Dienstag, 19. März 2024

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Falsche Deutungen der Bibel
"Manche Stellen muss man mit Warnhinweisen kennzeichnen"

Gott hat den Himmel geschaffen, die Juden haben Jesus getötet, Homosexualität erregt göttlichen Zorn - solche Deutungen der Bibel halten sich hartnäckig. Der Theologe Thomas Hieke erklärt in einem neuen Buch, wo die Bibel falsch verstanden wird. "Schlechte Traditionen muss man beenden", sagte er im Dlf.

Thomas Hieke im Gespräch mit Christiane Florin | 21.05.2020
Illustration eines Menschen, der in die leuchtenden Seiten einer geöffneten Bibel eintritt.
Bibelstellen müssen in Kontexte gesetzt und im Abgleich mit anderen Auslegungen interpretiert werden, so der Theologe Thomas Hieke. (imago/Ikon Images/Gary Waters)
Christiane Florin: Die Bibel ist eine Textsammlung, ein Kanon von Schriften, auf den sich kirchliche Entscheider verständigt haben. Die katholische und die evangelische Bibel enthalten unterschiedliche Bücher. Es gibt die Bibel in vielen verschiedenen Übersetzungen ins Deutsche, dazu noch Ausgaben in gerechter, in leichter und in Jugendsprache. DIE Bibel ist eigentlich eine Untertreibung. Es gibt viele Bibeln.
Thomas Hieke, der Gesprächspartner der heutigen Sendung, ist Professor für katholische Theologie an der Universität Mainz. Sein Spezialgebiet ist das Alte Testament. Er hat ein Buch herausgegeben mit dem Titel "Bibel, falsch verstanden." Es ist eine Ansammlung von bewusst einseitigen Deutungen, von ungenauen Übersetzungen und dem hartnäckigen Wunsch, menschliche Diskriminierungsabsicht göttlich begründen zu können. Mit Thomas Hieke habe ich vergangene Woche gesprochen und ich habe ihn zunächst gefragt, was an diesem Buch, das auf so vielen menschlichen Übereinkünften basiert, was also an der Bibel göttlich sein soll.
Thomas Hieke: Die Bibel ist keine göttliche Instruktion wie eine Betriebsanleitung oder eine Software, die wir abarbeiten müssten. Im Zweiten Petrusbrief 1,21 sagt die Bibel selbst, was sie ist: Vom Heiligen Geist getrieben, haben Menschen im Auftrag Gottes geredet. Die Bibel ist also nicht vom Himmel gefallen, sondern sie ist Gottes Wort in Menschenwort. Wie jedes Menschenwort ist auch die Bibel nicht ohne Auslegung, nicht ohne Interpretation zu verstehen. Schon jede Übersetzung ist eine Interpretation. Jedes Lesen, jedes Vorlesen ist schon eine Auslegung. Es ist auch unsinnig zu sagen: Ich nehme die Bibel wörtlich, denn das wäre auch Interpretation und noch dazu eine unangemessene.
Thomas Hieke lehrt katholische Theologie an der Universität Main. Sein Schwerpunkt ist das Alte Testament.
Thomas Hieke lehrt katholische Theologie an der Universität Main. Sein Schwerpunkt ist das Alte Testament. (Universität Mainz)
Ich sehe die Bibel als einen Schatz von Lebenserfahrungen von Menschen, und dieser Schatz, diese Lebenserfahrungen, sind zu Literatur kristallisiert. Wenn wir diese Literatur behutsam lesen, dann werden wir von diesen Lebens- und Gotteserfahrungen profitieren. Ich habe so einen kleinen Universalschlüssel für die Auslegung der Bibel, und er steht in Levitikus 18,5 ziemlich versteckt. Da heißt es: Der Mensch, der danach handelt, nämlich nach der Weisung Gottes nach der Thora, wird leben. Das heißt, ein gelingendes Leben ist das Ziel. Wenn aber eine Auslegung der Bibel zum Leben nicht mehr befähigt, sondern vor dem Leben Angst macht, dann ist, glaube ich, die Auslegung falsch.
Florin: Sie haben betont, dass die Bibel nicht vom Himmel gefallen ist, sie ist kein Regelwerk, nach dem man leben muss. Es ist ein literarisches Werk, eine Ansammlung von Erfahrungsberichten, von Geschichten aus dem Leben sehr vieler verschiedener Menschen. Trotzdem ist es verführerisch, zumindest für bestimmte Strömungen, zu sagen: "So soll es sein! Da gibt es keine Diskussion, da gibt es keine Abweichung, da gibt es keinen Deutungsspielraum!" Warum ist das so?
Hieke: Das sind Interessen von Menschen, die sich einen Text zu eigen machen, aber sich des Textes dann letztlich bemächtigen und den Text nicht mehr interpretieren, sondern gebrauchen und dann unter Umständen missbrauchen. Wir kritisieren das gerne mal an Muslimen, die den Koran für ihre politischen Interessen instrumentalisieren. Aber das passiert auch mit der Bibel. Auch bestimmte Kreise bemächtigen sich des Bibeltextes, ziehen einzelne Sätze aus dem Kontext heraus, halten sie vor sich her und sagen: "In der Bibel steht geschrieben und so muss es sein. So ist es." Und wenn ich so etwas erlebe, dann sage ich gerne mal: "Ach, zeigen Sie doch mal, wo es steht." Manchmal steht das gar nicht da, was da behauptet wird. Oder ich sage: "Blättern Sie doch mal um, an einer anderen Stelle steht etwas ganz anderes." Und dann werden diese starken Aussagen – "Es steht in der Bibel und so muss es sein!" - relativiert.
"Die Genesis ist keine biologische Weltentstehungslehre"
Florin: Und damit überzeugen Sie andere?
Hieke: Die Studierenden kann ich damit überzeugen. Ich selber habe sonst wenig Gelegenheit, mit tatsächlichen Fundamentalisten ins Gespräch zu kommen, wobei es manchmal dann auch gar nicht wirklich etwas bringt, mit solchen Leuten da auf diese Weise zu diskutieren. Ich möchte aber meine Studierenden dazu befähigen, in dieser Weise zu argumentieren.
Florin: Das Problem beginnt schon am Anfang oder, wie es im Buch Genesis heißt, im Anfang. Wir hören jetzt einen Auszug aus dem Anfang.
"Es wurde Abend, und es wurde Morgen: dritter Tag. Dann sprach Gott: Lichter sollen am Himmelsgewölbe sein, um Tag und Nacht zu scheiden. Sie sollen als Zeichen für Festzeiten, für Tage und Jahre dienen. Sie sollen Lichter am Himmelsgewölbe sein, um über die Erde hin zu leuchten. Und so geschah es. Gott machte die beiden großen Lichter, das große zur Herrschaft über den Tag, das kleine zur Herrschaft über die Nacht und die Sterne. Gott setzte sie an das Himmelsgewölbe, damit sie über die Erde leuchten, über Tag und Nacht herrschen und das Licht von der Finsternis scheiden. Gott sah, dass es gut war." (Genesis 1, 13-18)
Florin: Weil heute Himmelfahrtstag ist. Was wird hier über den Himmel erzählt?
Hieke: Die Bibel ist in ihrer Schilderung da am Anfang geradezu naturwissenschaftlich, vor allem im Vergleich zu ihrer altorientalischen Umwelt. Die Babylonier glaubten noch, dass der Himmel und die Erde durch die Teilung der Urgöttin Tiamat entstanden seien. Dagegen sind in der Bibel das Himmelsfirmament und die Erde Werke Gottes. Mond, Sonne, Sterne sind keine Gottheiten wie bei den Babyloniern, sondern Lampen: die große Lampe, die Sonne, die kleine Lampe für die Nacht, der Mond und die Sterne.
Vor dem Hintergrund der damaligen Datenlage ist der biblische Schöpfungstexte vergleichsweise nüchtern. Aber er will eigentlich kein naturwissenschaftlicher Text in unserem heutigen Sinne sein. Diese spezielle, moderne Frageweise zum Text ist eigentlich sehr fremd, und ich glaube, wir würden ihn überfordern, wenn wir eine physikalisch-biologische Weltentstehungslehre daraus machen würden. Stattdessen fragt die Bibel nach dem Sinn hinter all dem und staunt über die Ordnung, die sie vorfindet. Das Schlüsselwort ist also Ordnung. Das Schlüsselwort für diesen Text in Genesis 1 ist Ordnung: sechs Tage plus einen Tag - sechs plus eins - ein bekanntes Schema, das in der Bibel mehrfach wiederkehrt.
Florin: Die katholische Kirche hat lange gebraucht, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass dort keine naturwissenschaftliche Aussage getroffen wird. Also jedenfalls nicht mehr in dem Sinne, dass wir hier wirklich etwas über die Entstehung des Universums erfahren. Warum hat das so lange gedauert?
Hieke: Das ist ein Geheimnis der Kirchengeschichte. Es hat tatsächlich bis Anfang der 1990er-Jahre gedauert, als der spätere heiliggesprochene Papst Johannes Paul II. den Fall Galilei für die Kirche gelöst hat und dann eben in seiner Ansprache anlässlich dieses Ereignisses der Rehabilitierung Galileis gesagt hat: "Wir müssen auf die Naturwissenschaften schauen und nicht meinen, aus der Bibel naturwissenschaftliche Tatsachen ableiten zu können. Denn diese Texte wollen das so gar nicht sagen."
Florin: Was sagt dieses Buch Genesis über Gott, was ist das für ein Gott?
Hieke: Das ist ein Gott, der von seiner Schöpfung ganz verschieden ist. Anders als in den altbabylonischen, altorientalischen oder auch altägyptischen Mythen, in denen die Götter immer Teile dieser Welt sind, ist dieser Gott der Schöpfer, in der biblischen Schöpfungslehre von seiner Schöpfung ganz verschieden. Wir benutzen da den theologischen Fachbegriff "transzendent". Er übersteigt damit auch Raum und Zeit. Das ist schwer vorstellbar, schwer zu denken. Gott ist eben nicht da. Oben im blauen im Weltraum, im Himmel. Wenn jemand in den Himmel kommt - es ist ja der Feiertag Christi Himmelfahrt - dann ist das kein Raketenstart in den Weltraum, sondern es ist ein Verlassen dieser räumlich-zeitlichen Welt.
"Der Blutruf hat eine verheerende Wirkungsgeschichte"
Florin: Und gegen wen müssen sie das jetzt verteidigen? Wer behauptet da etwas hartnäckig falsch?
Hieke: Es gibt landläufige Vorstellungen, zum Beispiel gibt es in Barockkirchen gerne mal so ein Loch in der Decke, wo dann an Christi Himmelfahrt eine Figur nach oben gezogen wird. Es gibt auch die merkwürdige Vorstellung, das ewige Leben sei eine simple Verlängerung des hiesigen Daseins ad infinitum, ins Unendliche hinein. Und das macht Angst, denn man sagt: Dieses Leben hier geht unendlich weiter. Das ist eben nicht damit gemeint. Oder es gibt die Vorstellung, wenn jemand stirbt, müsste er irgendwo aufbewahrt sein und dort im Staube ausharren, bis dann irgendwann die Zeit zu Ende sei.
Florin: Ich möchte jetzt einen weiten Sprung in der Bibel machen, vom Alten ins Neue Testament. Ein Beispiel dafür, wie die Bibel politisch gebraucht und missbraucht wird, nämlich für Antijudaismus und Antisemitismus. Ein Sprung ins Matthäus-Evangelium, an eine auch sprichwörtlich bekannte Stelle. Da wäscht ein mächtiger Mann, ein römischer Statthalter, seine Hände in Unschuld.
"Pilatus sagte zu ihnen: Was soll ich dann mit Jesus tun? Den Mann, den man den Christus nennt? Da antworteten sie alle: Ans Kreuz mit ihm. Er erwiderte: Was für ein Verbrechen hat er denn begangen? Sie aber schrien noch lauter: Ans Kreuz mit ihm! Als Pilatus sah, dass er nichts erreichte, sondern dass der Tumult immer größer wurde, ließ er Wasser bringen, wusch sich vor allen Leuten die Hände und sagte: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen, das ist eure Sache. Da rief das ganze Volk: Seien Blut über uns und unsere Kinder! Darauf ließ er Barabbas frei. Jesus aber ließ er geißeln und liefert ihn aus zur Kreuzigung." (Matthäus, 27, 22-26)
Florin: Dieser Blutruf ist eine von vielen Bibelstellen, mit dem christlicher Antijudaismus begründet wurde: die Juden als Christusmörder. Wie kam es zu dieser Interpretation?
Hieke: Der Blutruf hat eine wirklich verheerende Wirkungsgeschichte gehabt und er wird als Erklärung oder Rechtfertigung des negativen Schicksals der Juden herangezogen. Sie werden in dieser Sichtweise von Gott bestraft für die Hinrichtung Jesu, an der kollektiv alle Juden für alle Zeiten Schuld seien. Damit wird auch das aktive Vorgehen gegen Juden legitimiert, wurde legitimiert in der in der Vergangenheit.
Wenn man den Kontext des Matthäus-Evangeliums aber liest und den Blutruf darin einbettet, dann erweist sich dieser Blutruf aber eigentlich als ein Ruf nach Erlösung. Das Blut des Bundes, das im Abendmahl symbolisch vergossen wird er, mit dem Jesus im Abendmahl seinen Tod symbolisch deutet. Dies Blut ist vergossen zur Vergebung der Sünden. Und diese Erlösung erhofft sich auch das Volk, das diesen Blutruf äußert. So könnte man das auf der Kontext-Ebene des Matthäus-Evangeliums verstehen. Aber für sich genommen, aus dem Kontext herausgelöst, eignet sich dieser Satz natürlich hervorragend dazu, Juden auszugrenzen, Juden zu beschuldigen, kollektiv schuldig zu machen und damit auch zu verfolgen.
Das Problem ist generell, dass man die Wirkungsgeschichte biblischer Texte nicht gegen die biblischen Texte selber verwenden darf, sondern man muss die Wirkungsgeschichte kritisieren. Das Neue Testament ist einfach in einer Phase entstanden, in der die frühen Christengemeinden ihre Identität gesucht haben. Und wenn junge Menschen ihre Identität in der Pubertät suchen, dann ist es auch nicht schmerzfrei und oftmals nur durch eine ganz harte Abgrenzung möglich. Und diesen schmerzvollen Prozess der harten Abgrenzung der frühen Christen vom Judentum, das erleben wir im Neuen Testament. Das bildet sich in diesen Texten ab. Dieser Abgrenzungsprozess - und das ist das Schlimme - ist in der Geschichte mit unglaublich viel Gewalt von Christen gegen Juden verbunden. Das ist eine ganz beschämende Tatsache. Noch beschämender, finde ich, ist es, dass die Christen faktisch erst nach der Schoah erwachsen geworden sind und hoffentlich jetzt nicht mehr ihre Identität auf Kosten der Juden definieren.
"Christliche Judenfeindschaft hat eine lange, tief sitzende Tradition"
Florin: Sie sagen es gerade selbst: Es gibt eine sehr tief sitzende Judenfeindschaft, ein tief sitzender Hass auf Juden, eine Verachtung für Juden. Das kann man doch nicht einfach drehen, indem man sagt: "Diese Stelle ist gar nicht so gemeint. Die wird nur falsch verstanden. Die muss man im historischen Kontext sehen." Ist nicht auch das Wesen einer Heiligen Schrift so, dass es sich gut dazu eignet, andere abzuwerten, zu sagen: "Wir haben den wahren Glauben, wir haben etwas überwunden, woran die anderen da noch glauben. Wir sind die Besseren"?
Hieke: Ja, gegen diesen Chauvinismus ist kein Kraut gewachsen. Das ist auch ein Stück Dummheit. Und natürlich ein Gebrauchen heiliger Texte für die eigenen Interessen. Das passiert aber vielfach und nicht nur im Christentum, eben auch in anderen Religionen. Dagegen muss man schlichtweg vorgehen. An dieser Stelle ergibt sich für mich auch ein Gegenargument gegen das Traditionsargument: Wir haben viele schlechte, schreckliche Traditionen im Christentum. Die Judenfeindschaft ist eine ganz, ganz lange, tief sitzende Tradition, die jetzt in der katholischen Kirche, spätestens mit dem Dokument "Nostra aetate" des Zweiten Vatikanischen Konzils überwunden ist. Da wird ganz eine ganz klare Sprache gesprochen, die dann auch Papst Johannes Paul II. entsprechend fortgeführt hat mit seiner Rede vom nie gekündigten Bund und von den älteren Geschwistern, den Menschen jüdischen Glaubens. Da müssen wir weiter daran arbeiten, an dieser Sache und uns natürlich als Christen auch schuldig bekennen für diese schreckliche Geschichte. Die wird dadurch nicht ungeschehen gemacht, und es wird auch nicht entschuldigt dadurch. Aber wir müssen sehen, dass wir heute anders arbeiten, anders denken und auch anders lehren. Da gibt es eben diese berühmte Theologie nach Auschwitz, nach der klar ist: Es darf nie wieder eine feindliche Abgrenzung der Christen vom Judentum geben. Und auch die neutestamentlichen Texte, die aus dieser geschichtlichen Zeit heraus entstanden sind, müssen wir heute eben unter Umständen dann auch als nicht mehr gültig im engeren Sinne auffassen.
Florin: Wie geht das denn praktisch? Muss man dann diese Stellen irgendwie kennzeichnen, einen Warnhinweis geben und sagen: Das könnt ihr eigentlich - zumindest unkommentiert - nicht mehr in einem Gottesdienst vorlesen?
Hieke: Ja, Stellen mit einem Warnhinweis kennzeichnen - Sie werden lachen: Diesen Vorschlag gibt es tatsächlich, zumindest für das Alte Testament gibt es da von einem Kollegen aus den USA, James Watts, einen Vorschlag, bestimmte Bibeltexte mit durchgestrichener Type zu drucken.
Wenig Nachfrage nach Informationen über die Bibel
Florin: Wie ist es im Neuen Testament? Wir haben gerade über das Neue Testament gesprochen, über den Blutruf im Matthäus-Evangelium und man findet auch im Johannes-Evangelium Stellen, die antijudaistisch sind.
Hieke: Richtig. Auch hier wäre es natürlich sinnvoll, Warnhinweise anzubringen oder eben in der Katechese im Religionsunterricht, in dem Theologiestudium natürlich entsprechend darauf hinzuweisen.
Florin: Es ist also ein Problem, dass die Bibel ein Bestseller ist, dass sie von vielen Menschen gelesen wird, die eben nicht Theologie studiert haben, nicht Bibelwissenschaft studiert haben, die dieses Buch voraussetzungslos lesen.
Hieke: Lesen Menschen tatsächlich einfach so unvoreingenommen Bibel? Sie müssten dann eigentlich, wenn sie ehrlich sind, Fragen stellen und mit diesen Fragen auch vielleicht auf die Leute zugehen, die sich damit etwas näher auskennen. Aber es hält sich in Grenzen mit den Fragen. Die Nachfrage nach Informationen über die Bibel sehe ich momentan eigentlich eher beschränkt.
Florin: Ich möchte noch auf ein weiteres Thema zu sprechen kommen, das Thema, das Sie selber in diesem Buch bearbeitet haben, nämlich Homosexualität. Die Geschichte von Sodom wird gerne dafür herangezogen, unter anderem auch vom Katechismus der katholischen Kirche. Da sagen Sie: Diese Stelle erzählt eigentlich gar nicht von Homosexualität, sondern von Gewalt, von einem Missbrauch des Gastrechts. Was erhoffen Sie sich davon, wenn Sie die Bibel, wie Sie sagen, richtig deuten? Wenn Sie also sagen, es sei gar nicht so gemeint, dass es hier darum gehe, eine bestimmte Gruppe zu diskriminieren?
Hieke: Ich sehe hier auch seitens des Katechismus, aber auch von vielen anderen christlichen Gruppen, einfach einen Versuch, die Heilige Schrift als Totschlagargument oder als Hammer-Argument gegen eine bestimmte sexuelle Ausrichtung zu verwenden oder etwas härter formuliert: Mit der Bibel soll die eigene Homophobie legitimiert werden.
"Missdeutung, um homophobe Interessen durchzusetzen"
Florin: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann läuft das, was Sie schreiben, auf die Forderung hinaus, der Katechismus müsse geändert werden. Meinen Sie, Sie haben mit dieser Forderung Erfolg?
Hieke: Das weiß ich nicht. Ich habe es jedenfalls gesagt. Hinterher kann niemand sagen, ich hätte nichts gesagt. Ich habe meine Expertise hier publiziert. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt direkt nach Rom schreiben muss. Auch viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die da diese Stellen deuten, sagen, dass der Katechismus geändert werden kann. Das ist keine große Sache. Das hat Papst Franziskus vor kurzem auch gemacht, als er den Passus über die Todesstrafe geändert hat - gegen den erheblichen Widerstand insbesondere US-amerikanischer Bischöfe. Aber das geht. An dieser Stelle könnte man den Katechismus auch korrigieren. Denn die einfache Behauptung, die da im Katechismus steht, dass die Bibel schon immer Homosexualität als schlimme Abirrung bezeichnet habe, die ist so, wie es da im Katechismus steht, schlichtweg falsch. In der Geschichte von Sodom geht es sich nicht um Homosexualität. Das kann man eigentlich sehr schnell sehen, denn es heißt: Alle Männer von Sodom versammeln sich und wollen mit diesen Besuchern des Lot da verkehren. Sind also alle Männer von Sodom homosexuell? Also es ist geradezu absurd. Hier sieht man doch, wie die spätere Auslegung eine Geschichte missbraucht hat, missdeutet hat, um homophobe Interessen durchzusetzen.
Florin: Auch da stellt sich die Frage ähnlich wie vorhin beim Thema Antisemitismus und Antijudaismus: Eine römisch-katholische Kirche, die Homosexuelle nicht diskriminiert, hat es nie gegeben. Also ist es wirklich so einfach, eine Bibelstelle gründlich zu interpretieren, zu sagen: "Da ist etwas missverstanden worden. Da ist etwas falsch verstanden worden. Da wird auch etwas missbraucht." Lässt sich eine so lange Verachtungsgeschichte so einfach ändern?
Hieke: Ja, ich hoffe doch sehr, ich darf noch einmal an das Thema des Antijudaismus erinnern. Da haben wir eine breite und jahrhundertelange Strömung des Antijudaismus. Da kann doch niemand ernsthaft hergehen und sagen: "Aber das ist doch eine lange Tradition in der katholischen Kirche, Juden zu verachten, das müssen wir doch hochhalten." So eine Tradition kann man einfach nicht hochhalten. Und die ist auch von der Kirche, von der Lehre der Kirche offiziell widerlegt und beendet worden, diese Tradition, mit dem Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils. Schlechte Traditionen zu beenden und eine andere Lehre zu bringen, das gibt es in der katholischen Kirche durchaus. Wir sehen das an der Einstellung gegenüber dem Judentum. Und so kann man in gleicher Weise auch die Einstellungen und Lehren der katholischen Kirche über Homosexualität, über Sexualität allgemein, aber auch zum Beispiel über Fragen der Frauenordination ändern.
"Der Fundamentalist darf nicht umblättern"
Florin: Und wer ist die Instanz, die entscheidet, was richtig ist?
Hieke: Da könnten Sie jetzt auf das Lehramt hinauskommen. Aber gerade diese Instanz möchte ich nicht ins Spiel bringen. Vielmehr sehe ich zwei große Säulen, wie man Bibel richtig interpretieren kann. Das eine ist der Kontext, dass ich also genau auf den Kontext schaue. In welchem Zusammenhang steht die Stelle, die ich auslegen will? Und gibt es unter Umständen andere Stellen, die ein besonderes Licht auf meine Stelle werfen? Also: nie aus dem Kontext heraus lösen. Es gibt auch einen schönen Satz, den meine Studierenden kennen: "Der Fundamentalist darf nicht umblättern." Um eine fundamentalistische Bibelauslegung halten zu können, darf man nicht umblättern, weil man dann andere Texte findet, die das wieder relativieren. Das eine ist also der Kontext. Die andere Säule ist die Auslegungsgemeinschaft. Davon gibt es ganz viele. Das ist jetzt nicht nur die römisch-katholische Kirche, das ist eigentlich jede Pfarrgemeinde, jeder Bibelkreis oder, wenn ich mit meinen Studierenden im Seminar sitze, sind wir auch eine Auslegungsgemeinschaft. Und dann muss jeder seine Bibel-Lektüre, seine Bibelauslegung in diese Auslegungsgemeinschaft hineingeben. Und im Gespräch wird sich dann herauskristallisieren, ob diese Auslegung trägt oder ob sie vielleicht einseitig, abseitig ist, ob man sie vielleicht mit anderen Bibeltexten noch einmal relativieren muss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hieke, Thomas und Huber, Konrad (Hrsg.): "Bibel falsch verstanden. Hartnäckige Fehldeutungen biblischer Texte erklärt."
Stuttgart, Katholisches Bibelwerk, 2020. 300 Seiten.