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Femme vitale statt Femme fatale

Trotz der nur oberflächlichen Beschäftigung mit der abgründigen Geschichte - Vera Nemirovas Neuinterpretation von Alban Bergs Oper "Lulu" bei den Salzburger Festspielen war ein Genuss. Denn: Marc Albrecht stand am Pult und dirigierte - mal präzise-kühl und mal emphatisch-expressiv.

Von Frieder Reininghaus | 02.08.2010
    Für das Vorspiel vor der Manege wurde in Salzburg eine denkbar einfache Lösung gewählt: Der Tierbändiger rezitiert seinen Monolog vor einer farbig gestreiften Markise – und die Schlange ist nichts anderes als Lulus Arm, der aus dem Schritt des Athleten ins Geschehen eingreift. Von da an entwickeln sich die Bilder Daniel Richters mit zunehmenden Formenreichtümern und Farbintensitäten – aber die Personenführung bleibt derart erschütternd schlicht. Wann immer Lulu einem Männerkörper zuspricht (und sie tut es in jeder Szene), dann bearbeitet sie den Partner von oben. Diese Redundanz der sichtlichsten Dominanz mag als Stilmittel gemeint gewesen sein. In der Theaterrealität ist es so grob wie banal.

    Beachtlich ist freilich, was die Akteure trotz der offensichtlich grobkörnigen Vorgaben en détail aus ihren Partien machen: Franz Grundheber zum Beispiel, der den Schigolch als einen auf seine Weise in Würde gealterten Stadtstreicher gibt. Oder Thomas Piffka, der den Komponisten Alwa hinreichend verklemmt und dann naiv enthemmt vorführt. Michael Volle singt die Partien des Chefredakteurs Schön und Jack the Rippers mit suggestiver Souveränität und versteht als erster wie als letzter Freier Lulus zu zeigen, warum diese sich ihm anvertraut. Patricia Petibon, zierlich-schlank in Gestalt und Stimme, hebt die kapriziösen Aspekte der Titelrolle hervor. Eine erotische Verheißung ist das nur bedingt. Und Ziegen sind keine wirklich gefährlichen Raubtiere.
    Die weitverzweigte Tätigkeit der nicht mehr ganz jugendfrischen Jungregisseurin scheint nur eine fahrig oberflächliche Beschäftigung mit der abgründigen Geschichte zugelassen zu haben. Die historischen Dimensionen blieben unerhört, politische Schärfen ausgeblendet. Vera Nemirova konnte davon ausgehen, dass die wachsende Wucht von Richters Bildern per se eine prägende Gestaltungskraft entwickelt: Die Ausstattung der Wohnung des alternden Medizinalrats, mit dem Lulu in erster Ehe verbunden ist, ist noch ebenso zurückhaltend ausgestattet wie die Arbeitslandschaft des Malers, in dessen Hände das sich zunehmend nobilitierende Luder zum Zweiten gerät.

    Beide Male erscheint das Ambiente von einem großen Bild der Chagall-Nachfolge geprägt. Indem es aber aus der Belle Etage hinunter ins halbseidene Theatermilieu geht, dreht sich der große Rahmen und ein Spiegel, der in der Mitte wegen eines großen roten Flecks erblindete, reflektiert das Publikum in der Felsenreitschule. Die Konfrontation mit glotzenden Gesichtern setzt sich auf der Tapete fort, mit der das Domizil von Dr. Ludwig Schön ausgestattet ist, Lulus erstem Liebhaber und drittem Mann (eine Lithografie Daumiers mag da Pate gestanden haben). Ansonsten wohnt dieser Machtmensch unbehaust – ohne Sessel und Sitzecke oder gar Bücherregale. Nur eine schwarze Pyramide ragt aus dem Parkett – und aus der steigt das Gesocks, das die Göre aus der Gosse auch umgibt, nachdem sie zur Salongans aufgestiegen ist.

    Zum Abstieg auf dem nasskalten Londoner Parkett hat Daniel Richter ein Bild beigesteuert, das frieren macht: eine wuchtige Winterlandschaft, gemalt mit breiten Pinselstrichen. Den Fluchtpunkt Paris verlegte die Regisseurin in den vorderen Mittelblock des Parketts: Da tummeln sich die Schieber, Lebemänner und Erbinnen – eine Szene ganz nach der Art, in der Peter Konwitschny für Auflockerungen ins Publikum hinein sorgt.

    Vera Nemirova wollte, wie sie erklärte, Lulu nicht als Femme fatale zeigen, sondern als Femme vitale – und das Augenmerk auf die "mythologische Funktion der Hauptfigur" richten, dabei "Zeitlosigkeit" anstreben. Das suggeriert einen Zug zum Großen, der sich an diesem Theaterort und angesichts von dessen historischer Besetzung anbieten mag. Dass ihm die Genauigkeit und Sensibilität im Umgang mit dem historisch bedingten Stoff geopfert wird, stört wohl nur wenigen den Genuss der unter Leitung von Marc Albrecht so präzise-kühl wie dann auch immer wieder emphatisch-expressiv herausprozessierten Musik von Alban Berg.
    Infos:

    Salzburger Festspiele