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Feiertage sind wichtig für langfristige Kultur

Der Trierer Bischof Reinhard Marx hat sich gegen Überlegungen gewandt, Feiertage wie den Ostermontag zugunsten der Wirtschaft abzuschaffen. Für eine langfristige Kultur seien solche Feiertage wichtig, so der Bischof. Außerdem wandte er sich gegen aktive Sterbehilfe. Jemanden auf dem Weg des Sterbens aber zu begleiten und Schmerzen zu lindern, sei jedoch im christlichen Sinne.

Moderation: Burkhard Birke |
    Burkhard Birke: Die Christen feiern heute Ostern, das Fest der Auferstehung Jesu Christi. Die Karwoche mit der Erinnerung an das erste Abendmahl, dem Tod Jesu am Kreuz, ist gerade zu Ende gegangen. Bischof Marx, geht die Erinnerung, geht die christliche Botschaft zu diesem Feiertag nicht verloren in einer zunehmend vom Kommerz geprägten Welt, in der Ostereier und Osterhasen wichtiger als alles andere zu sein scheint?

    Bischof Reinhard Marx: Das ist sicher eine Gefahr, und dass Menschen eben das Oberflächliche vorziehen und nicht so tief eindringen, das war aber wahrscheinlich zu allen Zeiten so. Ich empfinde es aber auch als eine Botschaft, die wirklich unvergleichlich ist, ich wüsste keine stärke. Und wenn Menschen das dann entdeckt haben, dass es hier um eine unzerstörbare Freude geht, um eine Botschaft, die stärker ist als der Tod und die selbst die Macht des Todes überwindet, dann merkt man ja: Wo ist die Alternative? Der Osterhase kann ja nicht die Alternative zur Osterbotschaft sein, oder der Konsum ist ja nicht ein Ersatz für Gott. Und dann merkt man doch: Diese Botschaft wird Bestand haben.

    Birke: Und wie lautet die Kernbotschaft, die Sie heute in die Welt hinaustragen?

    Marx: Für mich ist die Kernbotschaft an Ostern: Gott hat einen Aufstand gegen alle Mächte des Todes, der Gewalt, der Sünde, der Angst inszeniert und gewonnen. Wenn man so will, etwas mit menschlichen Worten gesprochen: In Jesus Christus ist uns ein Leben geschenkt, das auch im Tod Bestand hat. Und da gibt es keine Alternative, die stärker wäre.

    Birke: Nun haben wir im Moment in Deutschland, Bischof Marx, ja eine intensive Diskussion um die Schaffung von Arbeitsplätzen. Wir haben über fünf Millionen Arbeitslose. Und all die Menschen werden vielleicht auch Ostern in einem anderen Licht sehen, womöglich in dem Licht, dass man sagt: Sollte man nicht auf Ostermontag als Feiertag verzichten, um die Wirtschaft anzukurbeln?

    Marx: Ich würde umgekehrt argumentieren. Was wäre, wenn in all den Problemen, die wir haben, die wir früher hatten - da gab es vielleicht Kriegszeiten, da gab es Hungerperioden, heute haben wir Probleme mit der Arbeitslosigkeit oder persönliche Probleme, jemand liegt im Krankenhaus heute, in dieser Stunde, wo wir miteinander reden - was wäre es, wenn wir die Osterbotschaft nicht haben? Würde unser Leben leichter sein, wenn wir nicht eine Hoffnung hätten, die wirklich stark ist und die uns auch ermutigt, die Probleme, die da sind, anzupacken, in der festen Überzeugung, dass wir das Paradies auf Erden nicht schaffen? Wir werden nicht alle Probleme lösen, wer sind wir denn?

    Wir werden nicht alle Probleme lösen, aber wir können sehr viel tun, weil unser Leben angenommen ist von Gott und weil Gott auch investiert hat in unser Leben. Er glaubt, dass wir etwas bewegen können. Der Mensch ist zu großen Dingen fähig, wie wir wissen aus der Geschichte. Und deswegen ist eigentlich die Osterbotschaft eine Ermutigung, auch die Probleme, die da sind, anzupacken - aber nicht in einer wehleidigen und runterhängenden Art, indem man sich gegenseitig die Schuld zuweist, sondern indem man zusammensteht und sagt: So, was können wir denn jetzt tun? Und insofern meine ich, ist die Osterbotschaft gerade heute notwendig, vielleicht sogar auch der Ostermontag noch.

    Birke: Vielleicht - das heißt, Sie würden es durchaus nicht ausschließen, dass man es den Gläubigen auch anheim stellen könnte, an diesem Tag zu arbeiten und diesen Tag als offiziellen Feiertag - er existiert ja in einer Fülle von Ländern nicht - dann eben auch preisgäbe?

    Marx: Ich bin nicht dafür. Wenn man da anfängt und sagt: So, jetzt wollen wir die wirtschaftliche Logik eigentlich als die einzige und wichtigste nehmen, dann könnte man auch - ich will das provozierend sagen - die Kinderarbeit wieder einführen, dann kann man auch sagen: Was kostet uns der Sonntag. Dann könnten wir auch auf drei Sonntage im Jahr verzichten. Was würde uns das wirtschaftlich bringen? Wenn wir diese Logik einmal in Gang gebracht haben, dann sind wir, glaube ich, auf eine abschüssige Bahn. Es gibt bestimmte Dinge, bestimmte Räume, bestimmte Zeiten, bestimmte Werte, die nicht verrechenbar sind. Und die sind sehr, sehr wichtig für eine langfristige, beständige Kultur in einer Gesellschaft. Und dazu gehören die Feiertage, und da möchte ich eigentlich nicht dran rühren lassen, denn da sehe ich keinen Sinn. Wir haben Länder, in denen viele Feiertage sind. Die sind wirtschaftlich ganz gut drauf. Und andere Länder haben weniger, die sind wirtschaftlich nicht gut drauf. Also daran hängt es, glaube ich, nicht.

    Birke: Das heißt, Sie würden auch keine anderen christlichen Feiertage für die Wirtschaft zur Verfügung stellen?

    Marx: Nein, ich halte das für einen falschen Ansatz. Das ist ein falscher Ansatz, wir müssen andere Wege finden, um Arbeit zu schaffen, um Menschen zu ermutigen, auszubilden. Die Probleme sind vielfältig, die Probleme sind sicher nicht die Anzahl der Feiertage in Deutschland. Das ist nicht, glaube ich, unser Problem, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden.

    Birke: Bischof Marx, wir haben ja eingangs eben davon gesprochen, wie man die christliche Botschaft gerade in diesen heutigen sehr materiell geprägten Zeiten besser an die Menschen bringen könnte. Welche Rolle spielen da moderne Techniken? Werden Sie demnächst die christliche Botschaft per Handy und SMS auch übermitteln lassen?

    Marx: Das läuft ja schon. Also es gibt viele Jugendkapläne und Seelsorger, die natürlich ihre SMS-Botschaften rüberbringen. Das Wichtigste ist allerdings, neben allen technischen Mitteln - daran muss man festhalten - die persönliche Begegnung. Also Menschen suchen ja Zeugen, sie suchen authentische Persönlichkeiten, sie suchen Menschen, die wirklich glaubwürdig sind, die in der Begegnung auch eine Botschaft durch ihre Person ausstrahlen lassen.

    Birke: Die Botschaft dieser Woche ist ja auch die vom Leben und vom Sterben Jesu Christi. Gerade das Phänomen des Sterbens beschäftigt die Menschen in der öffentlichen Meinung in diesen Tagen ganz besonders. Der Fall Terri Schiavo in den USA, wo eine im Wachkoma liegende Frau nun - auch auf richterlichen Beschluss hin - nicht mehr künstlich ernährt werden soll, nachdem sie 15 Jahre in diesem Koma gelebt hat. Es gibt auch den preisgekrönten Film von Alejandro Amenábar über 'Das Meer in mir' - Mar Adentro -, wo der authentische Fall auch eines Querschnittsgelähmten geschildert wird, der nach 30 Jahren des Leidens selbst beschließt, sein Leben zu nehmen. So wie Jesus Christus freiwillig die Entscheidung getroffen hat, für die Menschen zu sterben, sollte es man den Menschen nicht freistellen, ob sie diesen Weg gehen?

    Marx: Jesus hat ja nicht einfach den Tod sozusagen für sich entschieden im Sinne einer Selbsttötung. Das ist etwas anderes. Wir haben keine Verfügungsmacht über unseren Tod, wohl aber über ein menschenwürdiges Sterben. Und ich glaube, die Diskussion ist notwendig, die auch jetzt geführt wird. Die moderne Medizin führt in Möglichkeiten hinein, die vorher nicht da waren. Aber es muss daran festgehalten werden, dass der Mensch nicht ein Recht hat, seinen eigenen Tod zu bestimmen, so wie er auch nicht das Recht hat, sich selber ins Leben zu bringen. Was wir aber tun müssen ist, alles in Gang zu bringen. Das ist aber auch eine Aufgabe an uns Christen: Wie können Menschen begleitet werden in der letzten Phase ihres Lebens? Und die Kirche war immer der Überzeugung: Es kann auch so etwas wie passive Sterbehilfe geben, das heißt, wenn der Sterbeprozess in Gang gekommen ist, können wir Menschen durch palliative Medizin erleichtern, schmerzfrei und in Würde dann zu sterben.

    All das sind Dinge, die müssen weiter diskutiert werden. Und da kann uns die moderne Medizin auch wieder positiv helfen. Man sieht nur die beiden Seiten: Die moderne Medizin gibt Möglichkeiten, und sie gibt auch wieder Gefahren mit auf den Weg, wo Menschen in Situationen kommen, wo sie neue Fragen beantworten müssen. Was in Amerika passiert, wäre bei uns ja so nicht mögliche. Es muss auf jeden Fall eine Patientenverfügung vorliegen. Deswegen haben wir als Kirchen auch - beide Kirchen - sehr initiiert, sich Gedanken über christliche Patientenverfügungen zu machen: Wie geht es eigentlich mit mir, wenn ich in eine schwierige Sterbephase hinein komme? Aber wir sind weiterhin der Überzeugung: Das Wachkoma ist keine Sterbephase, wie man ja auch sehen kann an den Bildern. Und darüber zu urteilen, ob dann ein anderer über den Tod und das Leben entscheidet, das, glaube ich, kann man nicht tun. Aber die Diskussion ist sehr, sehr nötig und muss weitergeführt werden.

    Birke: Nun gibt es ja verschiedene Überlegungen auf politischer Ebene, auch Patientenverfügungen gesetzlich zu verankern. Würden Sie, Bischof Marx, dafür plädieren, dass wir so eine Regelung hätten wie in den Vereinigten Staaten, wo ein Patient, bevor er sich einer schwierigen Operation unterzieht, eine Patientenverfügung hinterlässt?

    Marx: Wir als Christen haben das ja in Gang gebracht. Wir haben ja mit der Evangelischen Kirche zusammen ein Formular entwickelt. Daran kann man weiter arbeiten. Da gab es dann auch wieder kritische Punkte und Diskussionen. Also, das ist ja keine neue Debatte. Ich meine, das wäre sehr christlich und gut, zu überlegen: Wie kann ich eine Patientenverfügung machen, in der ich beschreibe: Möchte ich etwa, dass in der Sterbephase, dass in der letzten Phase meines Lebens alle technischen Mittel angewandt werden oder nicht. Aber wichtig ist für uns gewesen bis jetzt, und daran halte ich auch fest: Es muss die Sterbephase eingetreten sein. Patientenverfügung kann nicht bedeuten: Wenn es mir nicht so gut geht, gebe ich die Erlaubnis, dass man mich tötet.

    Birke: Ist das nicht eine Ermessensfrage? Der eine Mediziner sagt: Er ist todsterbenskrank, ...

    Marx: Ja, es bleibt für einen Nichtfachmann wie mich auch eine Frage dann an die Mediziner, und es wird da auch nicht einfach eine glasklare Grenze geben. Es wird sicher auch deswegen eine Diskussion sein in bestimmten Punkten, dass die Ärzte, Ethiker, Pfarrer dann bei einem Fall auch zusammenstehen, wie das ja heute auch der Fall ist, und versuchen, zu einem gemeinsamen Urteil zu kommen. Aber wichtig ist eben dann auch gerade eine Patientenverfügung, dass man unmissverständlich weiß, was derjenige gewollt hat. Denn sonst ist es doch sehr abhängig von dem, was die einzelnen dann an Überzeugung haben gerade.

    Birke: Das holländische Modell würden Sie aber ablehnen?

    Marx: Nun, das ist ja gar nicht diskutabel bei uns. Wir erleben das ja als eine Entwicklung, wo Menschen gegen ihren Willen umgebracht werden, wo alte Menschen die Grenze überschreiten, um Altenheime in Deutschland aufsuchen - in einem Artikel neulich wurde das im SPIEGEL ausführlich geschildert -, weil sie Angst haben, dass sie als 'überflüssig' umgebracht werden, auch wenn sie gar keine klare Willensentscheidung vorher gegeben haben. Es wird dann vermutet. Also, da ist ein Zug in Gang gekommen, den ich für außerordentlich bedrohlich halte, wo das menschliche Leben dann zur Position steht, und andere entscheiden über das Ende eines Lebens, ohne dass der einzelne mitbestimmen kann. Das halte ich für eine ganz gefährliche Entwicklung.

    Birke: Wie könnte man denn dieses Problem auch lösen bei der Patientenverfügung, die die beiden Kirchen hier in Deutschland angeregt haben? Denn auch hier bestünde ja theoretisch die Möglichkeit: Ein Patient verfügt, er will nicht unter allen Umständen am Leben erhalten werden. Da gibt es vielleicht dann ökonomische Interessen der Krankenkasse oder der Hinterbliebenen, die sagen, wir wollen nicht ständig das Pflegeheim für meine kranke Mutter bezahlen, lassen Sie uns doch einfach die Maschinen abstellen. Wie wollen Sie sicherstellen, dass hier kein Missbrauch stattfindet?

    Marx: Ja, es geht eben darum, dass wir klar festhalten: Es muss die Sterbephase eingetreten sein. Das heißt, nicht nur einfach ein Pflegefall. Und sicher muss man dann auch noch einmal medizinisch genau sich verständigen, wann das der Fall ist. Es mag sein, dass man da unterschiedliche Punkte finden kann, aber ich glaube, dass es ein Unterschied ist, ob es ein schwerer Pflegefall ist oder ob es jetzt in die letzte Phase hinein geht. Das kann man, glaube ich, schon unterscheiden, vielleicht nicht in einer Minute, aber so - Schritt für Schritt - spürt man: Jetzt ist die letzte Phase erreicht, wo jemand eigentlich schwächer wird und die letzte Phase vor ihm ist. Und dann erst kann die Frage der Patientenverfügung in Gang kommen. Darf ich dann einfach verlängern um einige Wochen, um einige Monate, und künstliche Dinge anwenden, obwohl der einzelne es untersagt hat. Das, meine ich, müsste durchaus möglich sein. Das darf nicht verwechselt werden mit einem ökonomischen Druck, wo dann versucht wird, zu sagen: Na ja, wir brauchen ein paar weniger Alte, wir brauchen wieder ein paar Betten. Das wäre eine Tendenz, die ist ja menschenunwürdig.

    Birke: Mit dem Stichwort 'die Alten', Bischof Marx, sind wir natürlich bei einem ganz großen Kernproblem unserer derzeitigen Sozialdebatte, denn wir haben ja auch ein Problem der Generationengerechtigkeit. Wie kann man dieses Problem lösen?

    Marx: Generationengerechtigkeit ist ja zunächst einmal eine nicht geschriebene Sache, sondern einfach ein Grund, auf dem wir stehen. Das heißt, wir leben davon, dass Menschen Familien gründen, dass Kinder da sind, dass die Generationen sich sozusagen die Aufgaben, die Erbschaften, die Chancen in die Hand geben - wie ein Staffellauf. Und wenn das unterbrochen wird in einer Phase wie unserer, wo die demografische Entwicklung schief eben läuft, dann ist das zunächst einmal eine ganz neue Situation, die wir in der Weltgeschichte noch nicht hatten. Es ist noch nicht vergleichbar, dass einfach eine demografische Situation entsteht, wo wie in einem Pilz die Alten sehr viele sind und die Jungen immer weniger werden.

    Birke: Aber das hat ja auch ökonomische Konsequenzen.

    Marx: Das hat ökonomische Konsequenzen, natürlich.

    Birke: Sollte man dann das Hüftgelenk für die über 70-Jährigen, wie es einst der Vorsitzende der Jungen Union Mißfelder gefordert hat, nicht mehr finanzieren oder sollte man, wie es ja auch in England zum Teil schon passiert, eben bestimmte gesundheitliche Maßnahmen für ältere Patienten aussetzen?

    Marx: Nun, für Christen gilt, das menschliche Leben ist in jeder Phase unantastbar. Und es gilt die Ethik: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Das heißt, du wirst einmal ein 70jähriger sein und du warst einmal ein Embryo. Du wirst vielleicht einmal ein Pflegefall, das heißt, was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu. Das gilt generell. Und wenn wir das auflösen, diese ethische Grundlage auflösen, dann sind wir am Ende. Dann sind wir auf einer moralischen abschüssigen Bahn, dann laufen wir in die moralische Sackgasse. Und daran muss man prinzipiell festhalten. Da wird nicht unterschieden zwischen: Aha, jetzt ist das Leben noch sinnvoll, jetzt ist es weniger sinnvoll, jetzt ist es lebenswert, weil ich vom Dreimeterbrett springen kann, jetzt ist es nicht lebenswert, weil ich einen Stock habe und so weiter. Das sind einfach Vorstellungen, die entsprechen nicht meinem Menschenbild und auch nicht dem Menschenbild des christlichen Abendlandes.

    Birke: Also ein klares Plädoyer eigentlich auch für den Kant'schen Imperativ.

    Marx: Absolut. Das ist ja das Kondensat des Evangeliums der Ethik, der goldenen Regel.

    Birke: Nur, wir blicken jetzt mal auf die aktuelle Situation und wir sehen eine zunehmend verarmende Gesellschaft, was Kinder und Familien anbetrifft, und wir sehen doch eine sehr wohlhabende ältere Generation. Wird es dauerhaft vermeidbar sein, dass hier ein Umverteilungsprozess von den Alten wieder zu den Jungen stattfindet?

    Marx: Das mag durchaus sein. Das betrifft ja jetzt nicht die Generation der jetzt Alten. Denen geht es ja in der Regel gut, obwohl man da auch - wenn man an die Entwicklung der Pflegeversicherung denkt - manche Sorgen haben muss, wie geht es in den nächsten Jahren weiter, wenn man gerade an die Pflegesituation denkt. Da habe ich noch manche Sorgen. Aber natürlich ist auch wichtig, und das haben wir in unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten eben immer zu wenig getan, dass unser Hauptinteresse sein muss, wie wächst die nächste Generation heran?

    Ich glaube, in Deutschland haben wir uns meistens mehr Sorgen gemacht über die Sicherung der Renten als über eine wirklich kreative Familienpolitik. Das muss man wirklich sagen. Der Adenauer hat damals eben gesagt, Kinder kriegen die Leute von selber, da braucht man sich gar keine Gedanken machen. Aber die Rentensicherung, das ist ganz, ganz entscheidend. Beides ist wichtig, aber wir haben zu wenig, und das wird in den nächsten Jahren sicher anders werden müssen, geachtet darauf, ob Menschen auch Lust auf Leben haben, ob sie Kinder zeugen, Familien gründen, ob sie in verlässlichen Beziehungen leben. Und das geht nicht nur durch finanzielle Umschichtungen.

    Das sind ja mentale Prozesse, das sind ja geistige Entscheidungen, die mit Werten zu tun haben. Das heißt, ich kann niemanden dafür kaufen, dass er eine Ehe schließt und Kinder zeugt, sondern er muss Lust auf Leben haben, er muss Freude an Kindern haben, er muss Freude an der Familie haben. Und wenn das nicht wieder wächst, dann ist das insgesamt für unsere Gesellschaft, glaube ich, bedrohlich.

    Birke: Gemessen an diesen Kriterien, Bischof Marx, wie würden Sie den von Ihnen mal angeregten 'Sozial-TÜV' jetzt dazu benutzen, um eine Bewertung der Sozialpolitik der Regierung und überhaupt der Politiker zu machen, auch nach dem Job-Gipfel. Wo stehen wir sozial?

    Marx: Der Sozialstaats-TÜV sollte ja auch ein wenig schauen, ob die Vielfältigkeit unserer sozialstaatlichen Leistungen überhaupt noch das erreicht, was eigentlich intendiert ist. Und ein Testfall, da gebe ich Ihnen recht, wäre: Was nützt der Familie? Nützen unsere sozialstaatlichen Initiativen und Gesetze wirklich der Familie? Und da ist, glaube ich, manches noch defizitär. Genau so könnte man eben fragen: Nützen unsere sozialstaatlichen Initiativen, das was wir sozialstaatlich tun, denen, die jetzt ausgeschlossen sind, zum Beispiel denen, die keine Bildungschancen haben, wo wir die Armen der Zukunft jetzt schon produzieren - in Anführungsstrichen "produzieren" natürlich gesagt.

    Ich habe neulich gelesen, dass 20 Prozent der Hauptschuljahrgänge zum Teil keinen Abschluss bekommen werden. Das betrifft besonders die ausländischen Jugendlichen. Also, wir haben da noch ungeheure Defizite und programmieren die Probleme der Zukunft jetzt schon. Das ist für uns ein Sozialstaats-TÜV, der die Testfragen, der diese Testfragen an die Wirklichkeit heranbringt und dann auch möglicherweise durch wissenschaftliche Analyse erhärtet. Das sind erst einmal Fragen, aber die wissenschaftliche Analyse müsste auch kommen.

    Birke: Also, dann doch Streichung der Eigenheimzulage zu Gunsten für mehr Ausgaben in Bildung und Unternehmenssteuern doch nicht senken?

    Marx: Ich würde umgekehrt sagen, die Steuerreform insgesamt in Gang bringen. Leider ist sie etwas eingeschlafen. Eine klare, transparente, durchsichtige Steuerreform. Das Unübersichtliche ist im Grunde genommen etwas, was auch sozialethisch bedenklich ist, wenn die Leute nicht mehr durchschauen. Und vor allen Dingen auch Steuern, die deutlich machen: Wir können nicht mit weniger Steuern insgesamt auskommen. Das glaube ich nicht.

    Birke: Also sind die Unternehmen jetzt einseitig begünstigt worden?

    Marx: Ja, sie sind schon begünstigt. Und man muss natürlich bei den Steuern auch sehen, die Unternehmenssteuersätze sind nicht das Entscheidende, oder die Steuersätze insgesamt, sondern ob das, was draufsteht - meinetwegen 49 Prozent, 30 Prozent - auch wirklich reinkommt. Das sind ja einfach Nummern, die ja nicht die Realität widerspiegeln, sondern wir brauchen eine Steuerreform, wo jemand dann auch wirklich sagen kann, wenn da 25 Prozent draufsteht, dann kommt das auch wirklich rein. Dann hat man das Gefühl, dass das einigermaßen gerecht zugeht. Aber so bleibt das für die Leute unübersichtlich. Und wer viel hat, kann viel verschleiern oder kommt am besten durch. Und wer wenig hat, kommt am wenigsten durch. Das ist, glaube ich, keine gute Entwicklung.

    Birke: Bischof Marx, ich möchte von der traditionellen Form des Interviews ein bisschen abweichen. Ich werde Ihnen Halbsätze geben mit der Bitte, sie zu ergänzen.

    Wenn ich bedenke, dass der Irak-Krieg und die Besatzung des Iraks jährlich mehr als 80 Milliarden Dollar verschlingt, ...

    Marx: ... dann würde ich mir wünschen, dass für die Entwicklung der Welt, vor allen Dingen der Dritten Welt mindestens genau so viel aufgebracht würde.

    Birke: Die Einführung der Scharia im Irak wäre ...

    Marx: ... vor allen Dingen für alle Nichtmuslime, besonders für die Christen, bedrohlich.

    Birke: Dass die Kopftuchregelung von Bundesland zu Bundesland verschieden ist, ...

    Marx: ... halte ich nicht für besonders glücklich, wie die ganze Kopftuch-Regelung nicht unbedingt meine Zustimmung findet.

    Birke: Nachfolger von Kardinal Lehmann als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz zu werden, ...

    Marx: ... ist im Augenblick nicht aktuell, weil wir einen guten Vorsitzenden haben.

    Birke: Ein geeigneter Maßstab, Fortschritte bei der Ökumene zu messen, ist, ...

    Marx: ... ob wir wirklich insgesamt Menschen gemeinsam überzeugen können vom christlichen Glauben, ein guter Wettbewerb in der Liebe.

    Birke: Die Tatsache, dass ich den Theologieprofessor Hasenhüttl nach dem ökumenischen Abendmahl suspendiert habe, ...

    Marx: ... tut mir immer noch weh, und ich hoffe, dass es wieder zu einem Verständnis miteinander kommt.

    Birke: Herr Bischof, glauben Sie denn, dass der Papst zum Weltjugendtag, das ist ja das große Ereignis in diesem Jahr, nach Köln reisen wird?

    Marx: Wir hoffen es weiterhin. Er selber hat, glaube ich, dem Kardinal Meißner, gesagt, wenn 'der da oben' will - hat dann in den Himmel gezeigt -, dann komme ich. Und ich glaube, dem kann man nichts hinzufügen.

    Birke: Er hat gesagt: Wenn der da oben will. Der da oben will im Moment wohl nicht, dass der Papst so richtig gesund wird. Trauen Sie denn dem Papst zu, dass, wenn sein Gesundheitszustand sich weiter verschlechtert, so dass er ihm nicht mehr erlaubt, sein Amt mit vollen Kräften auszuüben, dass er dann auch die Kraft und den Mut hätte, vom Amt zurückzutreten?

    Marx: Der Papst hat entschieden, dass er das dem lieben Gott überlässt, und ich glaube, dabei wird es wohl bleiben. Und alles andere ist seine Entscheidung.

    Birke: Wir hatten eingangs ja gesprochen von Situationen, wo Patienten etwa in einer Komasituation liegen. Wie wäre das, verglichen, wenn der Papst beispielsweise in einer Komasituation wäre?

    Marx: Ich glaube, darüber sollten wir jetzt nicht spekulieren. Das finde ich nicht so ganz gut, wenn wir jetzt reine Spekulationen darüber anstellen würden.

    Birke: Man muss ja schon an die Zukunft denken und wir alle sind sterblich. Könnte Ihrer Meinung nach ein Kardinal aus der Dritten Welt die Führung der Katholischen Kirche übernehmen?

    Marx: Es könnte aus jedem Erdteil ein neuer Papst kommen. Also, ich glaube, das ist mein Eindruck, dass es keine Festlegung mehr gibt, weder von der Hautfarbe her noch von den Ländern her, sondern dass die Kardinäle jemanden suchen, ganz egal wo er herkommt, der dieses Amt gut ausfüllen kann.

    Birke: Bischof Marx, in Zeiten der Globalisierung stellen sich ja auch die Probleme der Welt für die Kirche in einem neuen Licht. Sie haben einmal den Ausdruck vom 'Global Prayer' geprägt, also Global Player, der Spieler, der Akteur auf der internationalen Bühne, ist für die Kirche der globale Beter, Prediger. Es geht natürlich auch bei dem ganzen Prozess der Auslagerung von Arbeitsplätzen um ein Stück internationaler Solidarität. Ist hier nicht ein Prozess in Gang gekommen, der längst überfällig war, dass wir auf unseren Wohlstand zugunsten der Menschen in der Dritten Welt verzichten müssen?

    Marx: Auf jeden Fall geht es um eine größere Bereitschaft zum Teilen. Und ich glaube, das Thema des 21. Jahrhunderts wird sein, wie die eine Menschheitsfamilie zusammenwächst. Das wird vielleicht auch mit Spannungen passieren, aber grundsätzlichen müssen wir es begrüßen. Und da kommt es vor allen Dingen darauf an, dass die Ärmeren Chancen bekommen. Die Armutsüberwindung, die großen Ziele der Vereinten Nationen, das unterstützen wir als Kirche natürlich ganz konsequent. Und das kann bedeuten, dass wir manches abgeben müssen, wenn die anderen Chancen wahrnehmen. Und das gilt besonders für die Entwicklungsländer.

    Also, ich kann das nur begrüßen, aber es bedeutet für uns auch möglicherweise des einen oder anderen Einschränkung, wenn wir Arbeit, Einkünfte und Chancen miteinander weltweit teilen. Langfristig wird es für uns alle gut. Aber es kann Umbrüche und Prozesse geben, die sicher auch Schmerzen bereiten. Aber ich halte das für eine positive Entwicklung, wenn die eine Menschheitsfamilie sich auch wirtschaftlich miteinander verbindet.

    Birke: Können hierfür die Weichen durch die UNO-Reform, wie sie Kofi Annan, der Generalsekretär vorgeschlagen hat, besser gestellt werden?

    Marx: Die UNO spielt eine wichtige Rolle, auch die WTO. Also, wir haben globale Institutionen, die sicher weiter entwickeln müssen. Die WTO ist ja die einzige Institution, die auch - in Anführungsstrichen - "Zähne" hat, sozusagen Verpflichtungen einbauen kann. Das ist ja bei der UNO nicht immer der Fall. Aber wir haben zum Beispiel den Strafgerichtshof, wir haben also andere Institutionen bekommen, wo wir früher nicht gedacht hätten, dass das mal so weit käme. Insofern habe ich die Hoffnung, auch was die Welthandelskonferenz angeht und auch was die UNO angeht, dass sich diese Institutionen weiter entwickeln können, so dass sie wirklich Instrumente darstellen, eine Art Global Governance. Wir sagen nicht globale Weltregierung, das ist wahrscheinlich zu hoch gegriffen, aber Global Governance brauchen wir schon. Wir brauchen Regeln, Rahmenbedingungen auf Weltebene für Wirtschaft und Politik. Das ist auf jeden Fall das Thema des Jahrhunderts.

    Birke: Regeln, die auch die Einhaltung der Menschenrechte durchsetzen?

    Marx: Unbedingt.

    Birke: In diesem Sinne: Können wir Waffen nach China exportieren?

    Marx: Ich bin da sehr zurückhaltend, bei jedem Waffenexport. Wir haben gerade mit der Evangelischen Kirche - im Januar geben wir immer unseren Kommentar zum Waffenexport der Bundesregierung bekannt, wir haben auch beim Präsidiumsgespräch mit der SPD darauf hingewiesen, von der Bischofskonferenz, also da sind wir nicht so glücklich. Der Waffenexport ist nicht zu vergrößern sondern zu verringern. Und da sollten wir nicht neue Kunden finden, sondern sollten eher an Abrüstungsmodellen uns beteiligen und nicht noch Regime unterstützen, die ja Diktaturen sind. Also das halte ich für abwegig.

    Birke: China wäre eine Diktatur?

    Marx: Ist eine Diktatur. Ich habe nichts Neues gehört. Dass die Demokratie dort ausgebrochen ist, habe ich noch nicht gelesen.
    Der Tod, vielleicht die größte Form des Unglücks
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    Zivildienstleistender reicht alter Frau eine Mahlzeit.
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