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Fantastische Elemente in der Kinderliteratur

Kinder sind Realisten und trotzdem lieben sie Märchen und das Fantastische, das in den Alltag einbrechen kann und ihn verändern. Betrachtet man die aktuelle Kinderliteraturszene, dann entdeckt man, Wirklichkeit und Fantasie sind sich näher, als man glaubt.

Ein Feature von Karin Hahn | 24.08.2013
    Seit den Klassikern "Pinocchio", "Karlsson auf dem Dach", "Das Sams" oder "Wir pfeifen auf den Gurkenkönig" beansprucht das Fantastische immer wieder aufs Neue seinen Platz in der modernen Kinderliteratur. Oftmals werden den Hauptfiguren ganz unspektakulär sonderbare Fähigkeiten angedichtet, heimliche oder unheimliche Helfer, Zauberelemente oder rätselhaft Unerklärliches bestimmen den wirklichkeitsnahen Handlungsverlauf. Die Magie mitten im Alltag dient als kleiner, zauberhafter Dreh, um die Realität sichtbarer zu machen, die eigene Wirklichkeit ins Zentrum zu rücken. Wenn das Fantastische in die kindliche Alltagswelt einbricht, stehen oftmals individuelle oder existenzielle Konflikte auf dem Prüfstand.

    Marlene Röder, die bisher als Autorin durch ihre realitätsgetreuen Jugendromane aufgefallen ist, greift in ihrem ersten Kinderbuch "Melina und das Geheimnis aus Stein" das bekannte Motiv der zum richtigen Leben erweckten Puppen auf. Im Mittelpunkt der Geschichte steht das 10-jährige Mädchen Melina, das auch die Ich-Erzählerin ist.

    "Es ist eigentlich eine sehr schwierige Zeit für Melina, denn es ist eine ganz belastende Situation bei ihr zu Hause. Ihr kleiner Bruder ist gestorben, plötzlicher Kindstod. Und die Eltern und die ganze Familie sind davon noch ganz betroffen. Vor allem die Mutter verlässt gar nicht mehr das Haus, liegt nur noch depressiv auf dem Sofa, während der Vater sich in die Arbeit flüchtet. Und Melina steht dazwischen und ist irgendwie ein Stück weit vergessen worden."

    Ihren ersten Schultag muss Melina morgens ganz allein beginnen, die Mutter kümmert sich nicht ums Frühstück und begleitet sie auch nicht zur neuen Schule.

    Sie hat einfach vergessen aufzustehen. Ich versuche verständnisvoll zu sein, wie Paps das will. "Mama wird es bald wieder besser gehen. Wir müssen Geduld haben", sage ich in unsere leere Küche hinein. Ich sage es extra laut, damit sie es vielleicht doch hört und merkt, was für eine große, verständnisvolle Tochter sie hat.

    Für Melina gibt es eine Zeit, in der noch alles in Ordnung war und die Zeit danach. Sie erlebt, dass schlimme Dinge passieren und niemand sie verhindern kann. Um der andauernden Traurigkeit der Mutter und der eigenen Einsamkeit zu entgehen, findet Milena einen ungewöhnlichen Ausweg.

    "Und das ist ja im Prinzip das auslösende Moment, dass sie eben neue Freunde sucht, wenn auch nicht auf die konventionelle Art, sondern eben, indem sie Dinge zum Leben erweckt."

    Kurz nachdem Melinas Baby-Bruder gestorben ist, belebt das Mädchen eine kleine rosa Playmobil-Spielfigur und nennt sie Pippa.

    Mit meiner Lieblingsfigur in der Hand versuchte ich, wach zu bleiben. Schlafen ist etwas Komisches. Du weißt nicht mehr, was um dich herum passiert und wer du bist. Du weißt nicht mal mehr, ob du lebst. Du kippst ins Nichts. Irgendwann muss ich wohl doch eingeschlafen sein. Ich wachte mit einem Ruck auf, mitten in der Nacht. Um mich war es schwarz, die Dunkelheit kroch in meine Nase und erstickte mich, kroch in meinen Mund und dämpfte meinen Schrei. Ich konnte nicht nach Paps rufen. Ich dachte, ich würde sterben. Da spürte ich plötzlich, wie sich etwas in meiner Hand bewegte, sich aus meinem Griff wand.

    Mit ihrem Temperament und ihrem Humor reißt Pippa Melina aus ihrer inneren Vereinsamung, bringt sie auf andere Gedanken. Marlene Röder sieht in Pippa …

    "... vielleicht so ein bisschen eine hinterfragende Stimme zu Melinas Tun, ja auch etwas, was sie auch antreibt, so 'ne Art kleines Alter Ego, weil, wenn man genau hinguckt, sieht man oder kann auch lesen, dass Pippa und Melina sich recht ähnlich sehen, auch vom äußeren her."

    Die Versteinerung, die die Mutter durch ihre, Melina nennt es "Traurigkeitskrankheit" umgibt, kann die Tochter nicht lösen. Dafür erweckt sie durch ihre Gabe einen lebens-großen Engel aus Stein, der auf dem Friedhof steht.

    "Am Anfang ist dieser Will, dieser steinerne Junge, sicher für Melina auch so eine Art Bruderersatz, weil er ja unterschiedliche Funktionen erfüllt in ihrem Leben. Er dient ja dann als großer Bruder, der sie auch vor anderen Kindern beschützt, aber er ist auf jeden Fall ihr Freund, ihr bester. Will ist sicher eine ganz vielschichtige Person in Melinas Leben."

    Durch Will erhält Melina eine Aufgabe und sie wird mutiger, selbstbewusster in ihrem Handeln.

    "Melina muss Will im Prinzip erklären, wie die Welt der Menschen funktioniert. Er ist ja furchtbar neugierig darauf, wie Menschen leben, wie Familie funktioniert, wie der Alltag vor allem aussieht, z.B. ist er ganz fasziniert von Briefkästen oder davon, wie sich die Autos bewegen. Da stellt er unglaublich viele Fragen, von denen Melina oft auch ein bisschen genervt ist. Aber das bringt sie auch dazu, ihre Umwelt selber noch mal mit anderen Augen zu sehen und z.B. auch ihre Familie neu zu betrachten und auch die Qualitäten, die diese Familie trotz allem immer noch hat."

    Nach und nach vergisst der Leser, dass es keine logische Erklärung für die Existenz von Will und Pippa gibt. Durch ihre Anwesenheit findet Melina einerseits die Kraft, sich mit der Mutter und ihren Depressionen direkt auseinanderzusetzen, andererseits muss sie aber auch Verantwortung übernehmen. Durch Wills Kontaktfreudigkeit, auch zu Jessie, einem Mädchen, mit dem Melina gern befreundet wäre, stellen sich jedoch Komplikationen ein.

    Will verschränkt die Arme vor der Brust und funkelte mich an. Das ist das erste Mal, dass ich ihn wütend sehe. Wieder etwas, was er über das Menschsein gelernt hat. "Du hast kein Recht, über mich zu bestimmen! Ich bin nicht dein Spielzeug so wie Pippa! Das ist mein Leben und ich will selbst entscheiden." "Was für ein Leben?!", schreie ich zurück. "Du bist kein Mensch, du bist nur ein Stein!" Einem Stein machen Worten nichts aus, sie prallen an ihm ab. Einem Stein kann man nicht wehtun.

    Marlene Röder bringt die unglaubliche Geradlinigkeit kindlichen Denkens auf den Punkt und schafft es, durch die emotionalen und konfliktreichen Auseinandersetzungen zwischen Melina, Pippa, Will und Jessie moralisch - ethische Fragen sensibel anzusprechen. In dem Moment, wo Melina verstanden hat, was es bedeutet, die Perspektive eines anderen einzunehmen und ihn zu verstehen, entschwindet Pippa und gleichzeitig Melinas Fähigkeit leblose Dinge zu erwecken.

    Die finnische Autorin Leena Krohn hat vor gut 40 Jahren das Kinderbuch "Emil und der Pelikanmann" geschrieben, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt. Zeitlos liest sich diese märchenhafte Geschichte, die von der fantastischen und trotzdem glaubhaften Freundschaft zwischen dem 10-jährigen Emil und Herrn Mietling erzählt, der in Wahrheit ein sprachbegabter Pelikan ist. Emil ist ein einsames, aber aufmerksames Kind, das mit seiner viel beschäftigten und frustrierten Mutter vom Land in die Stadt ziehen musste. Der Vater hat eine neue Familie gegründet, in der für den Sohn kein Platz ist. Als Emil den schick gekleideten neuen Nachbarn mit den staksigen Beinen, den schwefelgelben Augen und dem Körper ohne Schultern einfach anspricht, versucht der Vogel Emil zu verun¬sichern.

    Nach einer Weile meldete sich wieder die seltsam krächzige Stimme: "Erlauben Sie mir die Frage (drückte der sich aber vornehm aus!), wie Sie (hier machte er eine Pause) meiner Abstammung auf die Schliche gekommen sind?" "Aber das erkennt man doch sofort!", erwiderte Emil verwundert. "Nein, die Menschen erkennen das nicht", widersprach der Pelikan. "Ihre Augen sehen nämlich nur den Schein. Vielleicht sind Sie ja gar kein Mensch?" Hoffnungsvoll blickte er Emil an. "Doch, natürlich bin ich ein Mensch", versicherte Emil, klang dabei aber beinahe betrübt. "Ganz sicher?" "Ganz sicher." "Stimmt, Sie sehen ohne Zweifel aus wie ein Mensch. Aber man weiß ja nie ..."

    Emil gewinnt Vertrauen zu Herrn Mietling, der am liebsten in seiner Wohnung in der Badewanne sitzt und von seiner Menschwerdung erzählt.

    Ja, je besser es dem Menschen geht, umso schlechter geht es dem Rest. Das Zuhause der Tiere fällt Maschinen und Motorsägen zum Opfer, ihre Nahrung wird knapp, ihr Lebensraum eng. […] So habe ich die Menschen immer mehr beneidet. Und ich habe mir gedacht: Wenn ich als Tier nicht meinen Seelenfrieden finde, so will ich eben ein Mensch sein. Der Mensch ist stark geworden, und ich will Anteil daran haben. Aus der Vogelkolonie in meiner Gegend war ich der Einzige, der diesen Traum hegte. Jahrelang nahm ich das Leben der Menschen unter die Lupe.

    Emil erklärt sich bereit, dem Pelikanmann Lesen und Schreiben beizubringen, ohne zu ahnen, welche Türen er im Positiven, wie im Negativen für den wissbegierigen Freund öffnen wird. Abenteuerlustig und bereit sich allen menschlichen Regeln und Vorschriften unterzuordnen, findet der Pelikanmann eine Arbeit und sein Nest in der Fremde, eine Wohnung. Doch Emil und der Pelikanmann spüren beide die tiefe innere Traurigkeit und Sehnsucht nach dem verlorenen Zuhause. Auch wenn Leena Krohn die Geschichte ganz vom Kind her erzählt und aus seiner Denkstruktur entwickelt, verfällt sie nie in einen kindlichen Ton, wenn der Pelikanmann und Emil gemeinsam Sachfragen, aber auch philosophische Themen klären.

    "Ich bekäme lieber Flügel", sagte Emil. "Sie meinen, sie würden Ihre Hände gegen Flügel tauschen?"
    Emil zögerte. "Ich hätte gern beides." Der Pelikan seufzte. "Das ist aber nicht möglich. Kennen sie etwa ein Wesen, das beides hat?" "Engel", schlug Emil vor. "Allerdings gibt es die ja gar nicht." "Gibt es sie nun, oder gibt es sie nicht? Da soll einer schlau draus werden. Ich kenne kein solches Tier, und ich habe immerhin das Tierbuch für den Biologieunterricht von A bis Z durchgelesen."


    Witzige Dialoge heitern das Geschehen auf, verzerren es aber nicht. In den anregenden auch kontroversen Gesprächen zwischen Pelikanmann und Emil über die Zeit, das Staunen, den Tod oder die Rolle der Religionen verrät Leena Krohn mehr über die Welt und die widersprüchliche menschliche Existenz als so manch anderes realistisches Kinderbuch. Am Ende wird der Pelikanmann sich nicht in einen Menschen verwandeln, so wie Will, der Steinengel, bei Marlene Röder ein Junge wird. Seine wahre Identität wird entdeckt und er hat nur die Wahl zwischen Gefangenschaft oder Rückkehr zu seinen Artgenossen. Hier endet die Magie des Scheins.

    Wie wäre es, wenn man plötzlich ein Chamäleon, ein Pinselohrschwein, oder einen Pinguin besitzen darf und dieses exotische Tier könnte man auch noch verstehen? Die Vorstellung, dass ein älterer Herr mit einem wackligen, alten Omnibus über den Globus tuckert, nach sprechenden Tieren sucht und diese an Kinder verteilt, hat Margit Auer zu ihrer Kinderbuch-Reihe "Die Schule der magischen Tiere" inspiriert.

    "Die Magie geht von diesem Mr. Morrison aus. Mr. Morrison ist für mich ein Magier, obwohl das im Buch nie so genannt wird, er auch nicht so auftritt. Er tritt ja als netter, ein bisschen kauziger, alter Mann auf, der den Alltag nicht so ganz im Griff hat, aber unheimlich gut mit Tieren umgehen kann. Von ihm geht die Magie aus und er trägt diese Magie dann in die Wintersteinschule hinein."

    Drei Stunden lang war er marschiert. Er hatte den Gipfel erklommen, in einer Almhütte eine große Portion Kaiserschmarren verspeist, seine Füße in klarem Quellwasser gebadet und mit etlichen Kühen gesprochen. Ja, genau – mit Kühen! Jeder Einzelnen hatte er tief in die Augen gesehen. "Sprichst du meine Sprache? Möchtest du mitkommen?" Aber die Kühe hatten ihn nur angeglotzt und weiter an ihren Grashalmen gekaut. Na, dann eben nicht! Er würde heute schon noch ein magisches Tier entdecken, das fühlte Mortimer Morrison bis in die Haarspitzen ...

    Bei all seinen Reisen über die Kontinente nehmen magische Tiere Kontakt zu ihm auf, ob es nun eine glücklich plaudernde Fledermaus, ein arroganter Kater, ein einsamer Pinguin oder eine altersweise Schildkröte ist. Parallel zur fantastischen Geschichte erzählt Margit Auer ganz real vom Lebensalltag der Mädchen und Jungen, die in eine gemeinsame Klasse gehen. Benni ist ein langsames, untersetztes Kind, das unter der Abwesenheit seiner Eltern und der Tatsache, dass er einfach keinen Freund findet, leidet. Die ehrgeizige Ida ist neu in der Stadt und muss sich gegen die Klassenzicke Helene durchsetzen. Neu in der Schule ist auch die Klassenlehrerin Mrs. Cornfield. Sie ist die Schwester von Mr Morrison und überrascht die Kinder mit einem ungewöhnlichen Angebot. Ihr Bruder wird die Klasse mit magischen Tieren aus seiner besonderen Zoohandlung versorgen, denn jedes magische Tier wartet auf den Menschen, der zu ihm passt und seine Wünsche kennt. Benni und Ida bekommen zuallererst ein magisches Tier, denn sie benötigen Hilfe.

    "Unbedingt. Genau so sehe ich das. Auf den ersten Blick sind sie natürlich unheimlich witzig, haben dann ja auch ihre eigene Sprache, ihre eigenen Spracheigenheiten, das ist lustig. Aber es geht natürlich viel, viel tiefer. Die Tiere werden wirklich zum besten Freund der Kinder und geben den Kindern ja auch kluge Ratschläge fürs Leben mit und das möchte ich auch meinen Lesern mitgeben. Dass ich wirklich sag, Mensch, es ist toll, höre mal auf jemand anderen. Es ist natürlich viel leichter auf eine kleine Schildkröte zu hören oder auf einen Fuchs namens Rabbat. Man kann das als Kind viel leichter annehmen, wenn so ein Tier einem einen Tipp gibt, als wenn es zum Beispiel vom Lehrer kommt oder vom Patenonkel oder von der Mama. Also, mit einem Tier kann man viel schöner spielen und Tipps so unterschwellig einbauen, so kleine Lebenshilfen."

    Nach und nach verschmelzen unmerklich Fiktion und Realität, denn von Band zu Band gelangt jedes Kind der Klasse an einen magischen Gefährten, der nur noch entfernt an das Tier erinnert, das es in Wirklichkeit ist. Die innige Beziehung der Kinder zu Tieren hat etwas Archaisches und erinnert an das verlorene Paradies. Die magischen Tiere fühlen sich auf allen Ebenen, auch aufgrund des ähnlichen Charakters, eng mit ihrem Menschen verbunden. Sie beeinflussen grundlegend sein Lebensgefühl und darauf allein kommt es an.

    "Es findet eine innere Veränderung auch in den Kindern statt, sie wachsen, sie schaffen es, ein Problem zu überwinden mithilfe des Tieres."

    Aber auch die Kinder, und hier entsteht eine Wechselwirkung, bereichern das Dasein der magischen Tiere. So lernt zum Beispiel die fast 200 Jahre alte Schildkröte Henrietta von Benni mit viel Witz das Lesen und der überhebliche Kater Karajan erkennt, dass er seinen Menschen aus oberflächlichen Gründen nicht einfach ablehnen sollte. In einem leichten Erzählton und mit Einfühlungsvermögen für die altersbedingten Probleme und Wünsche der Acht- bis Zehnjährigen beschreibt Margit Auer die Beziehungen zwischen Mensch und Tier, aber auch eine aufregende Baumrettung, eine spannende Lesenacht und weitere Alltagsgeschichten. Die Kinder und ihre sprechenden Tiere bleiben in ihrer fantastischen Welt unter sich. Wenn ein Erwachsener ein magisches Tier zu Gesicht bekommt, sieht er nur ein Kuscheltier. Unauffällig soll alles vonstattengehen, kein Außenstehender soll wissen, was sich hinter Klassenzimmertüren oder in wunderbar duftenden Bäckereistuben abspielt. Und so erregt auch Familie Glyck mit ihren verzauberten Kuchen, Törtchen und Plätzchen in der Kleinstadt Calamity Falls kein Aufsehen. Wenn sie ihren Teig anrühren und, heimlich versteht sich, einen Blitz oder das Lied einer Nachtigall mit hinein backen, dann lindern sie allerlei anstehende Probleme ihrer Mitmenschen, wie zum Beispiel den Stimmverlust einer Sängerin, das Schlafwandeln des Nachbarn oder andere schlimmere Krankheiten.

    Aber im Mittelpunkt des Kinderbuches "Die Glücksbäckerei – Das magische Rezeptbuch" der amerikanischen Autorin Kathryn Littlewood steht nicht die erfahrene Bäckerin Mrs Glyck, sondern ihre 12-jährige Tochter Rose. Sie möchte so wie ihre Eltern andere Menschen glücklich machen, aber dazu müsste sie endlich backen. Die Chance erhält sie, als ihre Eltern plötzlich verreisen müssen. Da alles so geheim ist, erhält Rose den Schlüssel für das Versteck zum magischen Rezeptbuch. Wie aus dem Nichts taucht plötzlich eine angebliche Verwandte auf, die sich Tante Lily nennt. Die charismatische Frau stürzt Rose in arge Gewissenskonflikte.

    "Sag mal, Rose. Was möchtest du mal mit deinem Leben anstellen?" Rose starrte an die Decke. Das hatte sie noch niemand gefragt. Manchmal wollte sie nichts als backen, und manchmal hatte sie das Gefühl, schreien zu müssen, wenn sie einen Muffin auch nur ansehen sollte. Manchmal wollte sie einfach aus Calamity Falls weglaufen, und manchmal glaubte sie, wenn sie die Stadt verlassen müsste, würde ihr Herz in der Brust zu einer schwarzen Nuss verschrumpeln und zu schlagen aufhören.

    Rose fühlt sich zeitweilig wie unsichtbar und als Person, weder von ihren Eltern noch von den beiden Brüdern und der kleinen Schwester wirklich ernst genommen. Als fleißige Helferin, die die Zutaten beschaffen darf, steht sie zwar in der Bäckerei an der Seite ihrer Mutter, aber sie selbst kann nichts. Wie Goethes Zauberlehrling, der sich arg überschätzt, widersteht Rose nicht der Versuchung, magische Backrezepte, vielleicht auch um Tante Lily zu imponieren, auszuprobieren. Aber alle Mixturen, ob nun für Wahrheitsplätzen, Liebesmuffins oder Umkehr-kopfüber-von-innen-nach-außen-Kuchen stürzen Rose und ihre Geschwister Tymo, Nella und Basil von einer Krise in die andere.

    "Esor ist Rose rückwärts! Alle reden rückwärts." "Also, dann fahren alle rückwärts, reden rückwärts, winken mit den Füßen und tun das Gegenteil von dem, was sie sonst tun", sagte Rose und raufte sich die Haare. Tante Lily blickte nervös umher. "Gute Güte. Da habt ihr euch aber was eingebrockt." "Wir hätten doch das Rezept nehmen sollen, das den Leuten die Lippen versiegelt", sagte Tymo.

    Schnell wird Rose klar, es reicht nicht, einfach nur die Zutatenzusammenzumischen, denn hinter jedem Rezept versteckt sich eine historisch verbürgte Familiengeschichte. So einfach die Handlung aufgebaut ist, so genau ist die Kinderpsyche erfasst. Rose mangelt es an einem gesunden Selbstwertgefühl und so kann sie der Gelegenheit einfach nicht widerstehen, die Abwesenheit der Eltern zu nutzen, um endlich die Anerkennung zu erhalten, die sie ihrer Meinung nach verdient hat. Die zwielichtige Tante Lily ist die Einzige, die Rose Stärken sieht und sie ermutigt, die Backstube und somit ihre festgelegte Rolle als braves Mädchen zu verlassen. Durch das gemeinsame Backen nach magischen Rezepten fühlt sich Rose jedoch ihren Geschwistern näher als je zuvor. Sie ahnt, wenn sie die Vergiss-mich-Kekse verteilt, dann entschwindet sie aus dem Gedächtnis der anderen, aber sie würde ihre Familie nie vergessen. Kathryn Littlewood bedient sich eines Erzählstils, der scheinbar mühelos zwei Ebenen bewältigt: turbulente Aktionen voll Unsinn und jene Geschichte hinter der Geschichte, in der es um wichtige Entscheidungen geht, die Rose auf dem Weg zu sich selbst fällen muss.

    Mit der durchaus labilen Balance zwischen Fantasie und Realität spielt die Hamburger Autorin Katja Henkel in ihrer Trilogie "Magische Zeiten". Das reale Alltagsgeschehen der Ich-Erzählerin Luna und ihrer Freundin und Cousine Suse wird durch ein rätselhaftes Geschenk unterbrochen. Nach 50 Jahren vererbt Ururoma Elsa LeMarr den beiden Mädchen zwei kostbare Ringe. Der Überbringer der seltsamen Gabe ist der ziemlich verrückte Opa.

    "Meine Großmutter hat die Ringe hinterlassen und bestimmt, dass ihr beide sie bekommen sollt, sobald ihr dreizehn Jahre alt seid." Er senkte die Stimme zu einem Flüstern und zwinkerte uns zu. "Sie sind wertvoll. Mit Diamanten!" Ein Smartphone oder ein eigenes Zimmer wären mir lieber gewesen, aber immerhin. "Und wie gesagt, das ist ein Geheimnis. Niemand soll davon erfahren. Niemand außer uns und ..." Er räusperte sich. "Na, egal. Wir halten einfach schön die Klappe." Als ob sich irgendjemand für zwei olle Ringe interessiert.

    Mit dem Ring am Finger kann Luna in die nahe und ferne Zukunft schauen und Suse in die Vergangenheit. Katja Henkel greift auf das beliebte Motiv der Zeitreise zurück, mit dem sie den Erlebnisradius der Mädchen erweitert. Weiterhin spielt sie mit der magischen Zahl drei, ein dritter Ring wird erwähnt, und einem Rätsel, das hinter verschlüsselten Botschaften der Ururgroßmutter steckt.
    Ihr Mädchen, seid füreinander unschätzbar wertvoll, bündelt eure Kräfte durch alle Zeiten und Räume hindurch. Dann wird es euch gelingen, das Gespinst der drei Moiren, der Töchter des Zeus, zu verändern und Atropos' Bann zu zerschlagen, der mich bindet.

    Wenn Luna und Suse dem Ring eine konkrete Frage stellen und in Trance fallen, laufen die Bilder vor dem inneren Auge der jeweiligen Ringträgerin ab. Eindeutig praktisch, wenn eine Mathe- oder Geschichtsarbeit angekündigt wurde, unheimlich, wenn die Mädchen Dinge sehen, die sie verunsichern und ihnen Angst einjagen. Als die selbstbewusste Marli neu in die Klasse kommt und sich mit Suse anfreundet, zerbricht die enge Beziehung zwischen den Cousinen an gekränkten Eitelkeiten, Eifersucht und Missverständnissen. Marli, das wissen die Mädchen aber noch nicht, wird die Dritte im Bunde werden. Als würden die normalen Probleme pubertierender Teenager nicht genug Stoff für eine Initiationsgeschichte bieten, baut Katja Henkel, ohne oberflächlich über wahre Konflikte hinwegzugehen, magische Momente in ihre temporeiche Handlung ein.

    Der Zauber der Ringe bereichert zwar den Alltag der Mädchen, verändern ihn aber nicht grundlegend. Auf der Suche nach der eigenen Identität spielen am Ende der Kindheit viele Fragen eine Rolle: Wie will ich sein? Wie sehen mich die anderen? Was mache ich falsch? Luna sucht mal das eine, findet aber etwas Anderes, Neues, das sie wiederum auf die nächste Suche schickt. So geht Erwachsenwerden und davon erzählt Katja Henkel unterhaltsam und vor allem mit trockenem Humor. Hinter dem magischen Schimmer von Zauber und Wunder verbergen sich in allen Romanen für Kinder wirklichkeitsnahe Themen. Reale Konflikte werden zwar in den Kinderbüchern verhandelt, aber sogenannte Problembücher sind nicht entstanden. Dafür sorgen die fantastischen Elemente, die die Vorstellungskraft der Leser erweitern und sie beim Lesen aus ihrem verhaltensgenormten und regelbestimmten Alltag kurzzeitig befreien. Immer geht es um verlockende Gedankenspiele, die durch die imaginierten magischen Elemente möglich werden und dem jungen Leser helfen, sich selbst und die Welt zu verstehen.

    Besprochene Titel:

    Marlene Röder: Melina und das Geheimnis aus Stein, Ravensburger Verlag 2013, 205 Seiten, 12,99 Euro, ISBN 978-3-473-36861-7.
    Kathryn Littelwood: Die Glücksbäckerei – Das magische Rezeptbuch, Aus dem Amerikanischen von Eva Riekert, KJB, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2013, 348 Seiten, 14,99 Euro, ISBN 978-3-596-85484-4.
    Katja Henkel: Magische Zeiten – Plötzlich verzaubert, Arena Verlag, Würzburg 2013, 237 Seiten, 12,99 Euro, 978-3-401-06501-4.
    Leena Krohn: Emil und der Pelikanmann, Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Fischer, Frankfurt/M. 2013, 202 Seiten, 12,99 Euro, ISBN 978-3-596-85492-9.
    Margit Auer: Die Schule der magischen Tiere, 3 Bände, Carlsen Verlag, Hamburg 2013, 200 Seiten, 3,99 Euro (Band 1), 978-3-551-65271-3.