Montag, 29. April 2024

Archiv

Explore the Score
Interaktive Musikvermittlung für Neulinge und Kenner

Auf der Plattform YouTube lassen sich die meisten Werke der Musikliteratur leicht finden und abspielen. Musik in allen ihren Facetten online durchschaubar zu machen, war dagegen bisher technische Spielerei. Die Internetseite Explore the Score des Klavierfestivals Ruhr geht diese Aufgabe sehr systematisch an – mit einem Audioguide für moderne Klaviermusik.

Von Matthias Nöther | 02.08.2016
    Der rote Flügel, beliebtes Wahrzeichen des Klavier-Festivals Ruhr, steht vor dem Hertener Schloss
    Bietet neben hochkarätiger Klaviermusik neue Multimedia-Ideen: das Klavierfestival Ruhr (Mark Wohlrab)
    Musik: Boulez, Notation I
    In einer Videosequenz sieht man Pierre Boulez, wie er seine berühmten Klavierstücke Notations der Reihe nach erläutert. Boulez schrieb die Stücke als 20-Jähriger, doch er beschäftigte sich lebenslang mit ihnen, änderte und orchestrierte sie, die Erinnerung an die Notations blieb bei Boulez bis ins hohe Alter wach. Die Macher der Website Explore the Score nutzten dies. Sie fuhren 2012 extra zu Boulez' Wohnsitz nach Baden-Baden, um den 87-jährigen Komponisten zu diesem Thema zu interviewen. Geschickt bauten sie danach die Filmausschnitte ein: in eine Online-Partitur, deren Fülle an interaktiven Möglichkeiten wohl kaum irgendwo im musikalischen Internet zu finden ist. So vergeht fast kein Takt der kurzen Stücke, in denen man nicht auch einen Interpreten-Kommentar anklicken kann: Hier ist es die Pianistin Interpretin Tamara Stefanovich.
    "Zum Beispiel auf jeden Fall die erste und die letzte Geste ist die gleiche, nur gespiegelt. Und auch wenn es eine andere Geste ist, der Charakter muss gleich sein. Man muss das für das Ohr so verständlich machen."
    Karriere eines Nebenproduktes

    Eine moderne, komplexe Klavierpartitur, übersäht mit Hyperlinks zu Übersetzungen, Filmen, historischen und theoretischen Erläuterungen der Musik, ihrer Entstehung, ihrer Interpretation. Tobias Bleek leitet die Abteilung für Musikvermittlung beim Klavierfestival Ruhr. Anfangs, im Jahr 2007, war die Website nur ein Nebenprodukt, er wollte Material für Musiklehrer und Schüler bereitstellen, die die Education-Workshops des Festivals besuchten:
    "Wir sind sehr, sehr klein. Also im Prinzip gibt es einen Webdesigner, mit dem ich dieses Projekt entwickelt habe. Es hat alles relativ lang gebraucht. Es hat den großen Vorteil gehabt, dass man Dinge ausprobieren kann und dann auch verändern kann. Wenn Sie jetzt eine große Firma haben: A ist es finanziell nicht zu stemmen und B wäre es dann so gewesen: Man macht ein Konzept, das wird dann umgesetzt, dann kann man vielleicht einmal nachbessern, und wenn man dann noch was verändern will, wird’s extrem teuer."
    Weil hier dagegen Dinge verändert werden konnten, sind an eigentlich alten Partitur-Erläuterungen auf Explore the Score immer wieder neue und raffinierte Dinge zu bestaunen. Und Tobias Bleek schaute sich als Einzelkämpfer bereits im Vorhinein sehr genau um, wie andere Kulturinstitutionen im Internet agieren.
    "Ich habe damals geschaut: Was machen Museen? Ich habe grundsätzlich den Eindruck, dass Museen in Deutschland und auch in anderen Ländern oft dem Musikbereich voraus sind in der Mediennutzung. Und das fand ich ganz spannend. Also ich habe mir angeschaut, was macht das Museum of Modern Art, was macht das Metropolitan Museum. Dann hatte man das Gemälde, man hatte Videokommentare, man konnte sich in Details zoomen, man hat kunsthistorische Informationen gehabt. Und da gab es eben auch so diese Tiefendimension, die mich sehr interessiert hat."
    Für Neulinge und Kenner

    Zwar muss es für absolute Neulinge einen Einstieg in die Website ohne große Hürden geben. Für den Musikwissenschaftler Tobias Bleek bedeutet das Stichwort Tiefendimension aber, dass auch echte Kenner und solche, die unbedingt immer noch mehr erfahren wollen, auf der Website Explore the Score auf ihre Kosten kommen sollen. Sich allein mit der digitalen Lupe in die Details hineinzuzoomen, bringt bei einer Partitur allerdings noch nicht so viel wie bei einem Gemälde.
    Musik: Strawinski, Petruschka
    Am ersten Projekt von Explore the Score aus dem Jahr 2007 hat Tobias Bleek mit den Jahren allmählich durchexerziert, was Tiefenschärfe in der Musikvermittlung online bedeuten kann. Wer es möchte, kann die Partitur von Strawinskis Petruschka an verschiedenen Stellen anklicken – und die jeweils ausgewählten Orchesterstimmen werden akustisch hervorgehoben. Das geht nur mit Hilfe von gut vorbereiteter Tontechnik.
    Musik: Strawinski, Petruschka
    Das jüngste Projekt von Explore the Score wird ebenfalls ständig größer: Es dreht sich um Klavieretüden von Györgi Ligeti. Auch hier kann man Stellen in den interaktiven Partituren anklicken, und man wird dann vom Pianisten und einstigen Ligeti-Freund Pierre-Laurent Aimard etwas über seine Erfahrungen mit dem Stück hören. Wenn man auf den Buchstaben M klickt, gelangt man zu einem Meisterkurs, den Aimard für junge Klavierschüler zu Ligeti gab.
    Ausschnitt Meisterkurs Pierre-Laurent Aimard
    "Also wir hatten mit Petruschka angefangen, hatten die Boulez-Website auch schon, und dann kam eben dieses Ligeti-Projekt mit Pierre-Laurent Aimard. Und wir haben Filmaufnahmen gemacht, also die Stücke hat er eingespielt und die ganzen Einführungen gemacht. Also bei Ligeti haben wir jetzt so Kurzeinführungen, unter einer Minute. Weil wir auch gemerkt haben, wenn wir jetzt da gleich mit einem Fünfminutenfilm einsteigen – so ist nicht mehr das Nutzerverhalten. Sondern wir müssen erstmal mit einem kleinen Happen beginnen und hoffen, dass die Leute dann weiter einsteigen."
    Raffinierte spielerische Anreize

    Darin besteht die schwierige Feinjustierung von Explore the Score: Zwischen dem tendenziell kurzatmigen Verhalten von Internetnutzern und der komplexen musikalischen Materie zu vermitteln. Tobias Bleek denkt daneben schon über weitere Annäherungen an Ligeti im Medium Internet nach.
    "Unsere Website gibt ja jetzt einfach die Möglichkeit, relativ viel zu entdecken, aber man könnte jetzt zum Beispiel im Fall von Ligeti sich vorstellen, dass man Experimente macht. Also meinetwegen ich hab Metronome online in so einer Art Game, und ich kann jetzt irgendwie zehn Metronome kombinieren, und kann dann dieses berühmte Metronom-Stück von Ligeti nachbauen und kann dann durch eigenes Spielen entdecken, wo geht es über von so einem Feld, wo ich nur ein Gesamtergebnis aus zwanzig Metronomen höre, zu einem Punkt, wo ich die einzelnen Metronome unterscheiden kann, oder so. Also dass man diese spielerischen Komponenten, wo man selbst was machen kann und so ein noch stärkeres Maß an Interaktivität hat, das könnte man sicher ausbauen. Und was ich halt auch immer wichtig finde, dass das Spielerische um ein zentrales Problem kreist. Also dass man es nicht nur macht als Selbstzweck, um irgendwo klicken zu können und irgendwas passiert, sondern dass man wirklich auch über dieses Spielen etwas über die Musik erfährt. Möglichkeiten gäbe es da genug."
    Unter all den interaktiven Seiten zur Musikvermittlung, die es im Internet gibt, ist Explore the Score der musikalischen Substanz am nächsten. Das liegt wohl daran, dass ihr Macher immer noch selbst etwas herausfinden möchte.