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Fast ein Journal

Als 1870 der deutsch-französische Waffenstillstand geschlossen und der Friedensvertrag von Versailles unterzeichnet wird, nach der Niederlage von Sedan und den "Blutwochen" von Paris, sitzt ein grantelnder Gustave Flaubert über seinem Roman "Bouvard und Pécuchet" und fragt: "Wer in diesem erbärmlichen Land kümmert sich noch um Literatur? Ein einziger. Ich!" Flaubert waren seine Zeitgenossen zuwider, eine Gesellschaft, in der der Plebs herrsche. Das jedenfalls teilte er in den 70er Jahren seinem russischen Freund Iwan Turgenjew mit. Flauberts Zeitgenosse Fjodor Dostojewski allerdings dürfte das etwas anders gesehen haben. Er schrieb zur selben Zeit an einem gewichtigen Gesellschaftsporträt, in dem er die kühne Vision einer versöhnten Menschheit entwarf und sie nicht nur einer Person, sondern ganz Russland mitteilte.

Ante Strubek |
    Auch später noch hat die Geschichtsutopie Dostojewskis aus dem "Tagebuch eines Schriftstellers" Literaten und Philosophen wie Thomas Mann oder Karl Jaspers beeindruckt. Politische Ereignisse, Gerichtsprozesse, historisch oder philosophische Betrachtungen, religiöse Fragen und Moralbekenntnisse machen das Konvolut der Essays und Prosastücke aus, die Dostojewski zwischen 1876-1881 in einer eigens dafür herausgegebenen Zeitschrift veröffentlichte. Und vielleicht zeichnen sich in den konträren Einstellungen von Flaubert und Dostojewski ihrer Epoche gegenüber schon die zwei wesentlichen Charakteristiken der beginnenden literarischen Moderne ab. Während der eine aus einer weltabgewandten Ekelposition heraus den Untergang vorhersagt; "Ich fühle eine heillose Barbarei aus dem Boden steigen", geht der andere messianisch aufpeitschend mit der Fackel voran und verkündet das "goldene Zeitalter".

    Die nicht im traditionellen Sinn als Tagebuch zu verstehende Textsammlung stellt ein Fortsetzungswerk dar, das, stilistisch und thematisch offen, einmal im Monat erschien und
    zumindest formal den moralischen Aufklärungsschriften eines Gottsched im 18. Jahrhundert glich. In dem jetzt vorliegenden Auswahlband, erschienen bei Aufbau, unternehmen die Herausgeber den Versuch, mit der Zusammenstellung der wichtigsten und zum Teil in Deutschland noch nicht veröffentlichten Schriften einen Einblick in die Ideensyntax ihres Autors zu geben. Russland und Westeuropa, Deutschland und Asien bilden zumindest geopolitisch die Anziehungspunkte Dostojewskischen Denkens. Hier würde vorgeprägt, was auch heute noch die politische Debatte in Russland bestimme, wie in Michael Wegners ausführlichem Vorwort zur Editions- und Ideengeschichte des Tagebuchs zu lesen ist.

    Die aktuelle Diskussion über ein Modernitätskonzept für das heutige Russland stütze sich auf drei, bereits bei Dostojewski erkennbare Standpunkte: Solle Russland sich politisch an Westeuropa und Nordamerika orientieren, wie es Zar Peter der I. forderte, sich lieber Richtung Asien öffnen oder solle man Alexander Solschenizyn in seiner Besinnung auf das Nationalgefühl und die Wahrung russisch-orthodoxer Werte folgen? Dostojewski drängt das Woher und Wohin der russischen Identität in eine christlich-konservative Richtung. In seiner Utopie aus historischer Wahrheit und literarischer Fiktion entwirft er ein christliches Ideal der Brüderlichkeit, oder, wie Georg Lukács befand, das Ideal "einer christlichen allumfassenden Menschengemeinschaft als dichterische Vorwegnahme eines ersehnten Weltzustandes".

    Mit der abgebrüht resignativen Ironie heutiger Kultur, die das böse Erwachen beherrschen gelernt hat, ist diesem pathetischen Weltentwurf von immerhin 400 Seiten nicht beizukommen. Man müßte sich schon dauerhaft in einen schlafwandlerischen Zustand versetzen können.

    Das Ideal von Menschenliebe und Brüderlichkeit ist bei Dostojewski nämlich nicht zu haben ohne die abstrakte Besessenheit von der Idee des russischen Bauern als potentieller Erlösergestalt und zwar nicht nur für Russland, sondern für ganz Europa. Mit der Glorifizierung des Volkes als Heilsbringer, einer Glorifizierung, die mit dem reinen Herzen, der Unverbildetheit und Unverderbtheit des Bauern erkauft werden muß, gerät das Ideal allerdings an den Rand religiös motivierter Ideologie, die nicht nur heute fragwürdig scheint. Mag in der Zeit nach dem Ende der Leibeigenschaft die gesellschaftliche Rolle des Bauern noch zu definieren gewesen sein, die Konsequenzen der Bauern-Befreiung hat Iwan Turgenjew im Roman "Väter und Söhne" auch damals schon weitaus hellsichtiger und weniger illusionär bewertet.

    Den zeitgenössischen Vorbehalten greift Dostojewski gleich selbst voraus. Eventuelle Widerreden und Proteste aus Leserbriefen macht er sich geschickt zunutze, indem er sie mit dem Stacheldraht der eigenen Rede umgibt. Allerdings wird dabei nicht, wie die Herausgeber es ähnlich im Vorwort behaupten, analytisch argumentiert. Anstelle von Beweisführungen finden meist Beschwörungen statt, Lobpreisungen des Volkes mischen sich mit Verachtungstiraden gegen die Borniertheit der gebildeten Schicht, am interessantesten sind die literarischen Skizzen. Die Frage nach der russischen Identität scheint ein Magnetfeld zu sein, das unterschiedslos jedes Thema ansaugt und sich zu eigen macht. Fast als Nebenprodukte fallen Gedanken über die Prahlsucht der Deutschen ab angesichts der gestärkten politischen Position nach dem Sieg über die Franzosen, über russischen Antisemitismus, den Weltherrschaftsanspruch des römischen Katholizismus oder über die finanzielle Situation Russlands. "Jahr für Jahr", heißt es, "reduzieren wir unsere Personaletats", aber "was man erst einmal beseitigt hat, läßt sich nur schwer wieder ersetzen", Essays also, die fast unkorrigiert als interessante Diskussionsbeiträge in die nächste Steuerdebatte bei Sabine Christiansen eingebracht werden könnten.

    Selbst der Tod von George Sand gerät Dostojewski nicht wie seinem Zeitgenosse Flaubert zu einem persönlichen Nachruf, sondern ist nur ein weiterer Anlaß, über die Bestimmung des russischen Menschen zu räsonieren. Aber so sehr er auch um eine Identitätsbestimmung bemüht ist, das Zentrum bleibt schließlich leer. Diese Leere ist es jedoch, die den Zwang zur Bedeutungsgebung ständig neu entfacht und auch vor skurrilen Behauptungen nicht zurückschreckt. Den Russen, so Dostojewski etwa, treibe es vor allen anderen Nationalitäten dazu, in erster Reihe am Grabe von George Sand zu stehen, da die Allgemeinmenschlichkeit eben seine erhabenste aller erhabenen Bestimmungen sei.

    Nationale Identität, so könnte man aus dem "Tagebuch eines Schriftstellers" schließen, ist etwas, das es nicht gibt, das immer nur im Entstehen ist, also ständig neu debattiert werden muß und zwar nicht nur in Russland. Auch über ein gemeinsames Europa hat Dostojewski sich bereits Gedanken gemacht, wobei er allerdings Russland, den Geburtsort des reinen, ehrlichen, des neuen Menschen, als Vorreiter sah und die russisch-orthodoxe Rechtgläubigkeit zum Bindeglied machte.

    Es muss also weitergeredet werden, koste es, was es wolle. Am "Tagebuch eines Schriftstellers" ist vielleicht Dostojewskis Enthusiasmus, seine mitreißende Art zu reden, am Ende das Russischste und das Symphatische.

    Fjodor Dostojewski
    Tagebuch eines Schriftstellers
    Aufbau-Verlag, 380 S., EUR 22,50