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Expertenstreit

Die Debatte um den Papyrus von Artemidor nimmt immer mehr die Züge eines internationalen Wissenschaftskrimis an. Falsch oder nicht falsch, das ist hier die Frage. Warum geht es? Der Papyrus - rund zweieinhalb Meter lang und etwa 33 Zentimeter hoch - war Mitte der neunziger Jahren in Oberägypten gefunden worden und dann im Kunsthandel aufgetaucht.

Von Henning Klüver |
    Es handelt sich angeblich um Fragmente des zweiten Buches der Geographie des Artemidor von Ephesus. Der griechischer Geograph Artemidor hatte im 1. Jahrhundert vor Christus nach ausgedehnten Reisen durch die Mittelmeerländer eine Beschreibung der damals bekannten Welt in elf Bänden verfasst. Das Werk galt jedoch als verschollen. Der Text war bislang vor allem durch Zitate späterer Autoren bekannt.

    Der Fund des Artemidor war also eine Sensation. Der Papyrus wurde im Mailänder Speziallabor für Papyrusforschung von der deutschen Papyriologin Bärbel Krämer und ihrem italienischen Kollegen Claudio Galazzi untersucht und der Öffentlichkeit bekannt gemacht. Nach einem Gutachten des anerkannten Archäologen und Kunsthistoriker Salvatore Settis kaufte die Turiner Bankstiftung San Paolo das antike Stück für 2.750.000 Euro und stellte es anlässlich der olympischen Winterspiele 2006 zum ersten Mal aus.

    Doch dann passierte etwas Merkwürdiges. Krämer, Galazzi und Settis, die Autoren des Ausstellungskatalogs, zogen ihre Texte zurück. Und gleichzeitig stellte der Altphilologe Luciano Canfora die Echtheit des Papyrus in Frage. Canfora, ein streitbarer Intellektueller und zugleich ein weltweit anerkannter Wissenschaftler von der Universität Bari, hat die These aufgestellt, dass es sich allein schon aus sprachlichen Gründen bei dem Papyrus um keine Arbeit aus dem 1. Jahrhundert vor Christus handeln könne. Der Text sei teilweise ein Patchwork aus sprachlichen Versatzstücken des 2. Jahrhundert nach Christus und vielleicht auch aus späteren Zeiten. Vermutlich sei das Werk sogar eine Fälschung des 19. Jahrhunderts, zum Beispiel von Hand des Constantin Simonides, eines in aller Welt bekannten genialen griechischen Fälscher von Antiken. Simonides war ein "Papyrus-Spezialist", der um 1890 in Alexandrien gestorben war, wo die Artemidor-Rolle schließlich aufgetaucht ist.

    Die italienischen Zeitungen diskutierten immer wieder über den Artemidor-Papyrus mit einer Lust an der Debatte, wie man es sich im deutschen Sprachraum kaum vorstellen kann. Canfora griff im "Corriere della Sera" an, Settis verteidigte sich in "La Repubblica", andere Blätter sekundierten jeweils der einen oder anderen Seite. Merkwürdige Details wurden bekannt. Zum Beispiel dass aus einer Sammlung in Liverpool, wo Arbeiten des Fälschers Simonides aufbewahrt werden, mehrere Papyrus-Rollen verschwunden sind.

    Möglich wurde diese Diskussion auch dadurch, dass die wissenschaftliche Edition des Papyrus immer wieder angekündigt und immer wieder verschoben wurde. Jetzt, auf deutschem Boden, scheint es aber so weit zu sein. Salvatore Settis:

    "Die Ausstellung über den Artemidor-Papyrus wird jetzt in Berlin eröffnet. Zuvor halte ich am 12. März in der Rotunde des Alten Museums einen Vortrag und wir präsentieren dann die kritische Edition des Artemidor."

    Ob der Papyrus echt oder gefälscht sei, sagt der Archäologe, diese Frage stelle sich gar nicht.

    "Questo non è un problema."

    Und die italienische Mediendebatte?

    Diese Diskussion sei ohne jedes inhaltliche Interesse. Sagt Settis. Mag sein, dass der Wissenschaftler recht hat - aber spannend ist sie doch.