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Falsche Chalets

Zum Schluß ist man versucht, das Museum selbst unter die Lupe zu nehmen. Ist der Bruchsteinsockel etwa aufgemalt? Sind die Schlagläden Attrappen? Oder sind die Dachgauben der schönen Villa im Krienser Bellpark am Ende gar Schießscharten? Wer diese Ausstellung besucht, der traut keiner Idylle mehr, jedenfalls nicht in der Schweiz mit ihrer legendären Harmonie von Landschaft und Architektur. Denn gerade da, wo das Panorama besonders idyllisch ist, zum Beispiel in Kriens am Vierwaldstätter See, mit Blick auf den Pilatusberg, inmitten eines wunderbaren alten Parks, da könnte auch alles Täuschung sein.

Von Burhard Müller-Ulrich |
    Das ist die Botschaft, die aus den Bildern des Fotografen Christian Schwager hervorgeht, und das war über Jahre hin seine Arbeitshypothese. Schwager hat nämlich sein Land kreuz und quer bereist, um mit der Kamera einen Mythos zu dokumentieren und zugleich ein großes militärisches Geheimnis zu enthüllen. Es ist das Geheimnis der falschen Chalets.

    Als sich die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs von allen Seiten durch Hitlers Armee bedroht sah, entwickelte General Guisan ein Verteidigungskonzept, das die eidgenössische Mentalität bis auf den heutigen Tag geprägt hat. Dieses Vertrauen in die Wehrhaftigkeit der Schweiz wurde zwar seither oft – und auch von vielen Schweizern – bespöttelt, aber wie effektiv oder wie unnütz die getroffenen Vorkehrungen tatsächlich waren oder sind, wurde zum Glück noch keiner Probe unterworfen. Daher umgibt den ganzen Militärapparat des Landes eine faszinierende Atmosphäre der Virtualität.

    Wenn man von Deutschland kommend an einem kleinen Grenzübergang in die Schweiz fährt, dann kann man ein paar Kilometer weiter noch die über sechzig Jahre alten Panzersperren in der Landschaft sehen: Wie eine endlose Zahnreihe aus Betonklötzen läuft das durch Felder und Wälder, steigt über Hügel, kreuzt Flüsse und Straßen, und wenn man anhält und einmal genau hinschaut, dann sieht man die regelmäßig gereinigten und gewarteten Verankerungen in der Fahrbahn, die zeigen, daß sich die schweizerische Landesverteidigung noch immer auf diese Anlagen stützt. Deswegen darf man sie auch nicht fotografieren.

    Viel weniger offensichtlich als bei diesen an moderne Kunst erinnernden Landschaftsskulpturen ist der militärische Verwendungszweck jener Bauten, die Christian Schwager besucht und fotografiert hat. Es handelt sich um Infanteriebunker, Panzertürme, Festungseingänge und Artilleriewerke, die Anfang der vierziger Jahre sowohl in Grenzregionen als auch in den Alpen als dem von General Guisan geplanten letzten Rückzugsgebiet der Bevölkerung, dem sogenannten Réduit, errichtet wurden. Diese Anlagen waren nicht nur häßlich, sondern auch verräterisch und somit sogar gefährlich – jedenfalls ab dem Zeitpunkt, da sich die Schweiz nach dem Krieg wieder dem Fremdenverkehr öffnete. Deshalb verwendete die Armee enorme Mühe darauf, die Objekte zu tarnen: als Scheunen und Bauernhäuser, Stallungen und Chalets.

    Besonders die Form des Chalets hat es den Militärarchitekten offenbar angetan; mit einer zuweilen belustigenden Liebe zum Detail verwandelten sie Schießanlagen in jene als für die Schweiz so typisch empfundenen Holzhäuser, indem sie eine komplette Bretterkulisse über den jeweiligen Bunker zimmerten. Dabei ist das Chalet selbst überhaupt keine urschweizerische, sondern eine gegen Ende des 19. Jahrhunderts industriell entwickelte Form, die seither selbst zu einer Art Kulissenbau verkommen ist. Für Architekturhistoriker mag eine gewisse Ironie darin liegen, daß sich sozusagen eine Fälschung auf eine andere stützt. Für unprofessionelle Betrachter und unaufmerksame Spaziergänger indes ist überhaupt nicht Auffälliges zu erkennen. Die Attrappen erfüllen ihren Zweck.

    Doch dann plötzlich fällt das Auge auf etwas alarmierend Seltsames, und diese Perspektiven sind es, die Christian Schwager fotografisch festgehalten hat: Glasfenster mit Holzrahmen sind blind auf einer Betonwand angebracht, aus einem Kuhstall ragt ein Geschützrohr, was von fern eine Holztür zu sein schien, entpuppt sich aus der Nähe als bemaltes Metallnetz. Mehr als 100 derartige Objekte hat Schwager schweizweit aufgespürt, lauter Fakes vom Feinsten. Offenbar hat die Armee ihn dabei sogar unterstützt. Was noch vor ein paar Jahren als militärischer Geheimnisverrat geahndet worden wäre, ist jetzt offenbar nicht mehr brisant.

    Doch wo die Grenze der Erlaubten liegt, das ist ein weiteres Geheimnis. Die wirklich modernen Schweizer Bunker, von unterirdischen Krankenhäusern bis zu Schlafsälen und Vorratskammern in vielen Straßentunneln, werden nicht so bald in einer Fotoausstellung zu sehen sein.