themen und Sozialarbeiter ausgebildet.

    "Wir sind keine "jüdische Universität", sondern eine "University of jewish studies". Man kann hier "Jüdische Studien" betreiben. Daneben bilden wir natürlich Rabbiner und Kantoren aus. "

    Die 21-jährige Veronika Rotter studiert im zweiten Studienjahr Judaistik. Vor ihr im Studierzimmer liegt ein hebräisch-ungarisches Wörterbuch, und eine dickbauchige "jüdische Literaturgeschichte".

    "Ich bin Jüdin, sagt sie. Ich bin damit groß geworden. Das interessiert mich. Und ich möchte gerne Kinder unterrichten. Das kann ich hier verknüpfen. "

    Ihre gleichaltrige Kommilitonin Renata Tóth-Kása aus dem südungarischen Szeged ist nicht jüdischen Glaubens. Was zieht sie an die Jüdische Universität ?

    ""Ich wollte auf jeden Fall hierhin. Denn mich hat Religionswissenschaft interessiert. Doch um die beiden großen Religionen Christentum und Islam zu verstehen, muss ich erstmal das Judentum kennenlernen, denn es ist die Grundlage für beide"."