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Fakir-Gene kennen keinen Schmerz

Genetik. - Es gibt Menschen, die verspüren schon Schmerzen, wenn sie nur an den Zahnarzt denken. Andere wiederum verzichten selbst dann auf eine schmerzlindernde Spritze, wenn die Karies mit dem Bohrer entfernt werden muss. Keine Frage: Menschen nehmen Schmerzen sehr unterschiedlich wahr. Zum Beispiel Fakire, die über glühende Kohlen gehen können, ohne auch nur die Miene zu verziehen. Humangenetiker kennen den Grund. Es sind letztlich Gene, die unser Schmerzempfinden codieren.

Von Michael Engel |
    Fakire gelten als Asketen, die ihre bizarren Künste vor staunendem Publikum präsentieren: Besonders bekannt ist das sogenannte "Fakirbett", eine Liegestatt aus vielen Zimmermannsnägeln. Viele dieser Schmerzkünstler sind Mitglieder religiöser Orden. Durch jahrelange Übung haben sie einen psychischen wie physischen Zustand erreicht, der die Qualen erträglich macht. Seit neuestem weiß man: Auch ein Gendefekt kann Fakire unempfindlich gegen Schmerzen machen.

    "Wir wissen, dass es auch ein Syndrom gibt, wo man keine Schmerzen fühlt. Aus Pakistan. Da sind Fakire, die auf der heißen Kohle laufen können oder die bei Kreuzigungen mitmachen und überhaupt kein Schmerz fühlen. Die sind ganz gesund - aber kein Schmerz. Und Forscher aus London haben gefunden, dass das SCN9a-Gen bei diesen Patienten nicht funktioniert."

    "SCN9a" ist ein Gen, das für den Aufbau von bestimmten "Ionenkanälen" verantwortlich ist, sagt Professor Joost Drenth von der Universität Nijmegen. Diese Ionenkanäle liegen in den Zellwänden von Nervenfasern und sorgen dafür, dass der Schmerz weiter geleitet wird. Fehlen die Kanäle, fehlen auch die Schmerzen, so der verblüffende Befund bei der Fakir-Familie aus Pakistan. Es geht aber auch umgekehrt: Mutationen beim SCN9a-Gen können zu unerträglichen Schmerzen führen. Immer wieder behandelt Joost Drenth im Medical Centre von Nijmegen solche Patienten. Bei den Betroffenen sind die Ionenkanäle zwar noch vorhanden und funktionsfähig, doch sie arbeiten falsch – wie bei Linda. Bei ihr waren die Nerven völlig überreizt. Drenth:

    "Die Füße waren rot und geschwollen. Und später, als sie 17 Jahre alt war, hatte sie mit den Füßen im Eis geschlafen. Das war furchtbar."

    Als Linda im Jahre 2002 in die Klinik kam, ahnte der Mediziner noch nichts von einer genetisch bedingten Krankheit. Linda hatte höllische Schmerzen, aber nur im Bereich der Füße. Hellhörig wurde Drenth durch ihre Familiengeschichte. Auch der Mutter war es so ergangen. Das nährte den Verdacht einer erblich bedingten Erkrankung. Fündig wurde der Wissenschaftler bei dem schon bekannten Gen mit der Bezeichnung "SCN9a". Die Mutation, die eine pakistanische Familie schmerzlos machte, erzeugte bei Linda das genaue Gegenteil. Drenth:

    "Wenn man das mit einem normalen Ionenkanal vergleicht, ist der mutierte Kanal schneller zu stimulieren. Wir haben gefunden, dass Mutationen bei diesem Gen die Schmerzen schneller feuert, und das ist wahrscheinlich die Ursache für diese Krankheit."

    Schmerzmittel, selbst Morphin-Präparate, zeigten bei Linda keinerlei Wirkung. Von anderen Betroffenen weiß man, dass selbst nach einer Amputation der Schmerz bleibt. Er verlagert sich in den Stumpf. Bis heute ist die Medizin machtlos. Jetzt fahnden Pharmaunternehmen fieberhaft nach einem Schmerzmittel, das an den Ionenkanälen angreift. Würde es gelingen, wäre vermutlich ein universell einsetzbares Analgetikum gefunden, vermutet Professor Joost Drenth: Bei Krebs zum Beispiel. Linda wird davon nicht mehr profitieren. Sie wollte den Schmerz nicht länger ertragen.