So beginnt Ferdinand Seibt seine Abhandlung über die Entstehung und die Kulturgeschichte unseres Kontinents. Gleichwohl erinnert das Wort "Europa" zu oft an Brüsseler Bürokraten oder an Lippenbekenntnisse von wahlkämpfenden Politikern. Seibt dagegen betrachtet Europa aus der Sicht jener, die hier lebten und leben. Er macht den abstrakten Begriff "Europa" nachvollziehbar und verdeutlicht, dass mit der Erweiterung der Europäischen Union die logische Konsequenz einer mehr als tausendjährigen gemeinsamen europäischen Geschichte ihren vorläufigen Endpunkt erreicht.
Seibt nennt sein Buch "Die Begründung Europas": Ein ebenso doppeldeutiger wie programmatischer Titel. Denn einerseits muss die Gestaltung Europas den heute lebenden Bewohnern gegenüber begründet werden. Andererseits aber hat sich Europa schon vor mehr als tausend Jahren selbst begründet, auch wenn Kriege und Zerstörungen einem Prozess der europäischen Einheit immer wieder im Wege standen. Als historischer Raum aber war Europa schon vor tausend Jahren voll entwickelt, die politische Landkarte war in groben Umrissen so aufgeteilt wie heute. Mehr noch: Das heutige Europa ist das gleiche, das die Hofpoeten Karls des Großen im Sinn hatten, als sie den Frankenherrscher in Paderborn vor 1200 Jahren als "pater europae" begrüßten. Das fränkische Reich dieses ersten Europäers, wie er heute genannt wird, umfasste im wesentlichen das damals schon bewohnte Kerngebiet der heutigen Europäischen Union – eine Einheit mit eigener Währung, einheitlicher Rechtsprechung und einer gemeinsamen Armee. Die seither vergangenen 1200 Jahre haben in Europa tiefe Spuren von Kriegen, Zerwürfnissen und Streitigkeiten hinterlassen. Dennoch gibt es laut Seibt viel mehr Gemeinsames als Trennendes zwischen den Mitgliedern der europäischen Völkerfamilie:
Bei allen möglichen Veränderungen im Laufe von mehr als tausend Jahren hat Europa bestimmte Charakterzüge ausgeprägt, wie ein Mensch auch im Laufe seines Lebens, hat besondere Fähigkeiten entwickelt, gewisse Gewohnheiten angenommen, hat seine Kultur gefunden.
Um diese Verwandtschaft herauszufinden, begibt der Autor sich auf die Spurensuche nach den gemeinsamen Errungenschaften der Europäer. Seibt erzählt von Kleidungsstücken, besonderen Speisen, von Häusern und Burgen, von Bräuchen und Traditionen, die die Europäer einerseits unterscheidbar machten. Andererseits aber kamen sie sich über diese Kulturtraditionen auch näher und beeinflussten sich gegenseitig. Besonders prägend für die europäische Geschichte ist das verzweigte System von Wegen und Straßen, die den Kontinent in alle Himmelsrichtungen durchquerten.
Beginnend bei der im 6. nachchristlichen Jahrhundert endgültig zerfallenden römischen Verwaltung westlich des Rheins zeichnet Seibt – manchmal etwas zu detailliert – eine mittelalterliche Straßenkarte Europas und stellt fest, dass sich in diesen Jahren...
...das künftige mitteleuropäische Straßennetz nicht nur zwischen Rhein und Maas nach Nordwesten, sondern auch von Köln her über den Rhein nach Osten entlang einer alten Salzstraße mit den Stützpunkten Duisburg, Dortmund und Paderborn, Hildesheim, Lüneburg und Goslar herausgebildet (hatte).
Etwas später kamen die von der norddeutschen Hanse ausgebauten Handelswege von den Niederlanden bis in das nordwestliche Russland ebenso hinzu wie die zahlreichen Pilgerwege, die sich durch Europa von Nord nach Süd, von West nach Ost schlängelten. Sie brachten nicht nur Menschen von einem Ort zum anderen, sondern auch Handelswaren und technische Fertigkeiten. So sorgten sie für einen kontinentaleuropäischen Kulturtransfer. Grob gesagt lieferte der Westen Europas das "Werk seiner Hände", also die Erzeugnisse der Weber, der Schmiede, der Bauern und Winzer, der Osten Europas gab das in Rohstoffen wieder zurück. Auf diesen Wegen kamen aber auch Handwerker. Sie hinterließen Belege ihres Könnens über ganz Europa verteilt, beispielsweise die Bronzeportale an so weit von einander entfernt liegenden Kathedralen in Nowgorod, im polnischen Gnesen, in Magdeburg oder Hildesheim.
Entlang dieser Wege, die bis heute ohne wesentliche Änderung ihrer Streckenführung genutzt werden, gründeten sich Ortschaften, Dörfer und Bauerngemeinschaften. Nur wenige dieser Ansiedlungen wurden dem Erdboden wieder gleich gemacht, weil die Bewohner zu dem Schluss gekommen waren, es handelte sich um eine Fehlplanung. Nicht einmal die zerstörerische Wut der kaum zu zählenden Kriege unseres Kontinents hat die Menschen dazu bewegt, einmal angelegte Siedlungen brach liegen zu lassen und sie an einer anderen Stelle wieder aufzubauen. Für Seibt heisst das:
Wir folgen mit unserem Schwerlastverkehr noch immer den Pfaden der Salz-, Bernstein-, Pelz- und Gewürzhändler. Wir haben unsere Äcker vor sieben, acht Jahrhunderten bis heute gültig vermessen und begrenzt, haben Marksteine und Gemeindegrenzen gezogen und gesetzt, die gültig blieben bis in unsere Tage, überall in Europa, in Italien ebenso wie in Dänemark. Wir haben den Raum für Verkehr und Wirtschaft, für Verteidigung und Herrschaft in weiträumiger Planung schon seit langem und zielbewusst genutzt, Klöster, Städte und Burgen nach den besonderen Bedürfnissen von Verkehr und Verteidigung angelegt, Land und Meer nach großräumigen Erwägungen verbunden. Konsequenz und Entwicklungstempo geben Einsicht in die mehr als tausendjährige rationale Verbindung Europas mit seiner Geschichte.
Ferdinand Seibt führt ein Fülle von Beispielen an, die die gemeinsame Wurzel der europäischen Völker belegen. Das fordert vom Leser ein hohes Maß an Konzentration, weist den Autor allerdings auch als brillanten Vertreter seiner Zunft aus. Um eine, in unseren Tagen heiß diskutierte Frage drückt er sich allerdings herum. Sie lautet: Wo findet Europa seine Begrenzung? Wie sollte das heute vereinigte Europa mit Beitrittwünschen von Ländern umgehen, die den von ihm beschriebenen Weg nicht mitgegangen sind? Gerade aus der Sicht eines so universell denkenden Historikers wäre ein abgewogenes Urteil in dieser Frage hilfreich und könnte zur Versachlichung der Debatte durchaus beitragen.
Ferdinand Seibts Argumente machen klar, dass Europa viel mehr ist als ein Zusammenschluss demokratischer Länder. Ohne die üblichen Schlagworte von den Lehren der Geschichte zu bemühen, kann sich Europa...
...auf die einfache historische Gemeinsamkeit beziehen, die seine Menschen seit tausend Jahren in allen Lebensbereichen geformt haben.
Die Geschichte, die die Völker Europas mehr durchlitten als durchlebt haben, zeigt, dass die Menschen auf diesem Kontinent gemeinsame Erfahrungen und Prägungen haben, die sie viel enger aneinander schweißen als es manch zu kurz gedachte Politrhetorik unserer Tage Glauben machen will. Ferdinand Seibt – und das ist das große Verdienst seines Buches – legt die Grundlinien offen für das, was man einmal eine europäische Identität nennen könnte.