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Fälschung und Imitation

Literatur ist bekanntlich die kunstvollste Form des Lügens. In seinem aktuellen Roman präsentiert Dieter Kühn echte historische Figuren und fabuliert glaubhafte Geschichten um sie herum. Die Grenze von Wahrheit und Fälschung wird dadurch aufgehoben.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 07.06.2012
    Wer kennt nicht aus eigenem Umgang den Typus des Erzählers? Ein Mensch, der voller Geschichten steckt und von einem überwältigenden Mitteilungsdrang beseelt ist. Seine Geschichten als solche sind meist seltsam undurchdringlich, bodenlos und alogisch, aber die umschaffende Darstellungsfreude des Erzählers macht sie zu jedem Kontext anschlussfähig. Was seinen Geschichten an Plausibilität fehlt, ersetzt er durch Beredsamkeit, ja er sieht in der Bearbeitung des Unwahrscheinlichen eine sportliche Herausforderung für seine Sprachkraft. Deshalb liebt er abseitige Sujets besonders; selbst bei halbwegs gängigen Themen erzeugt er diese Abseitigkeit, indem er Disparates mit Inkommensurablem arrangiert.

    Der Sound von Dieter Kühns Büchern verrät, dass der Autor zu diesem Typus zählt. Er liebt das Strömende, das Plaudern, die Ausuferung, er beherrscht die Kunst der Digression, die Vom-Hölzchen-aufs-Stöckchen-Technik. Aber er scheint seiner Fabulier- und Schwadronierlust zugleich ein wenig zu misstrauen. Nicht nur versteckt er sich mit Vorliebe hinter historischen Figuren, er überdacht und unterfüttert sein Erzählen auch mit allerlei Kommentaren und Meta-Kommentaren.

    Besonders toll treibt er es in diesem Buch, einer Sammlung von sechs Texten, von denen zwei inhaltlich verbunden sind, wenngleich in der Abfolge durch einen anderen Text getrennt. Gemeinsam ist allen Stücken das virtuose Spielen mit Realien: Sie haben alle einen historisch verbürgten Kern, aus dem Kühn die Triebe seiner Fantasie so sprießen lässt, dass man ihm nur durch wissenschaftliche Detektivarbeit auf die Schliche kommt. Es handelt sich um erzählerische Spiegelkabinette: Man kann, wenn man solche Verwirrspiele liebt, große Freude daran haben, man kann das Feuerwerk von Insiderjokes aber auch einfach nur anstrengend finden.

    Ich, Johann Peter Lyser, 67, wohnhaft in Altona…

    So stellt sich der Autor des ersten Textes gleich in den ersten Zeilen vor, ein Mann, der im 19. Jahrhundert gelebt haben soll und offenbar schon den von amerikanischen Nachrichtenmagazinen des 20. Jahrhunderts und im Deutschen vom "Spiegel" eingeführten Usus kennt, das Alter einer Person ihrem Namen ohne weitere Erklärung in Kommata nachzustellen.

    Dieser Johann Peter Lyser wendet sich im Jahr 1870 mit seinem Schreiben an die Deutsche Schillerstiftung, um finanzielle Unterstützung zu erbitten.

    Verzeihen Sie also die inhaltliche, wenn auch nicht wörtliche Wiederholung: Ich schreibe diesen Brief in äußerster Not. Was aber nicht sedierend, vielmehr stimulierend auf mich einwirkt, so dass ich, ungeachtet aller Malaisen und Molesten, diesen Schriftsatz con fuoco aufsetze. Das in der eher verzweifelten als verwegenen Hoffnung, meine Schreibperspektive möge zu Ihrer Sichtweise werden. Die Gewährung einer Ehrengabe der Schillerstiftung wäre nicht nur Rettung in höchster (oder aus tiefster) Not, sie wäre auch eine, mit Verlaub, längst überfällige Anerkennung meines literarischen, musikalischen sowie malerischen Schaffens.

    Ein Multitalent scheint dieser Lyser also zu sein, in jeder Kunstform firm und, wie sich im Verlauf seiner Selbstdarstellung zeigt, mit fast jedem Promi seiner Epoche bekannt. Goethe, Beethoven, E.T.A Hoffmann, Napoleon, Robert Schumann und Mozarts Sohn Franz Xaver ist er angeblich begegnet – ein hübscher Einfall des Schriftstellers Dieter Kühn, der bloß dadurch übertroffen wird, dass es Lyser wirklich gab.

    Anmerkung des Herausgebers: Offensichtlich setzt Lyser voraus, dass die Adressaten wissen, wer sich hier hilfesuchend an sie wendet. Um dem Verdacht entgegenzuwirken, er sei eine fiktive Figur, kurz einige Angaben zur Biographie des Antragstellers.

    Solche Anmerkungen sind in sämtliche Geschichten dieses Buches eingestreut; der fiktive Herausgeber ist eine von Kühns liebsten Sockenpuppen, mit denen er seine narrativen Verfremdungseffekte erzielt. Die Herausgeberperspektive ist gewissermaßen die höchste Spiegelungsebene in einem von verdeckten Bezügen und offenen Verweisen strotzenden Text; außerdem sind solche Anmerkungseinschübe sicherlich praktisch, wenn man sich mal beim Schreiben vergaloppiert, womöglich ein bisschen den Faden verloren hat. Und schließlich ist die so erzeugte Vielstimmigkeit auch ganz auf der Höhe postmoderner Literaturtheorie: Der Autor dekonstruiert sich selbst - aber natürlich nur zum Schein.

    Zurück zu der unwahrscheinlichen Lebensgeschichte des Johann Peter Lyser, geborener Burmeister, den Kühn behaupten lässt, er habe 1830 einen Roman mit dem Titel "Benjamin" veröffentlicht und dem Untertitel "Aus den Blättern eines tauben Malers", wo doch der wirkliche Untertitel "Aus der Mappe eines tauben Malers" lautet. Kleinigkeiten für Möchtegern-Kriminalisten unter den Philologen! Dieser Lyser war wahrhaftig so geschwätzig, wie Kühn ihn darstellt; wir wissen es von seinen Künstlerporträts, die er ständig in irgendwelchen Zeitschriften veröffentlichte, und aus seinen übrigen Schriften, in denen sich immer Erfahrenes und Erfundenes vermischten, und die nicht von ungefähr der Märchenwelt besonders zugetan waren: da gibt es zum Beispiel den Band "Abendländische Tausend und eine Nacht" oder das Werk "Der fahrende Münchhausen".

    Lyser war ein Kulturbetriebsgroupie "avant la lettre", ein Kulturjournalist, der sich nach der Art von Woody Allens Filmfigur Leonard Zelig ständig wechselnden Bekanntschaften andiente und anverwandelte und der sich in Dieter Kühns Erzählung sogar damit brüstet, einem Beethoven oder einem Goethe bei seinen Besuchen brauchbare Einfälle geliefert zu haben.

    Ich wagte einen weiteren Vorschlag, Beethoven griff den fast begierig auf, setzte ihn sogleich um in eine Notenfolge, und auch hier wieder zeigte sich die Pranke des Löwen. Dies schrieb ich sinngemäß auf einen der Zettel, und Beethoven, mit Freudentränen in den Augenwinkeln, umarmte mich con brio, con fuoco, gab mir einen Kuss auf die Stirn, sprach aus, was ich nicht hören konnte, doch Wort für Wort verstand.

    Zwar stammt eines der im 19. Jahrhundert beliebtesten und meistverbreiteten Beethoven-Bildnisse von Lyser, aber es ist höchst zweifelhaft, ob Lyser den Meister in Wien überhaupt getroffen hat, mit oder ohne 'fuoco'. Auch die Begegnung mit Goethe, von der Lyser selbst berichtete, hat nicht stattgefunden – und schon gar nicht in der drolligen Saufszenerie, die Kühn dafür imaginiert:

    Goethe goss sich am Fenster ein, ich an der Kommode, wir tranken langsamen Schrittes die Gläser leer beim Durchqueren des Salons, ich füllte das Glas nach an der Fensterbank, und Goethe füllte sein Glas nach an der Kommode. Wir setzten uns langsam wieder in Bewegung, schritten mit stummem Gruß aneinander vorbei, die halbleeren Gläser hebend, ich füllte mein Glas wieder an der Fensterbank, Goethe an der Kommode, er goss ein, ich goss ein – und er, und ich, und er, und ich? Es war bald ein Zustand erreicht, wo nicht mehr gesagt, geschrieben werden kann: Er trank, ich trank, vielmehr: Es wurde ganz einfach getrunken, und falls man das verteilen will auf Ich und Er, so geht das nicht mehr, es kann nur gesagt, geschrieben werden: Goss ein, goss ein, trank aus, trank aus. Oder, noch treffender in der Wechselwirkung: Goss, goss, ging, ging, trank, trank.

    In solchen Passagen erreicht Kühn seine artistische Hochform: sprachspielerisch erzeugte Komik formt passgenau eine absurde Situation nach, die Gedanken tanzen mit der Grammatik, und die Syntax macht Musik. So an etlichen Stellen dieses Buchs, etwa in einer ethnolinguistischen Abhandlung über das Denken der grönländischen Eskimos oder, um auf Lyser zurückzukommen, in der Erzählung eines außerehelichen Fremdgangs, für die Kühn sicherlich tief in sich hineingehorcht hat.

    Wenn es beabsichtigt war, dass dem Leser schon nach den ersten 60 Seiten, das heißt nach der ersten der sechs Geschichten dieses Buchs, der Kopf schwirrt von unaufgelösten Falschinformationen und misstrauisch machenden Textfragmenten, dann kann man das Unterfangen getrost als gelungen bezeichnen.

    Die zweite Geschichte handelt von Charles Darwin, beziehungsweise von Robert FitzRoy, dem Kapitän des Forschungsschiffs, mit dem der junge Darwin im Dezember 1831 zu jener Weltumsegelung aufbrach, während der er seine Abstammungslehre entwickelte. Wieder präsentiert Kühn einen Helden aus der C-Liga der Weltgeschichte, wieder erlaubt ihm der exotische Rahmen seinem Vokabelfetischismus zu frönen, indem er sämtliche Tier- und Pflanzennamen aufführt, die einem in der Südsee unterkommen. Und wieder geht es um das eigentliche Thema des ganzen Buchs, nämlich Fälschung. Doch während in dem Lyser-Stück die Kunst der Fälschung, der Imitation im Vordergrund stand, handelt es sich nun sozusagen um die Natur von Fälschung und Imitation. Denn Darwin und FitzRoy haben in Flora und Fauna ungeheuer raffinierte Formen der Mimikry gesehen. Wie ist es möglich, so fragen sie sich, dass beispielsweise ein Insekt die Erscheinung eines anderen Lebewesens so perfekt nachahmt, als könne es seinen eigenen Leib vergleichend betrachten und nach Belieben umgestalten?

    Kann ein Lebewesen sich selber fälschen? Eine Fälschung setzt genaue Beobachtung voraus, ständigen Vergleich, penibelste Bestimmung von Formen, sorgfältigste Auswahl von Farben - schließlich wird eine parallele Wirklichkeit geschaffen. Eine Fälschung setzt somit einen Fälscher voraus, und das müsste im Reich der Natur ein Wesen von hohem, höchstem, allerhöchstem Rang sein. An welchem Punkt, vor welchem Wort stehn wir da, Robert? Bei Gott, ich wag es kaum zu sagen!

    Nicht umsonst hatte Darwin auch Theologie studiert. Es ist anzunehmen, dass er sich mit dem frommen Seefahrer FitzRoy über die Unwahrscheinlichkeit der unterwegs angetroffenen Naturbizarrerien verständigte. Doch Dieter Kühn hat hier offenbar selbst etwas Weltanschauliches mitzuteilen, immerhin spricht er wie der Deus ex Machina im alten Theater mit seiner Herausgeberstimme dazwischen und bekundet unter Berufung auf Vladimir Nabokov seine Zweifel, dass sich die morphologischen Finessen in der Natur durch so etwas wie Darwins natürliche Auslese erklären lassen.

    Der Leser nimmt’s zur Kenntnis und blättert weiter. In der zweiten Hälfte des Buches findet er sich in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts wieder, genauer: in der Nazizeit. Auch hier geht es um Fälschungen, zunächst in einem ganz banalen, kunsthandwerklichen Sinn. Kühn erzählt die Geschichte des holländischen Meisterfälschers Han van Meegeren, der aus Frust über seine mangelnde Anerkennung als Maler anfing, Alte Meister zu imitieren, mit einer technischen Perfektion, auf die sämtliche Sachverständigen seiner Zeit hereinfielen.

    Sehr wählerisch war ich in der Auswahl einer hinreichend getrockneten Holzplatte, trug die dreifache Grundierung auf: Bleiweiß, Umbra, Schwarz. Kopierte mit gesteigerter Konzentration und Intensität mein Arrangement – jedes Detail gewann an innerem Glanz auf dem vorbildlich gebügelten Tischtuch mit Parallelfalten. Ich beschleunigte das Abtrocknen der Farben im Backofen. Verpackte mein Werk, brach auf zu einem Treffen in Antwerpen, legte es dem vielreisenden Exportchef vor. Erneut Begeisterung. Erneut einer seiner lakonischen Impulse: Und wie wird das signiert? Ich gab vor, die Frage nicht zu verstehen. Fragte mich selber: Passt meine Signatur, wie bekannt auf Bildern mit hängenden Exponaten, zu diesem Banketje im Stile eines Pieter Claesz? Kurzum, ich übte am folgenden Tag das Monogramm des alten Meisters ein, das langstielige P mit dem kleinen C am Aufstrich, monogrammierte so eine Messerklinge, verlieh dem Bild die Schlussappretur, wie man in der Textilbranche sagen würde.

    Han van Meegeren heißt hier Norbert Verdonck, statt in den Niederlanden ist er in Belgien gebürtig, und bei Dieter Kühn ist er 19 Jahre jünger als das historische Original. Gleichgeblieben ist jedoch das Zentralelement der Story, nämlich dass ein gefälschtes Bild (bei Kühn ein Pieter Claesz, in Wirklichkeit ein Jan Vermeer) für einen enormen Preis an Hermann Göring verkauft wurde. Diese Begebenheit ist schon als solche erzählenswert. Warum aber transponiert Kühn sie in sein Erfindungsreich? Warum verfälscht er sie seinerseits?

    Die erste Antwort hierauf lautet: warum nicht? Literatur ist keiner anderen Instanz verpflichtet als dem Willen des Autors. Aber damit ist jeder kritische Diskurs dann schon zu Ende. Es gibt noch eine zweite Antwort, die vielleicht weiter führt. Kühn erzählt die ganze Geschichte aus der autobiographischen Perspektive eines Rechtfertigungsschreibens der nach dem Krieg vor Gericht angeklagten Hauptperson. In der Tat gestand van Meegeren seine Fälschungen ein, weil er der Kollaboration mit dem Feind bezichtigt wurde. Man warf ihm vor, einen Vermeer, also ein Stück niederländischen Nationalerbes an Göring geliefert zu haben. Und man wollte zunächst gar nicht glauben, dass der vermeintliche Vermeer von ihm selber stammte, bis er im Gefängnis den Beweis antrat und noch einen Vermeer produzierte.

    Kühn möchte diesem genialen Fälscher allerdings ein Argument überstülpen, das auf die historische Figur van Meegeren nicht passt. Deshalb verschafft er sich durch literarische Verkleidungsmaßnahmen die notwendige Freiheit. Das Argument geht so: Der Betrug am kunstsinnigen Reichsmarschall war eigentlich ein Akt der Sabotage. Der Kollaborateur posiert als Widerständler. "Ich habe Göring schwer geschädigt", lautet der Titel der Erzählung.

    Eine der Sollbruchstellen des NS-Systems war das Defizit an ausländischen Valuta.
    Ich gebe wieder, was mir Albert berichtete: Hatten 1932 die deutschen Devisenreserven noch, umgerechnet, im Bereich einer Milliarde Reichsmark gelegen, so waren davon Mitte 1934 bloß noch 78 Millionen übrig, und dieser Restbestand schrumpfte. Januar 39 meldete die Reichsbank, freilich nur intern: Die Gold- und Devisenreserven sind erschöpft. Und damit noch einmal, weil für mich von entscheidender Bedeutung: Nur über Devisen konnten für die Rüstungsindustrie unabdingbar notwendige Rohstoffe, konnten für die Wehrmacht dringend benötigte Produkte bezogen werden: Wolfram aus Spanien, Stahl und Kugellager aus Schweden, Waffen und LKWs aus der Schweiz. Gezahlt werden musste in Dollar oder Schweizer Franken. Indem wir die Preise meiner Valuta-Gemälde möglichst hoch ansetzten, trugen wir bei zur weiteren Reduzierung dieser Reserven. ergo zur negativen Zahlungsbilanz, ergo zum Nettodevisendefizit, sprich: zum Devisenmangel.


    Allerdings war das Kürzel CHF für Schweizer Franken zu der Zeit, als Kühn seinen Helden dieses schreiben lässt, noch unbekannt. Das sei nur erwähnt,

    …um der Wahrheit die Ehre zu geben…

    was die wohl dreisteste Formulierung in diesem fintenreichen Buch ist.

    Die letzte Geschichte spielt ebenfalls im Dritten Reich, beziehungsweise kurz danach, und sie basiert wiederum auf historischen Tatsachen, die der amerikanische Historiker Eric A. Johnson in einer Studie über den Nazi-Terror der Krefelder Gestapo bekannt gemacht hat. Es geht um die Verhaftung und Deportation der letzten in dem zwölf Kilometer von Krefeld entfernten Ort Anrath verbliebenen Jüdin. Diese sogenannte Maßnahme wurde durchgeführt im Herbst 1944, als der Artilleriedonner der von Aachen her vorrückenden Amerikaner bei Westwind bereits bis Krefeld zu hören war. Sie wurde durchgeführt von zwei deutschen Beamten, einem gewöhnlichen Schutzpolizisten sowie dem Judenreferatsleiter der Gestapo, die sich mangels Dienstwagen oder Kraftrad per Fahrrad aufmachten, um die schon über 60-jährige Marga Epstein abzuholen.

    Kühn gestaltet diese gespenstische, groteske und grässliche Szene mit dem sprachlichen Äquivalent einer Filmkamera, er erzählt in Zeitlupe und Großaufnahme:

    Die weibliche Person saß, in Bewegungsrichtung meist nach links eingeschwenkt, die Beine parallel gehalten, auf dem sogenannten Oberrohr des Herrenrades, hielt sich an der Lenkstange fest. Der Fahrer des doppelt belasteten Drahtesels war gezwungen, mit der rechten Hand unter ihrem rechten Arm durchzugreifen, um die Lenkstange zu packen. Mit der Brust berührte er gewöhnlich die ihm zugedrehte linke Schulter der weiblichen Person. Mit dem rechten Knie stieß er, bei jeder Drehbewegung des Pedals, unausweichlich an das Gesäß, während er mit dem linken Knie von oben herab zwangsläufig am linken Oberschenkel der weiblichen Person herabstreifte. Über die linke Schulter hinweg und am Kopf vorbei hatte er freie Sicht.

    Im Zuge der sogenannten Entnazifizierung nach dem Krieg mussten sich sowohl der an der Aktion beteiligte Schutzpolizist (in Kühns Erzählung Reimann genannt) als auch der Gestapo-Mann Hübner vor Spruchkammern verantworten. Für die Figur des Hübner gibt es ein reales Modell namens Schulenburg: der Mann lebte, eng verbunden mit der Evangelischen Kirchengemeinde, später unbehelligt in Krefeld. Bei Kühn geht aber wieder um das Fälschungs-Thema; er lässt die beiden sich gegenseitig belasten. Jeder will im nachhinein den Abtransport der Jüdin eigentlich vereitelt haben. So behauptet Hübner:

    Kurzum, Reimann hat jeden potentiellen Fluchtversuch verhindert, obwohl ihm klar gewesen sein dürfte, wozu der von mir angesetzte, auffällig lange Vorlauf letztlich intendiert war.

    Aber Vorlauf hin oder her, Reimann ist extra früh losgeradelt, um Hübner die Möglichkeit zu überlassen, gar nicht rechtzeitig bei der Wohnung der Epstein zu erscheinen.

    Ich konnte und musste davon ausgehen, dass Hübner die Abholung der Epstein per Fahrrad schlichtweg zu viel sein würde. Da sich die Aufgabe nicht auf einen der ungefähr gleichaltrigen Mitarbeiter der Dienststelle delegieren ließ, hätte Hübner leicht ein Alibi dafür finden können, die Fahrt von Krefeld nach Anrath zu unterlassen.

    Diese Stellungnahmen sind von Dieter Kühn erfunden. Doch nicht er tritt als Erzähler auf, sondern er schaltet noch einen Umlenkspiegel dazwischen. Der ganze Text kommt in der Verkleidung eines Filmexposés daher, verfasst von einem früheren Nazi-Propagandaautor, der sich unter den veränderten politischen Vorzeichen mit nazikritischem Aufklärungsstoff an einen befreundeten Regisseur wendet.

    Damit die Deportation auf dem Fahrrad filmisch nicht allzu monoton verläuft: Wechsel der Bewegungsweise. Ich übernehme, was ich in der letzten Kriegsphase selbst gesehen habe, nach der Rückkehr von Berlin ins Rheinland.

    Literatur ist bekanntlich die kunstvollste Form des Lügens. Die Kunst besteht darin, die Wirklichkeit zu überholen. Schon Nietzsche wusste, dass die Lüge der Wahrheit intellektuell überlegen ist, weil sie gewissermaßen doppelspurig läuft. Um gut zu lügen, muss man die Wahrheit genau kennen. Mit seinem Lügen-Exerzitium erweckt Dieter Kühn daher den Eindruck, selber ein Meisterfälscher zu sein. Der Leser soll wohl vor dem dargebotenen Raffinement einen Heidenrespekt bekommen. Dabei stören aber gewisse Flüchtigkeiten, die ein gründlicheres Lektorat vielleicht hätte beseitigen können. Etwa dass in mehreren Texten ganz unterschiedliche Figuren den Ausdruck "in keinster Weise" – anscheinend eine von Kühns Lieblingswendungen – benutzen. Da fällt das Sprach-Soufflé dann leider zusammen.

    Literaturhinweis:
    Dieter Kühn: Den Musil spreng ich in die Luft, S. Fischer, 300 S., 19,95 Euro