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Felicitas von Aretin: Die Enkel des 20. Juli 1944.

Die Rezeption des Widerstands in Nachkriegsdeutschland ist auch Gegenstand der letzten Neuerscheinung, die wir Ihnen in dieser Sendung vorstellen möchten: Die Autorin, Felicitas von Aretin, selbst Enkelin eines Widerstandskämpfers, unternimmt darin den Versuch, den Tod der Menschen, die Hitler beseitigen wollten, und die Auswirkungen auf die überlebenden Familienmitglieder aus dem Blickwinkel der Enkel zu schildern. Und so heißt ihr Buch dann auch "Die Enkel des 20. Juli 1944". Agnes Steinbauer hat das Buch für Sie gelesen und mit der Autorin gesprochen.

Von Agnes Steinbauer |
    "Ich habe mich auf die Suche nach anderen Enkeln gemacht, die ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden waren", schreibt Felicitas von Aretin, und das Wort "Mitleidenschaft" hat hier eine merkwürdig doppelte Bedeutung. Denn offensichtlich geht es nicht nur um die Aufarbeitung eigener Beeinträchtigungen, sondern um geteiltes Leid mit anderen Menschen, die – wie die Autorin – ebenfalls "Enkel des 20. Juli" sind. Dass von Aretin sowohl Historikerin als auch Journalistin ist, kam dem Buch zu Gute. So kann sie dem Leser den Stoff auf drei unterschiedlichen Ebenen anbieten: In einer sehr persönlichen Einführung – überschrieben mit "Die Schatten des Saturn" - erzählt sie vom eigenen Enkelinnen-Dasein, als Nachgeborene des Generalmajor Henning von Tresckow, der sich einen Tag nach dem missglückten Attentat mit einer Granate das Leben nahm. Die Bedrückung, die in diesem Zusammenhang noch Jahrzehnte später über der Familie hing, hatte zur Folge, dass das Kind Felicitas mit ihren Stofftieren "Flucht aus dem Konzentrationslager" spielte, ohne zu wissen, warum. In einem zweiten Teil fasst von Aretin als Historikerin die Geschichte der Widerstandskämpfer und ihrer Familien in gut lesbarer Form zusammen und schafft das Rüstzeug für den dritten - den Porträt-Teil. In ihrer "Nachkriegsgeschichte" des Widerstands steht unter anderem ein kollektives Phänomen der jungen Bundesrepublik im Mittelpunkt, mit dem die Enkel auch in ihrem persönlichen Leben konfrontiert sind: Ablehnung und Schweigen über den Widerstand und seiner Protagonisten. Für Felicitas von Aretin ist das eine wichtige Gemeinsamkeit der sonst so unterschiedlichen Enkel:

    Das war das, was mich am meisten frappiert hat, dass ich unglaublich viele Antworten bekam und überall drauf stand: Wir haben sehr wenig über den Großvater gesprochen.

    Obwohl diese Großväter doch eigentlich Helden waren, wurde ihre politische Geschichte – ähnlich wie die des Nationalsozialismus selbst – häufig verdrängt. Felicitas von Aretin kennt dieses Phänomen aus ihrer eigenen Familie:

    Ich kann nur für meine Großmutter sagen, die nie darüber geredet hat. Das war einfach zu schmerzhaft. Die Ehen waren ja nicht sehr lange. Da war mein Eindruck, dass man das bewahren wollte, die Erinnerung an den Mann. Es ist zum Beispiel ganz typisch: Noch weniger, als man über die Großväter weiß, wissen die Enkel darüber, was mit den eigenen Eltern nach dem 20. Juli passiert war. Einige sind ja ins Kinderheim gekommen, einige waren im KZ. Ich denke, das war einfach ein Erlebnis, was man den eigenen Kindern nicht zumuten wollte.

    In den elf Porträts machen diese Erfahrung die jüngeren Enkel ebenso wie die Älteren. Einige haben als sehr kleine Kinder die letzten Kriegsjahre noch miterlebt. Dementsprechend unterschiedlich ist ihr Blick auf die Geschichte und auf den Großvater, der sie erlebt hat:

    Die älteren Enkel sind die politischeren. Während bei meiner Generation ist das ein bisschen anders. Die politische Debatte ist im Grunde von der älteren Generation schon gelaufen. Und bei meiner Generation ist eher eine Abwehr dagegen, dass man sagt: Um Gottes willen, kommt mir doch nicht wieder mit den Geschichten, und da ist eher so die emotionale Auseinandersetzung.

    Mit Hilfe der Porträts ist es Felicitas von Aretin zusätzlich gelungen, Einblick in die große Bandbreite des Widerstands zu geben, in der nicht nur die allgemein bekannten Namen auftauchen. Die 41-Jährige Autorin lässt die Enkelin des Industriellen Walter Cramer über ihren Großvater nachdenken, ebenso wie die Enkeltochter des Gewerkschafters Hermann Maaß. Corrado Pirzio-Biroli, heute politischer Funktionär in Brüssel, kommt mit seinen Erinnerungen an den Großvater und Diplomaten Ulrich von Hassell zu Wort, der als Mitglied der "Mittwochsgesellschaft" zum konservativ-militärischen Widerstand um Generaloberst Ludwig Beck und den Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler gehörte. Eines der ergiebigsten Porträts ist das von Jens Jessen. Der Journalist und heutige Feuilleton-Chef der Wochenzeitung "Die Zeit" ist Enkel des Volkswirts Jens Peter Jessen, der maßgeblich an der Planung des Attentats beteiligt war. Ab 1941 stellte er als Abteilungsleiter im Passamt des Heeres Passierscheine für Widerständler in die besetzten Gebiete aus und sicherte so die Kontakte zwischen den Verschwörern an der Front und in Berlin. Am 7. November 1944 wurde Jessen nach schweren Folterungen von NS-Richter Roland Freisler wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Wie die Geschichte seines Großvaters nachwirkte, spürte Jens Jessen als Kind in den 60er Jahren im Hause seiner Großmutter – etwa durch den Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung der Familien des Widerstands, von denen viele jahrelang auf Rente oder Entschädigung warten mussten – manchmal vergeblich. Jessen ist derjenige Enkel im Buch, der sich am meisten mit der politischen Geschichte seines Großvaters auseinandersetzt. Im Porträt schildert er die Entwicklung des Ökonomen vom anfänglichen Sympathisanten zum Feind des Systems, der für Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft streitet und Mitte der 30er Jahre einen jüdischen Kollegen in die USA begleitet, um ihn persönlich in Sicherheit zu bringen. Als Journalist beschäftigte sich der Enkel Jessen in zahlreichen Artikeln mit dem "Erbe" des 20. Juli, mit dem Streit um die "richtigen" Widerständler, den Gedenkfeiern und der Akzeptanz der Attentäter nach 1945. Eine Lehre aus den familiären Erfahrungen sei für ihn, sich "nie auf die Seite der Mehrheit zu stellen", Zitat:

    Die Widerständler hatten, wie man aus vielen Berichten weiß, ein lebhaftes Gefühl von ihrer Volksferne. Sie waren isoliert, sie wussten das, und irgendwie auf eine merkwürdige Weise habe ich etwas von diesem Gefühl der gesellschaftlichen Isolation geerbt.

    Obwohl zentrales Thema in von Aretins Buch, sind die Porträts leider nicht alle gelungen. Manche sind zu sehr überfrachtet mit dem heutigen Leben der Enkel, so dass die Auseinandersetzung mit den Großvätern teilweise zu kurz kommt. Wünschenswert wäre außerdem eine größere Übersichtlichkeit über die Lebensläufe der Widerständler gewesen, die manchmal ein wenig zu sehr im Porträt "versteckt" sind. Trotzdem ist das Buch als Ganzes empfehlenswert; vor allem, weil Felicitas von Aretin aus den historischen Fakten des Widerstands spannenden Lesestoff gemacht hat. In mühevoller Kleinarbeit hat sie Geschichten und Zitate zusammengetragen, die auch das Schicksal der Angehörigen illustrieren: Wie etwa das der Tochter und der Ehefrau Carl Goerdelers, denen eine Gefängniswärterin die Zeitung mit der Schlagzeile "Todesurteil: Goerdeler wird gehenkt" in die Zelle wirft oder die Angst Mika Gräfin Schenk von Stauffenbergs, die in ihrer Haft in Berlin-Moabit schier verzweifelt, weil sie befürchtet, dass ihre Kinder zu medizinischen Zwecken missbraucht werden. Auch die umstrittene Nachkriegsdebatte über die "Verräter" oder "Helden" des 20. Juli, rollt Felicitas von Aretin sehr informativ neu auf. Sie schreibt über die vielen Witwen ohne Rente, über die Treffen der "Kinder" des Widerstands und über die Hilfswerke, die allmählich entstehen... Trotz aller historischen Fakten ist das Buch letztlich eine sehr persönliche Auseinandersetzung der Autorin mit dem, was ihrer Familie passierte. Sie selbst findet es heute bezeichnend, dass sie sich während ihres Geschichtsstudiums mehr für das Mittelalter interessierte als für den Nationalsozialismus. Irgendwann, erinnert sich von Aretin, sei ihr aber klar geworden, dass sie der Geschichte ihres Großvaters einen Platz in ihrem Leben geben musste, damit es ihr besser ging:

    Ich hab bemerkt, dass es mir vor dem 20. Juli immer schlecht wurde und dass ich gehofft habe, der Tag geht vorbei, dass ich keine Lust da drauf hatte. Deswegen habe ich für mich beschlossen, das für mich persönlich abzuschließen.

    Agnes Steinbauer über Felicitas von Aretin: "Die Enkel des 20. Juli 1944". Der 448 Seiten dicke Band ist zum Preis von 24 Euro bei Faber und Faber in Leipzig erschienen.