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Extrem hoch zwei, hoch drei, hoch vier

Das IOC bedient sich bei den X-Games, um ein junges Publikum an die Olympischen Spiele zu binden. Die Veranstalter vom amerikanischen Fernsehsender ESPN haben nichts dagegen, sondern expandieren in alle Himmelsrichtungen. Im Juni ist in München Station. Am gleichen Ort, an dem vor 41 Jahren die Olympischen Spiele stattfanden.

Von Jürgen Kalwa | 20.05.2013
    Das Video existiert seit Dezember, als die Veranstalter ihren Terminplan für 2013 bekanntgaben. Es beginnt mit Schwenks über die Landschaft und mit einem Musikteppich, der so dämmrig-düster daher kommt wie die Bilder. Ehe es dann so richtig kracht. Die Ankündigung für ein Spektakel, das Ende Juni erstmals in Deutschland stattfindet.

    Der Olympiapark von München mit dem Zeltdächern aus Acryl – ein moderner Dornröschen-Sarg – er soll aufgeschreckt werden. "The Games must go on”, hatte Avery Brundage an dieser Stelle 1992 gesagt. Und nun tun sie es. Wenn es auch andere Spiele sind, als die der damalige IOC-Präsident sich ausmalen konnte. Ein Mann, der noch Baron de Coubertin gekannt hatte. Es sind die X Games.

    ""This thing is a beautiful monster. And I can guarantee you, friends at home, you will see nothing that resembles anything like this at the Olympics.”"

    In der Mathemathik steht der Buchstabe X für die unbekannte Größe. Hier steht er für eine große Unbekannte: Die Zukunft der gesamten Idee von Sport. Denn was junge amerikanische Skateboarder und Snowboarder kultiviert haben – waghalsige sogenannte Tricks und der damit einhergehende Nervenkitzel sind eingeflossen in das Lebensgefühl einer jungen Generation. Gefagt sind in diesem Milieu der richtige Spruch, die richtigen Klamotten und die richtigen Tätowierungen.

    Das Ganze passt hervorragend in die neoliberal geprägte Zeit. In der Risiko alles ist und der Mut, die eigene Angst zu überwinden, unbezahlbar. Und in der der Tod oft nur eine Sensenlänge weit weg ist.

    Wie bei den X Games 2007 in Los Angeles, als der australische Skateboarder Jake Brown das Gleichgewicht verlor und aus 20 Metern Höhe im freien Fall auf die Planken krachte. Die Wucht war so groß, dass ihm die Schuhe davonflogen.

    ""Oh, oh, oh my god, oh, shit. Oh, man that was the heaviest slam we’ve ever seen.”"

    Brown überlebte – mit einem gebrochenen Handgelenk, Lungen- und Leberquetschungen und einer Nackenverletzung. Einer wie er füttert die Mythologie der X Games und die ihrer verwegensten Stars – seien es Tony Hawk oder Shaun White oder Travis Pastramas. Männer, die einfach unkaputtbar scheinen. Und die enorm reich sind. Durch Videospiele, Filmauftritte, Werbeverträge läppern sich Millionen zusammen. Auch die besten Frauen verdienen. Und zwar mehrere hundertausend Dollar pro Jahr.

    Sie alle verdanken einen erheblichen Teil ihres Erfolges einem einzigen Mann. Er heißt Ron Semiao, war in den neunziger Jahren Producer beim Sportfernsehsender ESPN, wo es ihm gelang, seine Chefs davon zu überzeugen, mit dem Action-Sport ein neues Programmformat zu entwickeln, das sich konsequent an ein junges Publikum richtete.

    ""ESPN hat damals gerne etwas riskiert. Wir waren eine kleinere Firma und aggressiver. Man sagte: Lass es uns versuchen. Wenn es nicht funktioniert, dann eben nicht. Der Präsident von ESPN hat sich dahinter gestellt. Seine Meinung war die einzige, die wirklich zählte.”"

    Und so wurde 1995 die erste Auflage produziert. Damals noch unter dem Titel "Extreme Games”. Mit Fallschirmspringern und Asphaltrodlern und Bungee-Springen, was allesamt schon bald wieder aus dem Programm gestrichen wurde. Herumgedoktert wurde auch am Namen. Als man 1997 zum ersten Mal in den Schnee ging, stand das Kürzel allerdings fest. "X Games”. Der Name wurde zu einer richtigen Marke.

    Der Erfolg machte die Verantwortlichen im Internationalen Olympischen Komitee neugierig. Sie adoptierten für die Spiele von 1998 in Nagano die Snowboarder. Aber dabei blieb es nicht.

    ""Bei den Spielen 2014 wird es, glaube ich, 12 Disziplinen geben, die ihren Urprung bei den Winter X Games haben. Es werden ständig mehr. Warum auch nicht? Es macht Spaß, die sich anzuschauen. Die Sportler – aus vielen Ländern – sind großartig. All das hilft auch den Winter X Games.”"

    Nicht immer half dieser Trend den Sportlern. Nicola Thost, die 1998 in Nagano die Goldmedaille in der Halfpipe gewann, erinnert sich an die Spannungen im Lager der der Snowboarder vor den Spielen damals:

    ""So musste man sich entscheiden – das ist wie wenn sich die Eltern trennen und man sagt: Soll man zur Mutter oder zum Vater ziehen. Da war die eine Gruppe, die gesagt haben: Okay, wir nehmen starten bei der FIS. Und natürlich gab’s als Ikone den Terje Håkinson, der gesagt hat: Ich werde dort nicht starten. Das war für mich dann mit dem Sieg keine leichte Situation. Ich war 21, hatte noch überhaupt keinerlei Medienerfahrung, weil Snowboarden eigentlich unter Ausschluss der Medienöffentlichkeit stattgefunden hat. Man stand ein bisschen da wie ein Verräter, irgendwie.”"

    Die X Games sind im amerikanischen Fernsehgeschäft, wenn man nur auf die Einschaltquoten schaut, kein riesiger Renner. Pro Übertragung kommt man seit Jahren auf rund eine Million Zuschauer – eine unsichtbare Schallmauer. Weshalb die Ausdehnung auf andere Kontinente konsequent ist. Genauso wie ein ständiges Verfeinern des Programms. Um nicht die Rolle des Trendsetters verlieren.

    ""Es gibt immer wieder Innovationen. Da muss man reagieren. Wie damals als Skateboarder die Mega-Ramp entworfen haben. So etwas nehmen wir mit hinein. Aber wir ändern nicht die komplette Richtung.”"