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Fast eine Insel der Seligen?

Die Familie Ullmann kann man durchaus als eine typische Mittelstandsfamilie betrachten. Sie lebt in Amriswil, ein Städtchen im Bodenseekanton Turgau. Die 49-jährige Ruth Ullmann arbeitet halbtags als Kindergärtnerin, ihr 55-jähriger Mann Bruno als Lehrer an einer Grundschule. Das Paar hat drei Kinder zwischen 14 und 23 Jahren. In einer Siedlung am Rand von Amriswil haben sich die Ullmanns ein Haus gebaut. Materiell, so sagen sie, sind sie gut versorgt, mit ihrem Lebensstandard sind sie zufrieden.

Joachim Schubert-Ankenbauer |
    Natürlich gehen wir wählen, sagt Ruth Ullmann. Und Bruno Ullmann fügt hinzu:

    Wir leben ja in einer direkten Demokratie und da ist nun einmal das Wahlprocedere ein ganz wichtiges. Natürlich können wir den Bundespräsidenten nicht selber wählen. Aber wir wählen wenigstens unsere Volksvertreter.
    Mit dem Wählen sind die Ullmanns allerdings in der Minderheit: bei den Wahlen zu beiden Kammern des Schweizer Parlamentes geht die Beteiligung seit 50 Jahren kontinuierlich zurück, 1999 lag sie bei gerade mal 43,3 Prozent.

    Das hat viele Gründe. Einer davon dürfte im politischen System der Schweiz selbst liegen. Claude Longchamp ist einer der wichtigsten Meinungsforscher der Schweiz. Bei allen Wahlen tritt er mit akkurat gebundener Fliege auf, um den Schweizern die Ergebnisse zu erklären. Er meint:

    Wir haben seit den letzten Wahlen 47 Volksabstimmungen durchgeführt auf eidgenössischer Ebene - das ist ein Rekord. Und wir haben schon gar nicht mehr zählbare Zahlen von kantonalen Volksabstimmungen - das geht in die Tausende, wenn man alle Kantone zusammennimmt. Es ist ganz klar: für die sachpolitische, die thematische Auseinandersetzung sind die Wahlen nicht bedeutsam. Sie sind für die politische Symbolik wichtig. und sie sind vielleicht auch einmal für die Zusammensetzung der Landesregierung einmal ein Anhaltspunkt.

    Bei den Volksabstimmungen geht es – im Gegensatz zu den Parlamentswahlen immer um konkrete Fragen - Asyl, Abtreibung, Liberalisierung des Strommarktes oder ein Beitritt zur UNO. Über diese Fragen wird dann heiß diskutiert und mit dem einem Votum auch eine Entscheidung getroffen. Die Volksabstimmungen sind das eigentliche Rückrat der direkten Demokratie. Sie führen aber auch zu einer gewissen Wahlmüdigkeit.

    Ein zweites kommt noch hinzu: Pascal Couchepin ist zwar zur Zeit Bundespräsident der Schweiz - für Schweizer Verhältnisse ein klar profilierter und machtbewusster dazu. Er residiert bescheiden und sympathisch unprätentiös in Bern, sein Arbeitszimmer entspricht in der Größe dem eines Abteilungsleiters. Keine Leibwache, keine Sicherheitsschleuse schützt ihn - was übrigens für alle Schweizer Spitzenpolitiker gilt. Couchepin stammt aus der französischsprachigen Schweiz. Als Bundespräsident ist der Mitglied des Bundesrates.

    Der Staatsoberhaupt ist kollektiv der Bundesrat. Der Bundespräsident ist der erste unter den sieben Bundesräten. Dann nächstes Jahr bin ich wieder ein Bundesrat unter anderen. Wenn ich wieder Herrn Schröder treffen werde, glaube ich, er wird mich erkennen.

    Couchepin ist nur für ein Jahr Präsident der Schweiz. Das Amt wird unter den Mitgliedern des Bundesrates rotierend vergeben - für jeweils ein Jahr. Dieser Bundesrat ist sozusagen Kabinett und Regierungschef in einem. Frauen und Männer gehören dazu - sie wechseln nicht nur den Posten des Bundespräsidenten untereinander aus sondern auch die Ressorts. Pascal Couchepin war bis vor einem Jahr Wirtschaftsminister - jetzt ist er - neben seinem Amt als Bundespräsident - Innenminister, zu seinen Aufgaben gehören auch das Renten- oder das Gesundheitssystem. Der Bundesrat stimmt nicht ab, er bemüht sich, im Konsens zu entscheiden, die Schweizer nennen das "Kollegialitätsprinzip". Dieses Regierungsgremium hat aber noch eine weitere Besonderheit. Claude Longchamp:

    Was natürlich ganz wichtig ist: die Bundesregierung hängt natürlich nicht von der Wahl ab, sondern der Schweizer Bundesrat wird durch das Parlament bestimmt - allerdings: so lange wir eine Konkordanzregierung mit dem Zusammenschluss aller vier Parteien haben, ist die Chance von Änderungen nicht allzu groß.

    Das heißt: alle großen Parteien werden am Bundesrat beteiligt - es gibt keine Regierungskoalition wie in Deutschland die Kanzler und Kabinett stellt. Seit Jahrzehnten schon werden die sieben Bundesratssitze in einem festen Schlüssel an die vier großen Parteien verteilt - Sozialdemokraten, Liberale und Christliche Volkspartei bekommen je zwei Sitze, die Schweizer Volkspartei eine.

    Zusätzlich kompliziert wird die Sache dadurch, dass der Proporz in der Schweiz ausgesprochen wichtig ist. Zum Einen, weil die Kantone neben dem Bund die eigentlichen Machtzentren bilden, stärker noch als die deutschen Bundesländer. Zum anderen, weil die Schweiz aus drei Gebieten besteht, die in ihrer Sprache und Kultur ziemlich unterschiedlich sind - deutsch, französisch und italienisch - ein Europa im kleinen. Da ist es wichtig, möglichst alle einzubinden, Posten nach Geschlecht, Herkunft, Sprache, politische Richtung gleichgewichtig zu verteilen - so gut es eben geht.

    Mit anderen Worten: Familie Ullmann geht zwar wählen - aber es ist schon vorher so vieles festgezurrt, dass ihre Stimme eigentlich nicht viel bewegt. Die Regierung sieht nach den Wahlen im großen und ganzen genauso aus wie vorher.
    Auch das dürfte die allgemeine Motivation der Wähler nicht gerade erhöhen.

    Das System der Schweiz gilt dadurch zwar als vergleichsweise langsam und unbeweglich. Aber, so Professor Hans-Peter Kriesi, Politikwissenschaftler an der Universität Zürich: dafür ist es ausgesprochen stabil:

    Die Institutionen sind so konstruiert, dass sie Spannungen sehr gut absorbieren. Ich denke da vor allem an die direkte Demokratie. Die direkte Demokratie ist hoch legitim in der Schweiz. Die Tatsache, dass wir so konsensual sind in unserer Politik, dass unsere Politik geleitet wird durch eine Regierung, die eine Allparteienregierung ist, dass alle wesentlichen politischen Kräfte an der Regierung beteiligt sind - das hat sehr viel mit der Existenz der direkten Demokratie zu tun.

    Der Schweizer Friede aber ist seit gut einem Jahrzehnt gestört, die politische Landschaft im Verhältnis zu früher polarisiert. Dafür steht eine Partei: die Schweizerische Volkspartei SVP. Und vor allem ein Mann: Christoph Blocher.
    Professor Kriesi meint über die SVP und Blocher:

    Blocher repräsentiert die Schweizer Variante eines allgemeinen Phänomens: Haider in Österreich, Madame Kjäärsgaard in Dänemark, le Pen in Frankreich, also es gibt einen nationalkonservativen Populismus überall in Europa - diese Strömung, die meiner Ansicht nach mit einem allgemeinen Phänomen zu tun hat. Das ist das Phänomen der Öffnung der Grenzen und des Niedergangs des Nationalstaates"

    Schweizer Variante bedeutet: die SVP war und ist mehr als eine Protestpartei. Es gibt sie schon seit über 30 Jahren. Sie ist entstanden aus dem Zusammenschluss zweier älterer Parteien, die schon immer den Anspruch erhoben, die Interessen der Bauern, Angestellten und Selbständigen zu vertreten - was die SVP bis heute tut.


    So richtig groß geworden sind Blocher und die SVP aber erst in den 90er Jahren. Mit der Debatte um einen Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR, der in einer Volksabstimmung abgelehnt wurde. Vor allem aber mit dem Streit um die Rolle der Schweiz im zweiten Weltkrieg, mit der Diskussion um Nazigold und jüdische Konti, wo sich die Eidgenossen härtester Kritik aus dem Ausland ausgesetzt sahen. Damals hat die SVP regelrecht begonnen, am rechten Rand zu fischen.

    In einer Ansprache, wo Blocher seine Kandidatur für 2003 erklärt, mischen sich perfekt die typischen Versatzstücke:

    Der Wirtschaft ginge es besser - wenn wir wieder Schweizerische Qualität in den Vordergrund stellten. Wenn wir unser Land wieder selber in die Hand nähmen und nicht einen Bückling machten vor jeder Nachfrage, die aus dem Ausland kommt. Ich bin überzeugt, es ginge uns politisch besser - wir hätten mehr Freiheit, wir könnten mehr bestimmen, die Leute hätten wieder mehr zu Leben, weil man ihnen weniger wegnimmt vom Staat. Wir hätten weniger Asylrechtsmissbrauch, wir hätten wieder mehr Platz für echte Flüchtlinge - aber die, die da sind, kämen nicht mehr ins Land.

    Blocher ist kein Volkstribun. Er hat nichts vom aggressiven Schneid eines Haiders, nichts von dem düsteren Habitus eine le Pen. Der 64-jährige wirkt im Auftreten mit seinen Anzügen von der Stange und seiner Brille vergleichsweise bieder und eher bauernschlau. Und, so sagt es Politikwissenschaftler Kriesi:

    Der Blocher der hat es ausgezeichnet verstanden, an die traditionellen Mythen und Symbole der schweizerischen Nationalität zu appellieren - um diese Schweiz, so wie er sie aufrechterhalten möchte, gegenüber der Öffnung nach außen zu verteidigen.

    Die SVP als Partei der kleinen Leute, Blocher als Vertreter der kleinen Schweiz - das ist umso erstaunlicher, als der Mann ein erfolgreicher, wohlhabender, international agierender Unternehmer ist. Er weiß sehr wohl, dass die Schweiz eng mit der EU verknüpft ist, die er so hart bekämpft.

    Blocher ist weder Gründer noch Parteichef der SVP. Er sitzt im Nationalrat und steht der Zürcher SVP vor. Aber seinen Stil haben gelehrige Schüler übernommen: Im Kanton Sankt Gallen, einer Hochburg der SVP, präsentierte die Partei ein Plakat für den Wahlkampf 2003. Darauf: ein Farbiger mit Nasenring und Sennenkäppchen unter der Überschrift: "Wir Schweizer sind immer mehr die Neger". Die öffentliche Reaktion war heftig - das Plakat verschwand. Toni Brunner, Parteichef der SVP in Sankt Gallen, verteidigt es trotzig:

    Es ist so, dass dieser Slogan ausdrückt, was weite Kreise der Bevölkerung beschäftigt. Denken sie nur an die Asylpolitik oder denken sie an die EU-Politik.

    Die kleinen Leute werden von der etablierten politischen Klasse verraten und verkauft – die SVP kämpft für sie - unter dieser Überschrift zieht die Partei in den Wahlkampf. Obwohl sie sich selbst längst etabliert hat, und sogar einen Sitz im Bundesrat hat. Aber sie schafft es bis heute, sich als einzige Opposition darzustellen. Auch indem sie ihren eigenen Bundesrat systematisch demontiert. Was ihr leicht gemacht wird, weil dieser mehr oder minder von den anderen Parteien gegen den Willen von Blocher und Co eingesetzt wurde.

    Diese SVP wird auch in diesem Jahr wieder Erfolg haben, meint Claude Longchamp:

    Die Schweizerische Volkspartei hat seit 1999 auf allen Kantonsebenen zwischen vier und fünf Prozent zulegen können. Das würde also heißen, dass sie Aussicht hat von heute 22 Prozent eine Partei zu werden, von 25 bis vielleicht 27 Prozent. Die Frage ist eher: wer verliert? Wer verliert in welchem Masse? Und da gehen die Prognosen in der Regel in die folgende Richtung: bei den Sozialdemokraten erwarten sie, dass sie als Gegenstück zur Volkspartei in einem etwas bescheideneren Masse auch gewinnen werden. Und dass das Parteipolitisch organisierte Zentrum, die Mitte, mit der Freisinnigen Partei und der CVP eher zu den Verlierern zählen werden.

    Entsprechend groß ist die Nervosität in den anderen Parteien. Vor allem bei den Liberalen, die in der Schweiz traditionell eine wichtigere Rolle spielen als in Deutschland. Ebenso die Christliche Volkspartei. Beide haben in den letzten Jahren verloren. Generell haben sie oft ungeschickt auf die aggressive SVP reagiert, die in der so konsens-orientieren Schweiz auftrat wie der Hecht im Karpfenteich. Teilweise haben die anderen Parteien versucht, den Stil der SVP nachzuahmen oder Themen selbst entsprechend zu besetzen. So ist das Asylrecht unter dem Druck der SvP auch mit Hilfe der CvP restriktiver geworden.

    Trotz ihrer Stärke bleibt die SvP im Wahljahr und Wahlkampf seltsam blass. Das hat damit zu tun, dass eines ihrer zentralen Themen fehlt: die Schweiz und die EU, die Insel im blauen Europameer, die sich wacker gegen die Überschwemmung aus Brüssel wehrt. Dabei hat sich die Meinung der Schweizer zu einem EU-Beitritt nicht geändert: die Mehrheit lehnt dies noch immer ab. Deshalb fassen die anderen Parteien das Thema auch kaum an. Es fragt aber auch kaum jemand danach. Die Schweiz hat sich im derzeitigen Status quo passabel eingerichtet.

    Die SVP kann aber auch deshalb nicht so richtig mit dem EU-Thema punkten, weil sich die Schweiz verändert hat in den letzten 10 Jahren. Dafür steht die harte Diskussion um ihre Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg, die von einer Historikerkommission so umfassend aufgearbeitet wurde, wie kaum in einem anderen Land. Dafür stehen zum einen die Schweizer Katastrophen wie der Brand im Gotthard, die Swiss-Air-Pleite oder die Rolle der Flugsicherung Skyguide beim Flugzeugunglück über den Bodensee.

    Für die veränderte Schweiz stehen aber auch Volksabstimmungen wie der Beitritt zur UNO oder eine Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes. Oder die Landesausstellung 2002, wo die Schweiz mit sich und ihren Symbolen spielte, wie das vorher kaum denkbar gewesen wäre. Dafür steht auch, dass die Schweiz heute ein Einwanderungsland geworden ist. Fast 20 Prozent Ausländer - das ist in anderen europäischen Ländern undenkbar. Eine Größe, die nicht mehr wegzudenken ist - trotz aller rechten Strömungen.

    Damit ist der nationalkonservativen SVP ein klassisches Betätigungsfeld am rechten Rand erst einmal verloren gegangen. Tatsächlich brennen den Schweizern ganz andere, ganz konkrete Probleme auf den Nägeln. Die spielen in diesem Wahlkampf die Hauptrolle.

    Rund 30tausend Menschen demonstrierten Mitte September in Bern. Ungewöhnlich viel für Schweizer Verhältnisse. Sehr viele Rentnerinnen und Rentner waren darunter. Zusammengerufen von den Gewerkschaften und den Sozialdemokraten unter der Überschrift: Sozialabbau verhindern. Vor allem aber: einen Abbau der Renten verhindern. Obwohl das Schweizer System im Ausland immer wieder als Vorbild zitiert wird gibt es auch hier Probleme, die man in ganz Europa kennt. Auch hier stehen immer mehr Alte immer weniger Beitragszahlern gegenüber. Jetzt werden die Renten gekürzt.

    Der Vorschlag - Erhöhung des Rentenalters ist auch deshalb wenig populär, weil die Schweizer sowieso schon eine hohe Lebensarbeitszeit haben. Der Anteil derjenigen, die in Frührente gehen ist sehr, sehr viel niedriger, als in Deutschland. Wenn die heutigen Rentner aber protestieren, dann wissen sie: ihrer Generation ist noch gut gestellt.

    Im Protest gegen einen Sozialbabbau haben die Sozialdemokraten und Gewerkschaften eine gute Wahlplattform gefunden. In der Schweiz wurde Selbstverantwortung zwar traditionell schon immer hoch geschrieben, lange Zeit lehnte sich das Land im sozialen Bereich eher an US-amerikanische denn europäische Verhältnisse an. Aber, so meint Professor Kriesi:

    Die Schweiz hat sich auch gewandelt, insofern als sie zu einem Wohlfahrtsstaat geworden ist. Die Schweiz wurde erst spät zu einem Wohlfahrtsstaat, der der europäischen Variante der kontinentalen Wohlfahrtsstaaten entspricht.

    Das gilt besonders auch für das Gesundheitssystem. Auch dieses wird als Vorbild gelobt - weil es vergleichsweise viel Eigenverantwortung voraussetzt und unterschiedslos jeden zur Kasse bittet. Aber dafür gehört das Schweizer System zu den teuersten der Welt. Die Prämien für die Krankenkassen explodieren förmlich. In diesem Jahr gehen sie im Durchschnitt um 5 bis 6 Prozent nach oben, bei manchen Versicherungen bis zu stolzen 40 Prozent.

    Die explodierenden Prämien bringt vor allem Familien mit mittleren und kleineren Einkommen in Schwierigkeiten - da jedes Familienmitglied zahlen muss, der Arbeitgeber trägt nichts dazu bei. Im Kanton Genf beispielsweise kann eine vierköpfige Familie monatlich auf über 1000 Franken Prämie kommen. Das ist - bezogen auf das definierte Schweizer Durchschnittseinkommen von 5200 Franken - ein ziemlicher Batzen. Zwar werden Familien mit kleinem Budget staatlich unterstützt - aber die Kostenseite bekommt man so nicht in den Griff.

    Hier liegen viele, heftig umstrittene Vorschläge auf dem Tisch, Bewegung gibt es derzeit kaum. Eine jüngste Umfrage zeigt auch: die Schweizer wollen keine Abstriche an der hohen Qualität des Gesundheitssystems hinnehmen.

    Neben Rente und Gesundheit kommt ein drittes Problem hinzu: der Arbeitsmarkt. Mit etwa 3,5 Prozent sind die Arbeitslosenzahlen zwar traumhaft niedrig. Das hat viele Gründe. Arbeitgeber zitieren gern die Flexibilität des Tarifsystems: es gibt kaum Flächentarifverträge, Löhne können in Unternehmen individuell ausgehandelt werden. Und der Kündigungsschutz ist deutlich schwächer ausgebaut als in Deutschland.

    Die Schweizer gelten als leistungsorientiert und wirtschaftsfreundlich. Aber: eben weil der Arbeitsmarkt als flexibel gilt, wird die jetzige Zahl der Arbeitslosen als besorgniserregend empfunden. Viele haben Angst, keine neue Stelle mehr zu finden. Und: die Jugendarbeitslosigkeit steigt, es wird immer schwerer, Lehrstellen zu finden.

    Die steigenden Kosten in vielen Bereichen bei unverändert hohen Preisen im Alltag - all das nagt an den Budgets der Familien mit kleinen und mittleren Einkommen. Schon mit einem Verdienst von 4 bis 5tausend Franken kann es in Städten wie Zürich oder Genf ziemlich eng werden, wenn man Kinder hat.

    So haben sich also in der Schweiz eine Reihe von Problemen angesammelt - bei den Renten, bei der Gesundheit, in der Wirtschaft, auf dem Arbeitsmarkt.

    Probleme, die vielen Bürgern wichtiger sind als abstrakte Diskussionen über die Rolle der Schweiz im internationalen Gefüge.

    Diese allgemeine Verunsicherung versuchen die Parteien auszunutzen. Die Sozialdemokraten, indem sie sich für den Erhalt des derzeitigen Status quo stark machen. Die Schweizer Volkspartei, indem die versucht, sich als Sprachrohr der Verunsicherten zu empfehlen.
    Ihr Symbol des Wahlkampfes: ein gerupftes Huhn. Daneben der Spruch: "Das haben wir den anderen Parteien zu verdanken."

    Aber: die SVP gerät mit solchen Sprüchen in eine Zwickmühle. Politisch gesehen ist sie eine nationalkonservative Partei die am rechten Rand fischt - wirtschaftlich gesehen aber knallhart neoliberal. Weniger Staat, mehr Selbstverantwortung, lautet ihr Credo. Die Antworten, die sie daher auf Probleme wie Rente oder Gesundheit gibt, sind daher mitnichten immer im Sinne der kleinen Leute. So fordert sie zum Beispiel den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung herunterzufahren. Oder sie hat massiv ein Kartellgesetz bekämpft, das das hohe Preisniveau in der Schweiz aufbrechen sollte.

    Weil die SVP diese entweder nicht deutlich geben will oder auch nicht hat, schlägt sie eben auf die anderen Parteien ein - in der Hoffnung, so Wählerstimmen zu bekommen. Eine Rechnung, die für diese Wahl auch noch aufgehen dürfte. Längerfristig, so meint der Meinungsforscher Longchamp, dürfte die Schweizer Volkspartei Probleme mit dieser Strategie Probleme bekommen. Denn: aufgrund ihrer Stärke steht ihr ein zweiter Sitz im Bundesrat eigentlich zu, sie fordert ihn auch offiziell ein. Aber Longchamps meint:

    Der Eintritt in die Landesregierung und auch die Verstärkung in einer Landesregierung ist bisher immer damit verbunden, dass man von ihr auch verstärkte Loyalität in der Regierung erwartet hat, dass man weniger Opposition macht, und da bin ich nicht so sicher, ob die SVP nun wirklich bereit ist, wenn das der politische Preis sein würde für einen zweiten Sitz, bereit wäre, diese Rechnung jetzt schon einzulösen. Ich denke nicht, dass es viel Sinn macht, dass eine Partei mit zwei von sieben Ministern beteiligt wird - fast ein Drittel der Regierung wäre dann mit einer Quasi-Oppositionspartei repräsentiert. Ich glaube, dass das nicht viel Sinn macht - außer die Partei ändert ihren politischen Kurs.

    Je stärker die SVP wird, desto schwieriger wird für sie der Spagat zwischen der Opposition, als die sie sich gibt und der Verantwortung, den Antworten, die man ihr abverlangt. Der reine, rechtslastige Protest der 90er Jahre, so Longchamp, wird nicht auf Dauer tragen. Und die Partei hat ihn bereits entschärft. Längerfristig, so die Prognose, wird sich die SvP als bürgerliche Partei etablieren, in einer Mischung, die am ehesten vielleicht noch der bayrischen CSU entspricht.

    Wohin die Schweiz also geht - das wird sich nicht mit der Wahl sondern erst in den nächsten Jahren entscheiden. Zur Zeit ist sie zwar stabil wie immer - aber unruhig, auf der Suche. Eines aber, das sehen alle Befragten so, ist sicher: eine Insel der Seligen ist die Schweiz nicht.