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"Fast alle sind vorbestraft, entwürdigt verstorben"

Am kommenden Mittwoch wird der Deutsche Bundestag voraussichtlich darüber entscheiden, ob sogenannte Kriegsverräter des 2. Weltkriegs pauschal rehabilitiert werden. Denn diejenigen, die als Kriegsverräter verurteilt wurden, hatten beispielsweise Juden geholfen oder Kriegsgefangene einfach gut behandelt.

Von Dörte Hinrichs und Hans Rubinich | 20.08.2009
    "Es geht es vor allen Dingen um eine Rehabilitierung dieser Menschen, die seinerzeit alle zum Tode verurteilt wurden und wir wollen gerne, dass die Nachkommen die Kinder, vielleicht auch noch die Ehefrau oder auch die Enkel sagen können: Unser Großvater war kein Kriegsverräter, sondern unser Großvater ist zu Unrecht zum Tode verurteilt worden."

    Bundesjustizministerin Brigitte Zypries im Juli 2009. Was ihr heute so leicht über die Lippen kommt, war für sie und die SPD eine schwere Geburt: Nach zähem Ringen hat sie sich dafür entschieden, sogenannte Kriegsverräter pauschal zu rehabilitieren. Sie sollen nicht länger als vorbestraft gelten. Insgesamt verurteilten die NS-Militärgerichte 30.000 sogenannte Wehrkraftzersetzer, Kriegsverräter und Deserteure zum Tode. Etwa 20.000 wurden hingerichtet.
    Wer vom Bundestag nachträglich begnadigt werden wollte, der musste nachweisen, dass er keinen Kriegsverrat begangen hatte. Doch unklar war lange Zeit, was unter dieses Delikt überhaupt fiel.
    Genau diese Lücke hat der Freiburger Historiker Prof. Wolfram Wette versucht zu schließen. Zusammen mit seinem Kollegen Detlef Vogel hat er sich 33 Urteile und fünf Anklageschriften von Wehrmachtsgerichten untersucht und vor zwei Jahren veröffentlicht. Prof. Wolfram Wette:

    "Als wir mit unseren Forschungen, hauptsächlich im Freiburger Militärarchiv des Bundesarchivs, begonnen hatten, hatten wir auch falsche Vorstellungen davon, wer diese Kriegsverräter eigentlich sein könnten. Wir suchten eigentlich nach Kriegsverrätern und was wir fanden, war etwas ganz anderes. Wir fanden Kriegsgerichtsurteile, in denen der Begriff des Kriegsverrats vorkam, die aber von der Beschreibung des Straftatbestandes äußerst heterogen waren."

    So haben sogenannte Kriegsverräter nicht ihre eigene Truppe verraten, sondern beispielsweise Juden geholfen oder Kriegsgefangene gut behandelt.

    "Das waren sicherlich Menschen, die jede auf seine Art Widerstand geleistet haben. Oder die wenigstens im Widerstand gedacht haben. Oft reichte es ja schon, wenn man Formulierungen aufschrieb, selbst wenn sie gar nicht öffentlich wurden, die dann gefunden wurden und zu einer Verurteilung geführt haben. Also es muss nicht heißen, dass es Menschen waren, die sich tatsächlich im Widerstand bewegt haben. Aber sie haben wenigstens entsprechend gedacht."

    2007 erschien das Buch von Wette und Vogel "Das letzte Tabu. NS-Militärjustiz und Kriegsverrat" unter Mitarbeit von Ricarda Berthold und Helmut Kramer. Es macht deutlich, weshalb das Thema "Kriegsverrat" so lange ein Tabu war und so spät ins Bewusstsein der Öffentlichkeit kam.

    "Die Geschichte der Militärjustiz, der Justiz im Dritten Reich, wird immer düsterer, je weiter die Forschung hier eindringt. Und deswegen wundert es mich eigentlich nicht, wenn auch die letzten, die jetzt noch nicht rehabilitiert worden sind, nämlich die Kriegsverräter, oder ich sage doch besser: die wegen Kriegsverrats Verurteilten, dass man sich auch für die interessiert. Und je mehr Leute nun mit dem Thema vertraut gemacht werden, werden sie ganz erstaunt entdecken, dass diese Bösewichte, die man sich vorstellt, die durch Verrat den eigenen Truppen geschadet haben, dass es die eigentlich gar nicht gibt. Zumindest, dass es sie nicht gibt in den Kriegsgerichtsurteilen, die uns zugänglich waren. Sondern, dass jemand erst zum Kriegsverräter gemacht wurde durch die Interpretation, die von den NS-Militärjuristen, einem bestimmten Fall gegeben wurde."

    Dem langjährigen Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion im Rechtsausschuss des Bundestages, Norbert Geis, reichen Wettes Studien nicht aus, um alle Kriegsverräter pauschal zu rehabilitieren.

    "Der Bericht von Wette ist ja nur ein Stichprobenbericht und kommt aufgrund dieser Stichproben zu dem Ergebnis, da gab es keine Abweichler, da gab es kein vernünftiges Urteil, das waren alles Urteile, die man aufheben kann, weil sie eben falsche Urteile gewesen sind. Und das bestreitet ja keiner. Es gab massenweise falsche Urteile.
    Aber es gab wohl auch richtige Urteile, das heißt, es gab immer wieder Fälle, in denen jemand davongelaufen ist und als Überläufer dem Feind gesagt hat, wo die Stellungen der eigenen Kameraden sind."

    Die Position des CSU-Politikers Norbert Geis hat auch die CDU lange Zeit mitgetragen. Jeder einzelne Fall von Kriegsverrat sollte geprüft werden. Jan Korte von der Fraktion DIE LINKE kann die Argumentation von Norbert Geis nicht nachvollziehen:

    "Was bitte ist überhaupt hochverratsfähig bei einem Vernichtungs-und Angriffskrieg? Was kann da überhaupt daran verratsfähig sein? Das ist Fritz Bauer: 'Unrecht kennt kein Verrat!'. Das ist ein Akt der Selbstverteidigung gewesen, um Menschenleben letztlich zu retten, um Krieg zu verkürzen. Aus welchen Motiven auch immer."

    Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich lange Zeit die politische Diskussion um die Einschätzung der sogenannte Kriegsverräter. Ausgelöst wird sie im März 2006 durch einen ersten Zwischenbericht von Prof. Wolfram Wette. In dieser "Historischen Recherche zum Thema NS-Militärjustiz und Kriegsverrat im Zweiten Weltkrieg" sind Beispiele für von der nationalsozialistischen Militärjustiz als "Kriegsverrat" verurteilte Handlungen aufgeführt. Dazu gehörte etwa das Führen eines Tagebuchs, in dem der Verfasser und wegen Kriegsverrats zum Tode Verurteilte "sich als Freund der Juden und Bolschewisten" ausgab. Die Mitgliedschaft in einem sogenannten Soldatenrat, das Überlaufen zu den Partisanen nach einer Massenerschießung von etwa 2000 russischen Juden oder das Überbringen von Information über Judenmorde an die alliierten "Feindmächte". Diese Beispiele waren für die Fraktion DIE LINKE ausschlaggebend, einen Gesetzentwurf zu initiieren, der im Oktober 2006 erstmals die pauschale Rehabilitierung aller Kriegsverräter forderte.

    "Es geht natürlich um ein politisches Signal. Diejenigen, die sich entzogen haben dem Krieg, die Gesten von Menschlichkeit gezeigt haben, aus welchen Gründen auch immer, das ist in dieser Frage finde ich sekundär, eine politische und juristische Anerkennung zu geben und sie aus dem Bereich der Kriminalisierung heraus zu holen, vielmehr gebührt ihnen unsere Anerkennung.
    Und das sollte, finde ich, 60 Jahre danach auch Usus im Deutschen Bundestag auch sein."

    Damit sollten die sogenannten Kriegsverräter auch den bisher rehabilitierten Opfern der NS-Strafjustiz gleichgestellt werden. Gemeint sind damit die als Wehrkraftzersetzer und Deserteure Verurteilten, die 1998 beziehungsweise 2002 pauschal rehabilitiert wurden und damit nicht länger als vorbestraft galten.
    Einer von ihnen ist der heute 87-jährige Ludwig Baumann. 1942 versuchte der in Bordeaux stationierte Wehrmachtssoldat in die USA zu fliehen. Doch er wurde gefasst, zum Tode verurteilt, nach zehn Monaten in der Todeszelle begnadigt und in ein Strafbataillon versetzt. Ludwig Baumann überlebte den Krieg. Doch wie alle Deserteure hatte er danach einen schweren Stand in der Bundesrepublik.

    "Wir sind auch dann noch nur als Feiglinge, Kameradenschweine, Vaterlandsverräter beschimpft, bedroht worden, bis wir uns selber wieder schuldig gefühlt haben. Wir hatten überhaupt keine Verbündeten, fast alle sind vorbestraft, entwürdigt verstorben. Wir hatten keine Chance."

    1990 gründet Ludwig Baumann mit wenigen Überlebenden die Bundesvereinigung "Opfer der NS-Militärjustiz". Auch wenn er selbst wie alle anderen Deserteure und sogenannte Wehrkraftzersetzer 2002 rehabilitiert wurde, setzt sich Baumann weiterhin für die sogenannten Kriegsverräter ein.

    "Das war der Erste, der uns darauf hingewiesen hat auf diesen Skandal. Und dann kam danach die Studie von Wette, der wiederum sehr eng auch mit Manfred Messerschmidt und der Bundesvereinigung "Oper der NS-Justiz" zusammengearbeitet hat. Also es kam so zusammen.
    Und natürlich war für uns ganz entscheidend, dass wir nun eine wissenschaftlich sauber recherchierte Studie über diese Vorgänge damals hatten. Also all das haben wir uns zunutze gemacht, um auch einen fundierten Antrag einbringen zu können."

    Dieser Antrag wird im Rechtsausschuss des Bundestages diskutiert, doch nur die GRÜNEN unterstützen den Gesetzentwurf der LINKEN. Die SPD kann sich zu keiner einheitlichen Position durchringen. Rückblickend rechtfertigt die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries das so:

    "Dieser Antrag der Linken war in einer Zeit, als man dieses Buch von Wette noch nicht kannte. Und sich deshalb auch noch nicht verständigen konnte über diese Einzelfall-Prüfung, die es ja schon immer gab, eine pauschale Beurteilung zu fällen."

    Dass es schon einen Zwischenbericht von Prof. Wette gab, der im Gesetzentwurf der LINKEN zitiert wird, scheint sie nicht zu wissen. Erste Forschungsergebnisse trägt Wette auch beim Ev. Kirchentag am 9.Juni 2007 einer breiten Öffentlichkeit vor. "Kriegsverrat rehabilieren! – Das letzte Tabu des NS-Unrechts tilgen" lautet der Titel der Resolution, die daraufhin beim Kirchentag verabschiedet wird.

    Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages mögen die Ergebnisse der wissenschaftlichen Studie von Wolfram Wette und Detlef Vogel in die weitere Beratung der Rehabilitierung einbeziehen.

    Auch die Vereinigung "Gegen Vergessen – Für Demokratie" unter ihrem Vorsitzenden Joachim Gauck - verabschiedet eine Erschließung
    zur Rehabilitierung sogenannte Kriegsverräter.
    Die Große Koalition zögert weiter. Da bestellt die CDU/CSU als Sachverständigen Prof. Rolf-Dieter Müller, Wissenschaftlicher Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam. Müller soll die Forschungen von Wette überprüfen. Und tatsächlich – Professor Müller scheint einen Fall von "echtem" Kriegsverrat entdeckt zu haben. Es handelt sich dabei um das Urteil gegen General Edgar Feuchtinger. Feuchtinger sei wegen Kriegsverrats zum Tode verurteilt worden, da er seiner Freundin in einem Brief mitgeteilt hat, welche Aufgaben ihm bei der anstehenden Ardennenoffensive zufallen sollten.
    Helmut Kramer, ehemaliger Richter am Oberlandesgericht Braunschweig und Sachverständiger im Rechtsausschuss forscht nach. In einem vor wenigen Wochen verfassten Aufsatz "Geschichtsfälschung im Dienst der Politik" stellt er zum Fall Feuchtinger klar:

    Kriegsverrat begehen konnte man, abgesehen von Sabotagefallen, nur durch den Verrat eines militärischen Geheimnisses an einen Feind. Eine Geliebte ist aber weder ein Feind noch eine ausländische Macht, wie dies §91 b Strafgesetzbuch, § 57 Reichsmilitärgesetzbuch erforderten.

    Kramer bittet Müller um eine Kopie des Urteils. Der verweist ihn an das Militärarchiv in Freiburg. Dort ist niemandem der geschilderte Fall bekannt. Kramer wendet sich erneut an Müller.

    Aus der von ihm jetzt endlich genannten Quelle, nämlich einer Stellungnahme eines ehemaligen Richters am Reichskriegsgericht, Dr. Block, ergibt sich, dass Feuchtinger wegen Wehrkraftzersetzung, also nicht wegen Kriegsverrat, verurteilt worden ist.

    Müller habe – so Kramer – das Kriegsverratsurteil frei erfunden. Und weiter schreibt er, Feuchtinger sei bereits aufgrund des Unrechtsbeseitigungsgesetzes von 1998 rehabilitiert worden.
    Teile der SPD formulieren inzwischen einen Gruppenantrag zusammen mit den Fraktionen der LINKEN und der GRÜNEN sowie mit zwei Mitgliedern der FDP und der CDU. Sie wollen alle Kriegsverräter von jeder Schuld freisprechen.
    Dem schließt sich nun auch die SPD-Spitze an. Die CDU/CSU ändert ihre Meinung, nachdem als Gutachter der ehemaliger Bundesverfassungsrichter Prof. Hans-Hugo Klein den Kriegsverräter-Paragrafen von 1934 als ein Instrument der NS-Justiz entlarvt, das es erlaubt, willkürlich nahezu jedes missliebige Verhalten mit dem Tode bestrafen zu können.
    Klein führt weiter aus, dieser Paragraf sei mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar. Nun ist der Weg frei. Im Juli 2009 entwerfen SPD und CDU/CSU einen gemeinsamen Gesetzentwurf, der – wie der ursprüngliche Antrag der Linken – die pauschale Rehabilitierung der sogenannte Kriegsverräter vorsieht.
    Norbert Geis indes, CSU Berichterstatter im Rechtsausschuss des Bundestages ist weiterhin gegen die pauschale Rehabilitierung von sogenannte Kriegsverrätern.

    "Ich habe dem Kollegen Gheb gesagt: Wenn ihr in diese Richtung geht, lege ich meine Berichterstattung nieder. Und das hat dann Gehb auch als Arbeitsgruppen-Vorsitzender übernehmen müssen."

    Jürgen Gehb, neuer rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, wollte sich zur neuen Position der Unionsparteien für diese Sendung nicht äußern, genauso wenig wie seine Stellvertreterin. Den Umschwung in der Union erklärt sich Geis so:

    "Das hängt auch damit zusammen, dass die Union in gar keinem Fall sich gefallen lassen will, in der Öffentlichkeit als eine Partei dazustehen, die in einer solchen Frage das schützt oder das stützt, was Hitler getan hat. Jetzt sind wir im Wahlkampf und jetzt wollen wir nicht eine solche Diskussion in der Öffentlichkeit."

    Am 26. August wird nun auf einer Sondersitzung voraussichtlich die Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages die Urteile gegen sogenannte Kriegsverräter aufheben. Nur zwei Tagesordnungspunkte sind vorgesehen. Eine Debatte über die Kriegsverräter ist erst mal nicht vorgesehen. Das wollen die Linken verhindern. Jan Korte:

    "Nach dreieinhalb Jahren Diskussion, also das nicht im Plenum zu diskutieren vor der abschließenden Beschlussfassung, also das kann doch nicht allen Ernstes der Bundestag hier machen. Damit würde man sich nun wirklich komplett lächerlich machen. Das muss diskutiert werden. Ich denke, dass auch die Bevölkerung und die Interessierten und vor allem diejenigen, die für diese Rehabilitierung gekämpft haben die letzten Jahrzehnte, ein Anrecht haben, die Positionen der Fraktionen zu hören, wie man jetzt zu dieser einmütigen Haltung eigentlich gekommen ist. Soviel Respekt muss sein."