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Felsklettern
Wie man die Schwierigkeit einer Kletterroute bestimmt

Höher, weiter, schneller – nach diesen Maßstäben werden herausragende sportliche Leistungen meistens definiert. Beim Felsklettern jedoch, anders als beim olympischen Wettkampf-Klettern, spielen diese Maßstäbe keine Rolle. Hier geht es einzig um die Schwierigkeit einer Kletterroute.

Von Lukas Scheid | 05.09.2020
Eigentlich sollte Alex Megos Anfang August in Tokio sein. Erstmals in der olympischen Geschichte gibt es eine Goldmedaille im Sportklettern und der 27-Jährige gehört zur absoluten Weltspitze. Er war als erster Deutscher für Olympia qualifiziert und landet regelmäßig auf den Podestplätzen bei Kletter-Weltcups. Doch weil Olympia 2020 Coronabedingt verschoben werden mussten, ist der Kletterprofi stattdessen nach Céüse in Südfrankreich gereist. In den letzten Jahren hat er dort viel Zeit verbracht, nur um sich an einer einzigen noch unbestiegenen Kletterroute zu probieren, an der er bislang immer wieder gescheitert war. Auch auf dieser Reise lief es nicht gut – bis zum allerletzten Tag.
"Ich wollte an dem Tag nur einen einzigen Versuch machen, der dann allerdings gleich schiefgegangen ist und ich relativ weit unten gefallen bin. Deswegen habe ich mich entschlossen, noch einen zweiten Versuch zu machen, aber eigentlich nur, damit ich sagen kann, ich habe alles gegeben und dass ich mit einem guten Gefühl nach Hause fahren kann. Und das war dann tatsächlich der entscheidende Versuch."
Erstbegeher darf Schwierigkeitsgrad festlegen
Winzige, messerscharfe Griffe und ein extrem steiler Routenverlauf zeichnen die Routen namens Bibliographie aus. Nicht ohne Grund gehört der Kalksteinfelsen von Céüse zu den bekanntesten, aber auch schwersten Klettergebieten Europas. Über drei Jahre verteilt hat Alex Megos rund 60 Tage lang an Bibliographie gearbeitet, länger als an jedem vorherigen Kletterprojekt. Für ihn war das der ausschlaggebende Grund, für die Route den Schwierigkeitsgrad 9c vorzuschlagen. Wer eine neue Route zuerst begeht, darf einen Vorschlag für deren Schwierigkeit abgeben. Das ist ungeschriebenes Gesetz in der Kletterwelt. Und 9c ist der höchste Schwierigkeitsgrad überhaupt.
"Ich habe versucht, ehrlich mit mir zu sein. Soll ich jetzt sagen 9b+ oder 9c? Aber dann habe ich mir gedacht, dass es mir nicht nur einen halben Grad schwerer gefallen ist als 9b+, was ich vorher geklettert bin. Auch auf die Gefahr hin, dass es doch nicht so schwer ist, und auch um unseren Sport voranzubringen, habe ich die 9c rausgehauen, weil ich glaube, dass es das ist. Und wenn's am Ende nach unten korrigiert wird, ist es halt so."
Klettterer überprüfen sich gegenseitig
Solche Vorschläge für die Schwierigkeiten von Kletterrouten auf Spitzenniveau sind nicht ganz unumstritten. In der Vergangenheit gab es Fälle, in denen Erstbegehende die höchsten Schwierigkeitsgrade vorgeschlagen hatten, die von nachfolgenden Kletterinnen und Kletterern nicht bestätigt werden konnten. Die Schwierigkeitgrade dieser Routen wurden anschließend nach unten korrigiert.
In der heutigen Zeit, in der der Klettersport populärer denn je ist, sorgt eine Begehung wie die von Alex Megos natürlich für richtig viel Wirbel in der Szene – auch bei seinen Sponsoren. Warum es dennoch unwahrscheinlich ist, dass Alex Megos mit seinem Schwierigkeitsvorschlag nur einen PR-Stunt abgezogen hat, erklärt Thomas Bucher, Sprecher des Deutschen Alpenvereins. "Lügen haben kurze Beine. Wenn er das öfter macht, wird in der Kletterszene kein Ansehen und kein Vertrauen mehr haben. Er würde auch die Glaubwürdigkeit gegenüber seinen Sponsoren verlieren und zum Schluss keine Sponsoren mehr haben. Das muss man sich schon gut überlegen, ob man blufft oder nicht. Aber das System ist erstaunlich stabil, das mag man von außen gar nicht glauben."
In diesem System überprüfen sich die Kletterinnen und Kletterer gegenseitig. Eine unabhängige Instanz, die die Schwierigkeitsgrade überprüft, gibt es nicht. Denn nur, wer eine Route geklettert ist, kann auch die Schwierigkeit einschätzen. Thomas Bucher vom Deutschen Alpenverein sieht darin auch den Vorteil: "Es ist ein wahnsinnig spannender Vorgang, der dazu führt, dass ein Schwierigkeitsgrad zum Schluss doch irgendwie objektiv wird. Das ist eine Art Aushandlungsprozess, der mit dem Schwierigkeitsvorschlag der Erstbegeherin oder des Erstbegehers beginnt. Dann müssen sich andere finden, die diesen Schwierigkeitsgrad entweder bestätigen, aufwerten oder abwerten."
Alexander Megos in seinem Sportdress. Er blickt konzentriert.
Will bei Olympia 2021 Großes erreichen: Alexander Megos (picture alliance/Lino Mirgeler/dpa)
Höchster Schwierigkeitsgrad erst zweimal vergeben
Für Alex Megos ist der Schwierigkeitsgrad von 9c für die Route Bibliographie darum auch keineswegs in Stein gemeißelt. "Ich war mir selbst auch nicht sicher und bin mir immer noch nicht sicher, weil ich ja auch nur meine persönliche Meinung abgebe. Ich bin der Einzige, der viel Zeit in die Route investiert hat und der Einzige, der sie geklettert ist. Da ist man natürlich sehr subjektiv unterwegs. Wie schwer es einem fällt, ist einfach subjektiv. Aber ich habe es versucht zu vergleichen mit anderen Routen, die geklettert habe. Es erschien mir einfach viel schwerer als alle 9b-Routen, die ich bisher geklettert habe und es fiel mir auch deutlich schwerer als die eine 9b+, die geklettert habe."
Sollten andere Kletterinnen und Kletterer den Schwierigkeitsgrad 9c bestätigen, wäre Bibliographie eine der zwei schwersten Routen der Welt. Die andere 9c, erstbegangen vom tschechischen Kletterer Adam Ondra, wartet übrigens ebenfalls noch auf eine Bestätigung der Schwierigkeit.