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Fälscher der Wirklichkeit

Der englische Schriftsteller William Boyd hatte seine größten Erfolge mit erfundenen Geschichten: Erst schrieb er eine Autobiographie über einen Regisseur, den es nie gab. Dann veröffentlichte er ein Buch über einen fiktiven Maler. Jetzt erfand er seinen eigenen Autor.

Von Johannes Kaiser | 31.08.2005
    Madrid, 5. April 1937. Der britische Schriftsteller Logan Mountstuart besucht als akkreditierter Berichterstatter die republikanische Front, darf mit einem Maschinengewehr auf die Franquisten schießen, kommt dabei selbst unter Beschuss:

    "Alles warf sich augenblicklich zu Boden und suchte Deckung hinter der Außenwand. Ich hechtete zur Seite, als die Sandsäcke vor mir zu explodieren schienen. Der Mann mit dem Patronengurt schrie auf, als ein Geschoß den Gurt traf und ihm aus der Hand riß. Blut tropfte von seiner Hand auf meine Jacke. Als der Beschuß etwas nachließ, kroch ich mit dem Hauptmann zur Tür. Meine Kehle war eingetrocknet, ich zitterte am ganzen Leibe. "Hauen Sie ab", sagte der Hauptmann grob, als wäre das alles meine Schuld gewesen.

    Ich schreibe dies in meinem Zimmer, und mir wird klar, daß ich keinen Kriegsbericht mehr abschicken werde. Ich muß schleunigst nach Hause. So nahe wie vorhin war ich dem Tod noch nie, und das versetzt mich in Schrecken. Fahr heim du Idiot, und bring dein Leben in Ordnung."

    Diese Zeilen finden sich in dem Tagebuch des 1906 in Uruguay geborenen, 1991 in Frankreich verstorbenen Schriftsteller Logan Mountstuart. Sie haben noch nie von ihm gehört? Da stehen Sie nicht allein da. Seine größten literarischen Triumphe feierte er in Großbritannien in den 20er Jahren. Viele Autoren, die damals berühmt und populär waren, sind heute in Vergessenheit geraten. Logan Mountstuart befindet sich also in bester Gesellschaft. Etwas ungewöhnlich ist nur, dass ihn auch die einschlägigen Literaturlexika nicht erwähnen. Aus gutem Grund. Der Mann hat nie existiert, gesteht sein Erfinder, der 53-jährige englische Schriftsteller William Boyd.

    "Mich interessiert diese Generation britischer Schriftsteller, die vor 1914 gelebt hat. Ich habe an der Universität über sie gelehrt und kenne ihr Leben in- und auswendig, Leute wie Graham Greene, Evelyn Waugh, Anthony Powell, Schriftsteller, die weniger bekannt sind wie Henry Green und besonders William Gherardie. Als ich also meinen eigenen Schriftsteller erfand, habe ich ihn zum Teil dieser Generation gemacht. Er ist William Gherardie sehr ähnlich. Der war 1922 einer der berühmtesten Schriftsteller in England. Er hat alle beeinflusst. 1940 veröffentlichte er sein letztes Buch und 1977 starb er. 37 Jahre Schweigen. Eine schreckliche Warnung an alle Schriftsteller: es kann ganz übel ausgehen."

    William Boyd, der 46 Jahre später als sein fiktiver Held geboren worden ist, legt viel Wert darauf, dass alle historischen Details stimmen, wenn sein erfundener Schriftsteller Berühmtheiten des 20. Jahrhunderts trifft wie z.B. Ernest Hemingway im spanischen Bürgerkrieg.

    "Realistisch betrachtet, als junger Schriftsteller in den 20er Jahren, der großen Erfolg hat, musste man einfach berühmte Leute treffen. Er trifft Leute, von denen ich fasziniert bin oder begeistert. Mit den historischen Fakten nehme ich es sehr genau. Wenn er mit Picasso und Simone Signoret zu Mittag isst, dann war sie damals auch wirklich bei Picasso zu Besuch. Es erwähnt nur niemand, dass auch Logan dabei war. Ich habe seinen Weg durch die Geschichte sehr sorgfältig geplant."

    Dass man so leicht auf Logan Mountstuart reinfällt, ist nicht zuletzt ein Ergebnis der literarischen Form, in der uns William Boyd den Mann präsentiert. Wir lesen seine Tagebücher, neun insgesamt, also sehr persönliche Aufzeichnungen, unverfälscht unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse aufgeschrieben. Das weckt die Illusion, man folge dem Schriftsteller auf Schritt und Tritt durch seinen Alltag. Wir sind bei allen Irrtümern, Missverständnissen, Triumphen, Niederlagen dabei.

    So erfahren wir von ihm, wie ihn im 2. Weltkrieg die Royal Navy als Aufpasser für den Herzog von Windsor anheuert und ihn dann als Spion in die Schweiz schickt. Später wird er Kunsthändler in New York, erzählt von seinen Liebesaffären und seinem Zusammentreffen mit zahlreichen prominenten Künstlern. Eine Affäre mit einer Minderjährigen zwingt ihn zu überstürzter Flucht. Er findet in Nigeria als drittklassige Lehrkraft Unterschlupf, kehrt als bettelarmer Pensionär nach London zurück, erbt dann ein Haus in Frankreich und beschließt dort auf dem Lande sein Leben, mit sich selbst ausgesöhnt.

    Dass William Boyd wie ein Herausgeber die großen zeitlichen Lücken, die zwischen den einzelnen Büchern klaffen, stichwortartig erklärt, biographische Angaben einstreut, lässt Mountstuart noch realer erscheinen. Zudem ändert sich der Tonfall von Buch zu Buch. Auch das stützt den schönen Schein eines wirklichen Lebens, denn so ergeht es uns allen. Das Leben ändert uns:

    "Wir sind in unserem Leben verschiedene Ichs. Um das zu illustrieren, verändert sich in jedem seiner Tagebücher der Klang der Stimme. Als Schuljunge ist er schlau, angeberisch, großspurig gegenüber sich selbst. Als junger Mann in Oxford wird er zum Intellektuellen. Dann geschieht in seinem Leben eine schreckliche Tragödie und das Tagebuch ist bruchstückhaft und voller Verzweiflung. Am Ende seines Lebens, Mitte achtzig hat er eine Phase der Gelassenheit erreicht und das spiegelt sich im Rhythmus der Sprache wieder, in der Sprachmelodie. Es ist der Versuch, mit Hilfe subtiler Stiländerungen zu zeigen, wie sich ein Mensch im Laufe von achtzig Jahren ändert."

    Die Anregung zu solchem Stimmenspiel bezog William Boyd nicht zuletzt aus seiner eigenen Geschichte:

    "Als ich mit 19 auf die Universität ging, führte ich ein Tagebuch, in dem ich mit absoluter Ehrlichkeit alles, was mir zustieß, aufschrieb, ohne Scham. Als ich mich auf dieses Buch vorbereitete, habe ich es mir noch mal durchgelesen. Ich habe mich selbst nicht mehr wiedererkannt. Wenn Sie mich fragen würden, was waren Sie mit 20 für ein Mensch, würde ich antworten: ich war locker, munter und glücklich. Aber meine Tagebuch beweist, dass ich melancholisch war, gnadenlose Selbstanalyse betrieb, mich ständig selbst beschimpfte: du Dummkopf, du Idiot und Schlimmeres. Ich war damals ein ganz anderer Mensch als der, der ich heute bin. Ich hätte nie geglaubt, dass ich diese Charakterzüge hatte, aber ich habe es aufgeschrieben. Da steht es schwarz auf weiß."

    William Boyd hat schon immer eine besondere Faszination für das Fiktiv-Faktische gehabt, also jene nur schwer durchschaubare Mischung aus Fakten und Vorgetäuschtem. Bereits frühzeitig erfand er Geschichten um den Philosophen Ludwig Wittgenstein oder den Komponisten Brahms. Aber das waren nur Fingerübungen. Zum echten Fälscher der Wirklichkeit wurde William Boyd mit seinem 1987 erschienenen Roman "The new confessions" - "Die neuen Bekenntnisse":

    "Da bin ich zum großen Projekt aufgebrochen. Ich habe eine falsche Autobiographie geschrieben. Es ist die Geschichte eines Regisseurs, der 1899 geboren wird und dessen Leben gewissermaßen mit dem Aufstieg des Films als Kunstform korrespondiert. In einer der ersten Besprechungen in England schrieb ein Kritiker, dass er im Buch nach Fotos gesucht habe, weil alles so echt schien. Ich dachte da bei mir: Ha, den Trick hast du ausgelassen. So habe ich dann ein kleines zweites Buch über einen ausgedachten amerikanischen Malers namens Nat Tate geschrieben: eine kleine Künstler-Monographie, reich illustriert mit Fotos von Leuten wie Picasso oder George Braque, aber eben auch mit Fotos, die ich in Trödlerläden entdeckt hatte und bei denen ich keine Ahnung habe, wen sie abbilden. Aber ich habe sie mit aufgenommen, sogar mit Bildunterschrift und ihnen einen Namen gegeben. Es war ein Experiment, aber es funktionierte ziemlich gut: es gab Leute, die glaubten wirklich, dass Nat Tate existiert habe, wussten, wer er war und hatten bereits von ihm gehört. Und der letzte Schritt in dieser Richtung, der letzte Teil des Triptychons, ist jetzt mein jüngster Roman "Eines Menschen Herz", das falsche Tagebuch."

    Es ist nicht zuletzt dem trockenen Stil zu verdanken, dass man den absurd-skurrilen Erlebnissen Mountstuarts kopfschüttelnd amüsiert folgt. William Boyd hat eine Vorliebe für das Tragikomische, wie es sich aus dem menschlichen Streben nach Glück ergibt:

    "Ich sehe mich als tragikomischen Schriftsteller. Man kann extrem ernsthaft und extrem absurd sein. Für das Schreiben ist das eine wunderbare Form und sie passt zu meinem Temperament und meiner Persönlichkeit. Es stimmt schon, dass das Glück weiß schreibt, aber ich würde meinen, die Suche nach Glück ist ein literarisches Thema, denn wir alle wollen glücklich sein und wir werden doch alle eines Tages sterben. Jeder sucht also das Glück auf seine Art und Weise und oftmals misslingt es uns und das bringt Schwierigkeiten mit sich."

    Wie fragil Glück sein kann, von welchen Zufällen das Leben abhängt - diese Erfahrung hat der Schriftsteller aus Afrika mitgebracht. Als 18-Jähriger erlebte er den Bürgerkrieg in Nigeria mit ebenso wie sein jüngster Romanheld Logan Mountstuart.

    "Ich gehe in einigen meiner Romane auf diesen Bürgerkrieg ein, weil er eine so grundlegende Wirkung auf mich hatte. Die Atmosphäre war surreal und potentiell gefährlich. Ich erinnere mich daran, wie mein Vater und ich an einer Straßensperre von vier, fünf Soldaten angehalten wurden. Mein Vater hatte nicht rasch genug abgebremst. Sie waren sauer, richteten die Waffen auf uns, schrien uns an: "Raus aus dem Wagen". Mein Vater blieb ganz ruhig. Ich erinnere mich, dass ich dachte: "die Jungs sind völlig außer Kontrolle. Wir sind mitten im Busch. Niemand sonst herum, keine anderen Autos".

    Ich spürte es ganz deutlich: Das kann ganz schrecklich aus dem Ruder laufen. Mein Vater beruhigte sie, brachte sie sogar zum Lachen. Wir konnten ins Auto einsteigen und weiterfahren. Wenn ich daran zurückdenke, dann sehe ich, wie fragil die normalen Umstände des Lebens sein können. Unser Glücklichsein hängt von wenigen Dingen ab, die leicht umgeworfen werden können. Ich kann hier aus dem Raum spazieren und draußen von einem Bus überfahren werden. Das wäre jammerschade. Aber das hat meine Lebensphilosophie geformt. Sei vorsichtig. Auch wenn die Oberfläche deines Lebens sicher und stabil scheint, tatsächlich besteht sie nur aus dünnem Eis und das kann ganz leicht brechen."

    William Boyd: Eines Menschen Herz.
    Hanser Verlag