Das Journalistische, Investigative ist eine Triebfeder von Vollmanns enormer Produktivität. Aber dennoch ist "Huren für Gloria" kein Tatsachenroman, kein Fall von dokumentarischem Sozialrealismus. Man hat den Roman auch in die Nähe von Charles Bukowski gerückt, ist ihm aber damit nicht unbedingt gerecht geworden. Die letztlich dann doch herzerwärmende Gemeinschaft der Abgestürzten, von der Bukowskis Geschichten handeln, findet bei Vollmann keine Entsprechung. Wärme sucht man in "Huren für Gloria" vergeblich, was man aber findet, ist Liebe - und vielleicht durchaus im Sinne des Ignatius von Loyola, als "gegenseitigen Austausch von beiden Seiten her." Jimmy heißt der traurige und zugleich zur ekstatischen Liebe fähige Held von Vollmanns Roman. Jimmy ist in Vietnam gewesen und hat nach seiner Rückkehr den Anschluss ans bürgerliche Leben verpasst. Jetzt streunt er durch den Tenderloin District, trinkt Bier, trifft Huren und träumt dabei die ganze Zeit nur von Gloria. Gloria, das ist die Summe und die Apotheose aller Huren, denen Jimmy auf seinen Touren begegnet, die Frau, die es vielleicht nur in seinen Träumen gibt, die Frau jedenfalls, der alle anderen Huren ähneln müssen, um Jimmy zu gefallen - und weil das alles in San Francisco spielt, wird man erinnert an Hitchcocks "Vertigo" und James Stewarts Versuche, Kim Novak in die Frau seiner Träume zurück zu verwandeln. "Du musst diese Perücke aufsetzen", sagt Jimmy zu Cynthia, und die Haare sollen um dein Gesicht fließen wie Sonnenstrahlen und du sollst mich dabei deinen Mann nennen." Aber Cynthia sieht sich zu dieser Dienstleistung nicht in der Lage und am Ende liegt die Perücke, die sie in Gloria hätte verwandeln sollen, in einem Gully. Vollmann lässt im Unklaren, ob Gloria einmal Jimmys Frau war oder was sonst die beiden in Wirklichkeit je verbunden hat. Auch das "Ende der Geschichte", so der Titel des abschließenden Kapitels, beantwortet diese Frage nicht. Vor vielen Jahren, erinnert sich da "Code Six", der mit Jimmy in Vietnam war und jetzt selbst im Rotlichtbezirk gestrandet ist, sei Jimmy vor einem Chinarestaurant erschossen worden - von Gloria, einer Prostituierten. Vollmann tut nichts, um das Zwielicht der Verhältnisse zum Ende hin gegen substantielle Tatsachen einzutauschen. Gloria, die Frau seiner Träume, seine Geliebte, seine Mörderin, seine Kindheitsfreundin oder was auch immer sonst sie sein mag, bleibt ein Phantom.
Vollmann hat für die teils gnadenlos realistischen, teils traumverloren-imaginären Situationen seines Romans eine Sprache zur Verfügung, die alles kann. Sie ist hart an den rüden Tatsachen und zugleich, wann immer sie es will, geradezu ekstatisch. Man wundert sich nicht, wenn Vollmann gelegentlich Lautréamont als eine seiner Inspirationen nennt. Es scheint ihm in diesem Roman und anderswo um eine Art außermoralischer Schönheit zu gehen, wie sie sich beim näheren Hinsehen auf die Gedanken und Gefühle von Außenseitern, Junkies und Strichern offenbar eher enthüllt als im Bannkreis bürgerlicher Normalität. Nicht dass Vollmann die Prostitution verherrlichte - abschreckender als dieser Roman kann man von käuflicher Liebe nicht handeln. Aber es gibt inmitten all des Elends und aus ihm heraus einen Schimmer von Transzendenz in diesem Roman, dessen Ausdruck die Liebe ist, die gescheiterte, die erträumte und die unvorstellbare Liebe. "Huren für Gloria" ist kein angenehmes, aber ein kühnes und abenteuerliches Buch. Man darf hoffen, dass nun allmählich der ganze literarische Kosmos des William T. Vollmann in deutscher Sprache erschlossen wird.
William T. Vollmann: Huren für Gloria
Roman. Aus dem Amerikanischen von Thomas Melle
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006. 200 S., Euro 17, 80