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Extravagante Denkerin

Schon zu Lebzeiten besaß sie einen beachtlichen Namen, doch regelrecht populär ist Hannah Arendt erst in den letzten Jahrzehnten geworden. Dies lässt sich nicht nur an der stetig wachsenden Sekundärliteratur ablesen, davon zeugen ebenso die unzähligen Hannah-Arendt-Preise, -Stiftungen, -Zentren, -Institute sowie die recht kuriose Tatsache von immerhin drei Hannah-Arendt-ICE-Zügen, die den Norden Deutschlands mit dem Süden verbinden. Sie selbst wäre wohl angesichts dieser Ehrung in ihr kräftiges Arendtsches Lachen ausgebrochen und hätte sich insgesamt misstrauisch gezeigt gegenüber der Popularisierung ihres Namens. Denn sie selbst verstand ihr "extravagantes Denken", wie sie es einmal nannte, als ein Denken, das vom Üblichen abweicht und sich abseits der geistigen Hauptströmungen, der akademischen Zentren und Schulen bewegt. Extravagant war auch ihre Weigerung, sich selbst als Philosophin zu bezeichnen. In ihrem berühmten Fernsehgespräch mit Günter Gaus aus dem Jahre 1964 stellt sie klar:

Von Astrid Nettling |
    " Mein Beruf - wenn man davon überhaupt sprechen kann - ist politische Theorie. Ich fühle mich keineswegs als Philosophin. Wenn ich über diese Dinge spreche, akademisch oder nicht akademisch, so erwähne ich immer, dass es zwischen Philosophie und Politik eine Spannung gibt. Nämlich zwischen dem Menschen insofern er ein philosophierendes, und dem Menschen, insofern er ein handelndes Wesen ist - eine Spannung, die es in diesem Sinne, sagen wir, bei Naturphilosophie nicht gibt. Der Philosoph steht der Natur gegenüber wie alle anderen Menschen auch. Er steht nicht neutral der Politik gegenüber. "

    Was das bedeutet, hatte sie in ihrer Jugend am eigenen Leib erfahren, nämlich dass sich der Philosoph in Sachen Politik heillos versteigen kann. Denn mit ungläubigem Staunen musste die jüdische Philosophiestudentin im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis erleben, dass es gerade Philosophen und Intellektuelle waren, die Hitler und dem Nationalsozialismus etwas abgewinnen konnten.

    " Sehen Sie, dass jemand sich gleichschaltete, weil er für Frau und Kinder zu sorgen hatte, das hat nie ein Mensch übel genommen. Das Schlimme war doch, dass sie dann wirklich daran glaubten! Für kurze Zeit, manche für sehr kurze Zeit. Aber das heißt doch: Zu Hitler fiel ihnen was ein. Und zum Teil ungeheuer interessante Dinge! Ganz phantastisch interessante und komplizierte Dinge! Hoch über dem gewöhnlichen Niveau schwebende Dinge! Das habe ich als grotesk empfunden. Sie gingen ihren eigenen Einfällen in die Falle, würde ich heute sagen. Das ist das, was passierte. "

    Diese Erfahrung blieb Hannah Arendt nicht nur auf ihrem weiteren Lebensweg, der sie 1933 nach ihrer Flucht aus Deutschland zuerst nach Frankreich, nach Paris, dann 1941 ins rettende Amerika, nach New York, führte, stets präsent, sondern hat vor allem den Denkweg dieser politischen Theoretikerin und Philosophin tief geprägt. So stellen ihre Bücher, die "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", ihr "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen", ihre "Übungen im politischen Denken", die "Vita activa oder Vom tätigen Leben" sowie ihr unvollendet gebliebenes Spätwerk "Vom Leben des Geistes", die Schriften einer Denkerin dar, die sich vom philosophischen Ideal einer metaphysischen Wesensschau verabschiedet hat und stattdessen den prekären Bereich des Politischen in den Fokus ihrer Betrachtungen stellte. D.h. den öffentlichen Raum gesellschaftlichen Miteinanders, in dem die Menschen handeln, um ihre Welt gemeinsam zu gestalten.

    Ein schwieriges Geschäft gleichwohl, schwierig und komplex wie auch Arendts Denken selbst. Wer sich damit vertraut machen möchte, dem seien als Einstieg die beiden Bücher empfohlen, die jetzt anlässlich ihres 30. Todestags bei Piper, dem 'Hausverlag' von Hannah Arendt, erschienen sind. Kurt Sontheimer, der in diesem Frühjahr verstorbene, bekannte deutsche Politikwissenschaftler, hat sein letztes Buch: "Hannah Arendt. Der Weg einer großen Denkerin", als eine Leseanleitung für Neugierige und Interessierte geschrieben, die nicht vom Fach sind. Seine Fähigkeit, schwer fassbare Zusammenhänge verständlich darzulegen, wurde immer wieder gerühmt. Auch im vorliegenden Buch ist es ihm überzeugend gelungen, seinem Leser den Lebens- und Denkweg dieser so bedeutenden wie faszinierenden Persönlichkeit in einer wunderbar klaren Darstellung und Sprache nahezubringen. In sechs Kapiteln gibt er zunächst biographischen Einblick in ihr ungewöhnliches Leben, beschreibt sodann ihren denkerischen Weg, der aus ihr die politische Theoretikerin par excellence machte, würdigt sie als brillante Essayistin, deren scharfer Intellekt gerade in dieser zugespitzten Form sein Bestes leistet, schildert die heftige Kontroverse, die ihr Eichmannbuch vor allem unter jüdischen Intellektuellen auslöste, und skizziert schließlich ihr persönliches Umfeld - ihre Beziehung zu Heinrich Blücher, ihrem Ehemann und allerengsten geistigen Vertrauten, zu Karl Jaspers, dem philosophischen Lehrer und späteren Freund, zu Martin Heidegger, dem Lehrer und zeitweiligen Geliebten, zu Kurt Blumenfeld, dem jüdischen Freund und Mentor, sowie zur Schriftstellerin und langjährigen Freundin Mary McCarthy, die von Hannah Arendt als literarische Nachlassverwalterin ihres Werkes eingesetzt wurde. Insgesamt gelingt Sontheimer in seiner im allerbesten Sinne verständnisvollen und mit bewundernswert leichter, aber präziser Feder geschriebenen Leseanleitung, dass sich am Ende der Leser tatsächlich bestens eingeführt und hervorragend ins Bild gesetzt fühlt. In seinem letzten Kapitel "Was bleibt?", hebt er u.a. ihren offenen und unabhängigen Geist hervor, der sich nicht nur auf die Grundfragen politischer Theorie konzentrierte, sondern ebenso weit und offen war für die Lebensfragen der Menschen überhaupt sowie für die aktuellen Probleme des alltäglichen, politischen Miteinanders. Denn nicht von ungefähr lautete das Schlüsselwort ihres Lebens und Denkens: "Ich will verstehen!"

    Wer erfahren möchte, wie dies das Schaffen Hannah Arendts im Einzelnen geprägt hat, kann anhand des Piper-Lesebuchs "Denken ohne Geländer", das Texte und Briefe aus ihrer gesamten Schaffenszeit versammelt, einen allerersten Eindruck gewinnen. Als ein "Denken ohne Geländer" hatte sie selbst ihre geistige Arbeit bezeichnet, darin ihrem Verstehensanspruch folgend, sich mit der Wirklichkeit, was immer sie ist oder war, unvoreingenommen und unabhängig von Schulen, Lehrmeinungen und Ideologien auseinanderzusetzen. Unter den fünf Hauptkapiteln, "Zur Philosophie", "Zum politischen Denken", "Zum politischen Handeln", "Zur Situation des Menschen" und "Lebensgeschichten", haben die Herausgeber Textauszüge aus ihren Werken wie aus ihren Briefen an Ehemann und an Freunde zusammengestellt, die den Leser mit den für sie wichtigen Themen bekannt machen.

    Neben Lebens- und philosophischen Themen sind dies vor allem Fragen zu Macht und Gewalt, Freiheit und Totalitarismus, Antisemitismus, Politik und politisches Handeln - Fragen, die ihr nicht zuletzt von einem Jahrhundert aufgenötigt wurden, das an Unheilserfahrungen nicht eben arm war. Doch trotz der politisch katastrophalen Geschichte von Antisemitismus, rechtem wie linkem Totalitarismus, die den Sinn des Politischen geradezu ins Gegenteil verkehrt haben, beharrt die deutsche Jüdin, die wie viele andere im demokratischen Amerika Zuflucht gefunden hatte - wofür sie diesem Land stets dankbar blieb -, darauf, dass der eigentliche "Sinn von Politik Freiheit" ist.

    Denn Freiheit und Spontaneität der Menschen sind für Hannah Arendt die Voraussetzungen dafür, dass überhaupt jener öffentliche Handlungsspielraum zwischen den Menschen entstehen kann, in dem wahre Politik möglich wird und Handeln sich auf die Gestaltung einer zivilisierten und menschenwürdigen Welt richten kann. "Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen", lautet es bei dem Kirchenvater Augustinus, über den sie als 22-Jährige bei Karl Jaspers promoviert hatte. Für Arendt wurde dieser Satz zur philosophischen Initialzündung. Einen Anfang zu setzen, etwas Neues zu beginnen, die Initiative zu ergreifen, ist in der Tat dem Menschen eigentümlich. Und in diesem Anfangen-Können liegt für sie das "Wunder" der Freiheit beschlossen und gründet ihr emphatischer Begriff von Politik, womit sie freilich die Niederungen landläufigen Politikverständnisses verlässt. Dass im Unterschied zur Leseanleitung Kurt Sontheimers das Arendt-Lesebuch den Leser am Schluss doch eher unbefriedigt zurücklässt, liegt einzig und allein daran, dass großen Gedanken die Portionierung in kleine 'Appetithäppchen' schlecht bekommt. Das Beste, was dem Leser also passieren kann - durchaus im Sinne der Herausgeber -, ist, dass er neugierig wird und Lust bekommt, mit einer ernsthaften Lektüre ihrer Schriften 'anzufangen' und sich von der Intensität und Leidenschaftlichkeit ihres Denkens, hinter dem stets ihre lebendige, weltoffene Persönlichkeit zu spüren ist, bewegen zu lassen. Denn anders als so mancher ihrer philosophischen Zeitgenossen blieb diese Denkerin stets mit beiden Beinen auf dem Boden. Auch im Schlusswort ihres Gesprächs mit Günter Gaus kommt Hannah Arendt auf ihren Grundgedanken zurück: Anfangen, aus sich heraus gehen und in der Öffentlichkeit des politischen Raums initiativ werden, selbst wenn man die Folgen seines Handelns nicht absehen kann:

    " Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. Das gilt für alles Handeln. Einfach ganz konkret, weil man es nicht wissen kann. Das ist ein Wagnis. Und nun würde ich sagen abschließend, dass dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen. Das heißt, in irgendeinem schwer zu fassenden, aber grundsätzlichen Vertrauen in das Menschliche aller Menschen. Anders könnte man es nicht. "