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Familienpoeten verschönern Hochzeits- und Geburtstagsfeiern

Als "Personen, die jeden Anlass nutzen, um ihre Poesie unter die Leute zu bringen und damit Geld zu verdienen", mussten sich die Dichter von Gelegenheitspoesie schon beschimpfen lassen. Auch in der germanistischen Forschung wollte man mit diesen "Honorarschreibern" lange nichts zu tun haben. Doch das ändert sich momentan. Denn immerhin stand die Gelegenheitsdichtung am Anfang deutscher Literatur. Und so trafen an der Universität Potsdam Germanisten und Historiker zusammen, um sich über ihre Forschungsarbeiten zum Thema "Kasualdichtung" auszutauschen.

Von Eva-Maria Götz |
    Johann Christian Günther:

    Was gilts? Du leugnest nicht, das Dichter Rosen brechen,
    Die in der Einsamkeit von Selbst- Vergnügung blühn.
    Du kenntest, Du begreifst das innerliche Wesen,
    Indem die Eigenschaft der Poesie besteht.
    Es hat mir ja dein Fleiß so manches vorgelesen,
    Das an Vernunft und Kunst weit über andre geht.

    Es ist ein eindringlicher Appell, den der Dichter Johann Christian Günter an seinen Gönner, einen Herrn von Niecksch, im Jahre 1718 in Versform richtet. Ein Appell, die Dichtkunst zu ehren und zu unterstützen. Vor allem die Dichtkunst, die in Form und Inhalt qualitativ hochwertig ist und damit dem Selbstverständnis des Autors entspricht.

    "Johann Christian Günter war ein Schriftsteller, der ein sehr tragisches Leben geführt hat. Er war eigentlich Student der Medizin, und hat sich dann mit seinem Vater überworfen, als er sich ganz der Dichtung zuwandte. Er führte dann auch ein recht lockeres Leben, er musste sich durch Gelegenheitsdichtung manche Mittagstische, manche Nahrungsquellen erschließen, auch mal einiges Salair bekommen, und er hat eine Dichtung geschrieben, die einerseits durchaus noch den rhetorischen und topischen Vorgaben der Barockzeit entspricht, die aber andererseits schon mit persönlichen Erlebnissen aufgeladen wird, wie sie dann später vor allem in der Dichtung Goethes für uns charakteristisch ist."
    Erklärt Rudolf Drux, Professor für Germanistik an der Universität Köln. Der Name des Poeten Günther ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, zu seiner Zeit aber galt er als bedeutendster Vertreter der Barockdichtung und Vorläufer des "Sturm und Drang". Doch was er schrieb, waren meist sogenannte "Gelegenheitsgedichte" und die werden von der Germanistik erst zögerlich als eigenständige Kunstform akzeptiert.

    "Das Problem ist, das die Forschung bisher diese Form nicht wahrgenommen hat, sondern das sie sich auf die wenigen Einzelfälle konzentriert hat, wo man geglaubt hat, so was wie "reine Dichtung" konstruieren zu können. Aber auch da ist es halt so, dass man eher den Kontext verkennt, den konkreten Anlass und die Anlassgebundenheit verkennt."
    Meint Volkhard Wels von der Universität Potsdam, einer der Veranstalter der Tagung.

    Gelegenheitsdichtung oder "Kasualpoesie" war vom 16. bis zum 18. Jahrhundert ein Massenphänomen. Überall wurde gedichtet: zu Geburten, Namenstagen, Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen, bei Magisterabschlüssen und Beförderungen. Es war die Zeit, als das Deutsche sich langsam als Schriftsprache durchzusetzen begann und eine erste Alphabetisierungswelle durch das Land ging. Der Markt für Gelegenheitsdichtkunst wuchs schnell, allerdings auch die Kritik daran, wie viel schlechte Literatur so produziert wurde. Dichter wie Andreas Gryphius, Martin Opitz oder eben Johann Christian Günter versuchten, sich von der Masse abzugrenzen, sozusagen den "E"- Bereich vom "U"- Markt abzutrennen. Gelegenheitsdichter waren auch sie:

    "Aber auf keinen Fall gab es so was wie einen Künstlerbegriff. Der kam erst im 18. Jahrhundert auf. Erst Mitte des 18. Jahrhunderts hat man angefangen, die Dichtung von ihrem Anlass zu trennen, dann kam so was wie Innerlichkeit in die Dichtung."

    "Da gibt es eben den dankbaren Fall des Zeremonienmeisters Johan von Besser, der hier für die gesamten Abläufe am Hof zuständig war, also nicht nur als Autor Kasualtexte verfasst hat, sondern die ganzen Abläufe organisiert hat. Also welche Gesandten, welche Diplomaten wo auf wen zusammentreffen und was dort zu verhandeln war und wie die Auftritte organisiert waren bis dahin, dass dann auch letztendlich eine literarische Gattung wie eine Operninszenierung Teil des Zeremoniells wurden."
    Andreas Keller von der Universität Potsdam erläutert, welchen Stellenwert Gelegenheitsdichtung auch im höfischen Zeremoniell hatte. Wie hier am preußischen Hof ging es auch in anderen absolutistischen Herrscherhäusern zu: Gedichte etwa zu Krönungsfeierlichkeiten und Geburtstagen beinhalteten eine politische Aussage, waren sogar oft Teil von Verhandlungsgesprächen. Gedichte wurden mit verteilten Rollen von den Gesandten gesprochen und in der Oper vertont: alles nach strengen Regeln. Sieht man sich die Gedichte genauer an, erhält man also auch historisch wichtige Informationen. Volhard Wels:
    "Man kann eben nicht nur so ein Gedicht nehmen und das interpretieren, sondern man muss ganz genau rekonstruieren, in welchen historischen Verbindungen es stand. War das ein Universitätskontext. War das ein schulischer Kontext, ein höfischer Kontext, ein bürgerlicher, städtischer Kontext, wo stand dieses Gedicht, wer waren die Auftraggeber. Und das kann eigentlich ein Germanist allein nicht rekonstruieren, dazu braucht man Historiker, Sozialgeschichtler. Deshalb kann man sagen, dass die Forschung zur Gelegenheitsdichtung ein Experimentierfeld der Germanistik ist, im Gegensatz zu zum Beispiel der Germanistik des 18. Jahrhunderts, die nach wie vor rein literatur- immanent arbeitet. Wir arbeiten hier absolut interdisziplinär."
    Ob es nun um höfische Dichtung in Brandburg oder Hessen ging, um akademische Dichtung, beispielsweise um das kärgliche Unihonorar aufzubessern wie im Fall des Professors Andreas Tscherning oder darum, einen familiären Gründungsmythos zu schaffen, um damit von einem Verbrechen abzulenken wie im Fall der Görlitzer Familie von Emmerich- immer lohnt der Blick hinter die Dichtung auf die Gelegenheit, meint auch Stefanie Stockhorst von der Universität Rostok:

    "Es wird ja grade der barocken Dichtung, nicht der Gelegenheitsdichtung, sondern der gesamten Dichtung vorgeworfen, dass sie bestenfalls exemplarischen Gefühlsausdruck habe, dass alles sehr schematisch sei, dass es mit Individuen nichts zu tun habe, dass es nicht authentisch sei. Aber auch grade in der Gelegenheitsdichtung findet man doch Formen des Gefühlsausdrucks, der möglicherweise doch persönlich ist. Also grade bei Beerdigungsgedichten für die eigene Frau, für die eigenen Kinder, da ahnt man doch, dass das mehr ist als nur eine Floskel. Oder wenn es darum geht, dass man eine Stelle bekommt oder irgendeine Alimentierung, da hört man doch die echte Notlage raus."

    Ein Ziel der Tagung war es, die unterschiedlichen Arbeiten, die in der Germanistik und Sozialgeschichte in den letzten Jahren zu diesem Thema entstanden sind, zu bündeln.

    "Wir haben in den letzten 20 Jahren sehr viele Detailstudien bekommen, seit dieser Epochemachenden Arbeit von Wulf Segebrecht haben wir viele Detailarbeiten, wo sich die Leute einzelne von diesen Gelegenheitsgedichten genommen haben und dann angefangen haben, den historischen Umriss zu rekonstruieren, aber es fehlt an einer gesamten, sozialgeschichtlichen Einordnung dieses Phänomens."

    In den nächsten Jahren sollen deshalb möglichst viele dieser Autoren erforscht und die Erkenntnisse zusammengeführt werden. Denn diese Gelegenheitsdichter haben, so ein Fazit der Potsdamer Tagung, grundlegende Standarts für die deutsche Poesie entwickelt.