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Feinde des Abendlandes

Der israelische Sozialphilosoph Avishai Margalit und der niederländische Publizist Ian Buruma haben ihre Analyse der antiwestlichen Stimmung, die es nicht nur in islamischen Ländern gibt, "Okzidentalismus" genannt. Es geht ganz grundsätzlich um die Gegner des Westens und ihre Grundwerte, und um das Bild einer wurzellosen, dekadenten, seelenlosen, ja nihilistischen Gesellschaft, das sie zeichnen. Im Potsdamer Einstein Forum haben die Autoren nun ihre Thesen zur Diskussion gestellt.

Von Natascha Freundel |
    11. September 2001, eine Dönerbude in Berlin-Mitte. Ein Fernseher in der Ecke zeigt es wieder und wieder: die einstürzenden Zwillingstürme, der unerhört saubere Schnitt, mit dem die Flugzeuge die Türme aufreißen, der Rauch, die Menschen, die wie Puppen aus den Fenstern fallen. Der Laden ist voller Leute, die mit verschränkten Armen auf den Fernseher starren. Ein paar böse Kommentare mitten im Schweigen: Der israelische Geheimdienst Mossad habe seine Finger drin; oder: "Das hat Amerika verdient". Diese Einstellung nennt der Jerusalemer Sozialphilosoph Avishai Margalit Okzidentalismus:

    " Okzidentalismus ist ein hässliches Wort. Es ist ein Bild des Westens in den Augen seiner Feinde. Geographisch gesprochen sind die Feinde überall; tatsächlich kommen die wichtigsten Propagandisten des Okzidentalismus aus dem Westen selbst. Einige Elemente dieses Bildes scheinen berechtigt zu sein: Vieles am Westen ist hässlich. Westlicher Kolonialismus und Imperialismus sind nur zwei prominente widerliche Eigenschaften des Westens. Und doch ist Okzidentalismus kein Bild einer hässlichen Realität, sondern ein hässliches Bild. "

    Materialistisch, kalt, oberflächlich, unmoralisch, ungehemmt, verdorben, gottlos und seelenlos ist der Westen in den Augen seiner Feinde. Das entscheidende für Margalit und Buruma: Der radikale antiwestliche Blick entmenschlicht die Objekte seine Ressentiments. Große Städte galten Theodor Fontane wie Friedrich Engels als "widerlich" und widernatürlich; japanische Antiwestler kämpften im Zweiten Weltkrieg gegen die "ekelhafte materialistische Zivilisation"; russische Slawophile des 19. Jahrhunderts, deutsche Nazis und arabische Islamisten eint der Okzidentalismus: Margalit und Buruma ziehen durchaus kühne historische und geographische Verbindungslinien. Der Angriff auf das World Trade Center in New York lässt sich mit biblischen Motiven verknüpfen: Die "Hure Babylon" wurde angegriffen, der sündige Liberalismus, die Hybris der Metropole. Avishai Margalit:

    " Viele Kulturpessimisten im Westen glauben an die großen Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation. Und, dass sie gegen besseres Wissen und gegen ihren Willen auf der falschen Seite gefangen sind. Sie glauben nämlich, dass sie in einer Zivilisation ohne Kultur leben. Man muss kein Kulturpessimist sein, um Okzidentalist zu werden. Aber es hilft. "

    so Margalit bitter ironisch. Mit dem britischen Publizisten Ian Buruma geht es ihm nicht um eine wasserdichte Analyse politischer Erscheinungen, sondern um die Beschreibung des aktuellen Kampfes gegen den Westen. Der Okzidentalismus sei deshalb so gefährlich, betonten sie gestern im Einstein-Forum, weil er in der islamischen Welt auf eine revolutionäre Stimmung stoße. Und wenn diese Revolution losbricht, dann unter der Fahne des Okzidentalismus, glauben sie. Deutlich verteidigte Margalit deshalb das Konzept Integration, innen- wie außenpolitisch:

    " Ich weiß nicht was passiert, wenn die Türkei in die EU kommt. Es kann gut für sie und schlecht für Europa sein, oder schlecht für sie und gut für Europa. Aber ich weiß, wenn sie zurückgewiesen werden, wird das schrecklich sein. Das wird wirklich den gesamten politischen Islam in eine Bin-Laden-Richtung stoßen. "

    Die These vom Okzidentalismus, so stellte sich gestern heraus, ist ein aus Hilflosigkeit geborener Erklärungsversuch. Hilflos, weil bisher weder soziologische Studien über Selbstmordattentäter noch etwa Samuel Huntingtons These vom clash of cultures, dem Kampf der Kulturen, erklären konnten, warum sich Menschen aus Hass auf den Westen zusammen mit möglichst vielen Opfern in die Luft sprengen.