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Ferien an einem magischen Ort

Flughafen Longyearbyen auf Spitzbergen. Mit gewinnendem Lächeln verteilt ein junger Mann namens Alexei Informationen zu Barneo, einem russischen Camp, ca. 1000 km von Spitzbergen entfernt mitten auf dem arktischen Packeis. Er weist vor allem auf die Badges nachdrücklich hin, die einen als Basisbesucher, Skifahrer, VIP oder Forscher im Rahmen des Internationalen Polarjahres ausweisen. Bitte immer tragen!

    Vor der Abreise drückt Alexej noch allen ein Blatt in die Hand: Das müssen Sie unterschreiben. Was auch immer passiert - brechendes Eis, hungrige Eisbären, defekte Flugzeuge über dem Eismeer - Schadensersatzansprüche können nicht gestellt werden, selbst dann nicht, wenn der Fehler eindeutig auf Seiten der Veranstalter liegt. Alle unterschreiben, mit etwas mulmigem Gefühl in der Magengegend. Der Nordpol, zu dem sie alle möchten, ist eben kein gewöhnliches Reiseziel. Eingesammelt wird das Papier dann aber doch nicht.

    Die Antonov 74 ist ein robustes Flugzeug. Ca. zwanzig Personen haben darin Platz. "Gasprom Avia", ein Ableger des Gaskonzerns, betreibt den Shuttle in die Polregion. Ungefähr 2 1/2 Stunden dauert der Flug von Longyearbyen zum 89. Längengrad, wo das Camp aufgebaut ist. Die Passagiere: meist bärtige Männer, die eine Skitour machen möchten, ein paar routinierte russische Forscher in grün-bräunlichen Tarnanzügen mit Pelzkapuzen, ein junger Mann, der die Fahrt offensichtlich zum ersten Mal macht. Und eine Frau.

    Mit gleichmütigem Gesicht verteilt der Bordstewart das Essen. Anschließend zieht er einen Schraubenzieher aus der Hosentasche, dreht etwas fest, greift dann nach einem Kartenspiel in der Ablage und verschwindet damit im Cockpit.
    Die Fluggäste drängen sich an den vier runden Fenstern des Polshuttles und bewundern die majestätisch emporragenden Schnee- und eisbedeckten Berge. Bald verwandelt sich diese Landschaft in eine schier unendliche Eisdecke, flach, monoton, leer. Gerade mal zwei Meter dick ist dieses Eis, darunter liegt der 3000 - 4000 Meter tiefe arktische Ozean.

    Nach zweieinhalb Stunden setzt das Flugzeug zur Landung an - auf einer Landepiste, die gerade mal 200 Meter lang ist. "Bleiben Sie ruhig und cool" rät der Prospekt. Vollbremsung, dann steht die Antonov. Mitten auf dem Eis. Es ist 21 Uhr, aber taghell. Polarsommer. Die Temperatur: minus 15 Grad.

    Die erste Etappe auf dem Weg zum Pol ist erreicht. "Barneo": jemand hat die sechs Buchstaben aus mannshohen Eisblöcken herausgehauen - ein Blickfang. Das vom Klang her an die Insel im indonesischen Archipel erinnernde Barneo - das sind nur ein paar blaue Zelte auf dem Packeis.

    So stellt Victor Bojarsky sich immer vor: als Direktor des arktischen Museums in St. Petersburg und als berühmter Polarforscher. Seit zwölf Jahren managt der kräftige Mann mit Vollbart das Camp. Jedes Jahr bauen die Russen es für wenige Wochen Ende März auf - und spätestens Mitte Mai wieder ab.

    " Das ist das Schwierigste hier in der Region: wir können nichts auf dem Eis lassen. Denn das Eis bewegt sich ständig, daher kann man nicht einfach die Sachen bis zur nächsten Saison hier lassen. Durch die Eisdrift würde alles bis nach Grönland getrieben und unterwegs sicher kaputtgehen. Daher müssen wir das Camp jedes Jahr neu aufbauen, danach bringen wir das meiste nach Spitzbergen und von da nach Moskau."

    Ca. vierzig Menschen haben im Camp Platz. Sie schlafen auf Pritschen in überheizten Zelten, ein Technikzelt steht für Forscher zur Verfügung, zwei weitere für die Mitarbeiter. Das größte Zelt ist das "Mess Tent", Restaurant und Aufenthaltsraum zugleich. Darin acht Tische mit blass geblümten Plastikdecken. Auf dem größten stehen Kekse, heißes Wasser, Teebeutel, Zucker. Auf dem Regal dahinter Wodkaflaschen und russische Souvenirs. Nebenan ist das Reich der Köchin Galina. Suppe bereitet sie mit geschmolzenem Schnee zu, das heiße Teewasser im Topf lag vor kurzem auch noch in fester Form vor dem Zelt.

    Wasser zum Waschen gibt es nirgends. Die Russen stört das nicht. Einmal ausziehen und sich kurz im Schnee wälzen - das ist ihre Morgentoilette. Franzosen, Deutsche oder Japaner tun sich damit schwer.

    Dass die blaue Zeltstadt auf nur zwei Meter dickem, langsam südwestwärts driftenden Eis aufgebaut ist, mag man sich lieber nicht genau ausmalen. Für Notfälle ist neben dem Restaurant eine große Glocke angebracht: ein Schlag: Eisbären, ununterbrochene Schläge: Feueralarm, mehrere einzelne Schläge: das Eis bricht.

    " Driftendes Eis ist etwas sehr spezielles, da kann immer was passieren. Vor ein paar Tagen hatten wir zum Beispiel einen schweren Sturm, da krachte es überall, sogar die Landepiste brach. Wir waren kurz davor, alles zu evakuieren, aber dann ging es doch wieder. Das Camp sieht zwar solide aus, kann aber ruckzuck abgebaut werden. Was die Eisbären betrifft: das ist relativ ruhig. Vor ein paar Jahren kamen sie mal vorbei, sie waren neugierig und trollten sich wieder. Für sie gäbe es hier zwar Nahrung, aber sie fressen lieber Robben als Wissenschaftler oder Touristen."

    Victor Bojarsky und sein Team bieten ein ausgetüfteltes Programm: mehrtägige Skitouren zum Nordpol, je nach Geldbeutel und Kondition, Fahrten mit Hundeschlitten, Tauchen im arktischen Meer und Paragliding über dem Pol. Wer es eilig hat, bucht Express: Mit dem Hubschrauber einmal schnell zum Pol hin und zurück. Zwischen 250 und 300 Touristen erreichen so pro Saison via Barneo den Nordpol.

    Acht Personen haben im Hubschrauber, einem MI 8, Platz genommen. Mit Getöse erhebt er sich in die Luft, wirbelt Schnee auf und fliegt dann langsam über das Eis Richtung Pol. Die Sicht ist phantastisch, der Himmel strahlend blau. Unregelmäßige Linien durchziehen die Eisfläche. Von oben sehen sie aus, als hätte ein Konditor mit einer Sahnespritze die Fläche verziert. Plötzlich etwas Grünes mitten in dieser weißen Unendlichkeit: ein Zelt. Drei Menschen winken nach oben. Sie wandern per Ski zum Pol.

    Nach einer Stunde landet der Hubschrauber. Eiswüste, soweit das Auge schauen kann, klar, weiß, fast ein anderer Planet.

    " Aus der Luft sieht das alles so klein und winzig aus und wenn man dann hier steht, sieht man doch, dass man von meterhohen, haushohen Eisgebirgen umgeben ist und das macht, denke ich, gerade den Reiz auch dieser Landschaft aus. Die meisten Leute denken, es ist hier flach und weiß und eintönig, aber gerade hier am Nordpol ist es ja nicht so. Hier sind kleine Gebirge, und hier ist alles ständig in Bewegung. "


    Daher, so Christian Haas, Geophysiker am Alfred Wegener Institut, der zur Zeit die Eisdicke in der Polregion misst, weiß man auch nie, ob man wirklich am geographischen Nordpol steht - wegen der Eisdrift. Aber wenn das GPS Gerät dann 90 Grad, 0 Winkelminuten und 0,0 Winkelsekunden Nord anzeigt, ist der magische Punkt erreicht, Ziel zahlreicher Abenteurer, Touristen und Wissenschaftler.

    " Wir sind genau am geographischen Nordpol, auf der Rotationsachse der Erde, dem Punkt an dem alle Meridiane der Welt zusammenlaufen. Wo man auch hinschaut, man schaut immer nach Süden. Es ist ein besonderer Ort, von großer Symbolik. Warum wir heute hier sind? Weil das Eis hier immer mehr schmilzt, seit dreißig Jahren. Unsere Expedition "Total Pole Airship" hat sich zum Ziel gesetzt, diese Eisdicke über dem Ozean zu messen. "

    Jean Louis Etienne, Kollege des Wissenschaftlers Christian Haas, ist ein erfahrener "Polarhase". Vor über zwanzig Jahren erreichte der heute sechzigjährige als erster Mensch allein den Nordpol. 63 Tage zog er seinen Schlitten hinter sich her - nur eine der zahlreichen spektakulären Aktionen des kleinen, drahtigen Mannes. Er ist so etwas wie der Arved Fuchs der Franzosen - ein Abenteurer, ein Aufklärer, ein Verteidiger bedrohter Regionen des Planeten Erde. Und außerdem ein Logistiker für Forschungsexpeditionen.

    Ein japanisches Fernsehteam filmt am Pol für eine Sendung zum Klimawandel, drei Skiläufer kommen vorbei, ein junger Mann blickt versonnen auf sein GPS Gerät.

    " Du kannst Dir das nicht vorstellen: Du stehst auf dem Dach der Welt. Wenn Du Dich umschaust, siehst Du nur Eis, die Sonne dreht sich um Dich. Ich bin hier, weil ich heute Geburtstag habe."

    Der 35jährige Widaal stammt aus dem südlichen Teil Norwegens. Er hat via Internet die Express Tour gebucht: drei Tage Nordpol. Nach einer guten Stunde steigt er leicht durchgefroren wieder in den Hubschrauber, der ihn zurück zum Camp bringt. Über die Kosten seiner Geburtstagsexpedition möchte er nicht sprechen.

    Ganz anders Barbara Hillary aus New York. Sie sitzt im "Restaurant" von Barneo, wo Galina gerade das Essen serviert hat. Eine Schlange hat sich vor dem großen Blechtopf gebildet. Einer nach dem anderen füllt seinen Plastikteller mit der heißen Gemüsesuppe, in der auch ein paar Fleischbrocken schwimmen. Barbara Hillary hat schon gegessen.

    " Das Reisen in nördliche Regionen hat mir schon immer gefallen, ich habe schon Eisbären in Manitoba photographiert, Hundschlitten und Schneescooter in Quebec und Minnesota. Da war es nur folgerichtig, auf den Pol zu fahren. Ich habe viel darüber gelesen und so geriet ich langsam in dieses Abenteuer hinein."

    Jahrelang hat die 75 jährige ehemalige Krankenschwester gespart, um ihren Traum zu verwirklichen. Aber die Preise für eine Reise an den Nordpol stiegen in den letzten Jahren so schnell an, dass sie nicht hinterherkam. Schließlich fand sie Sponsoren. Denn Barbara Hillary ist die die erste Schwarze auf dem Nordpol. Das sorgt in den USA für ein gewisses Medieninteresse. Im "New Yorker" wurde sie bereits vor ihrer Abreise portraitiert. Kommt sie zurück, warten Fernsehauftritte auf sie.

    Gut zwanzigtausend Dollar hat sie für den viertägigen Trip bezahlt: für den Polshuttle ab Longyearbyen, für die Ausrüstung mit warmer Kleidung, den Aufenthalt im Camp, für die Hubschraubertour auf den Pol. Für das Geld hat sie zwar kein Luxushotel erwartet, aber doch etwas mehr als eine Pritsche und gar kein Wasser.

    " Auf die Bedürfnisse von Frauen wird hier überhaupt nicht eingegangen. Als ob Frauen hier nichts zu suchen hätten! Die Kleidung ist für Männer geschnitten und viel zu groß. Die Hygiene lässt mehr als zu wünschen übrig. Natürlich gibt es kein Wasser. Aber es gibt schließlich genug Produkte, die es ersetzen können. Man ist doch verpflichtet, einen Gegenwert zu geben, wenn man so viel Geld verlangt. "

    Als dann aber am Nachmittag der Hubschrauber startklar ist, der sie zum Ort ihrer Wünsche bringen wird, ist alles vergessen. Barbara Hillary strahlt. Als sie nach zwei Stunden zurückkommt, laufen Tränen über ihre Wangen.

    " Es war der aufregendste Moment meines Lebens. Ich fühle mich großartig. So viele Gedanken und Gefühle kommen mir in den Sinn. Wenn du aus einem überentwickelten Land kommst und dann dieses so reine Eis mit all seinen Formationen siehst - das ist jenseits aller Beschreibungen. "

    Wie spät es ist, merkt man nur, wenn man auf die Uhr schaut. Denn um diese Jahreszeit ist es immer hell in der Polregion. Gegen 20 Uhr macht sich Unruhe im Camp breit. Die Antonov kommt. Sie wird die Polbesucher einsammeln und neue Gäste bringen. Gepäck wird auf Schlitten geladen und mit Schneescootern zur Landepiste gebracht. Und da setzt das Flugzeug auch schon zu seiner spektakulären Landung an. In warmer Kleidung kommen bald die ersten Gäste die Treppe hinunter. Einer von ihnen hat ein Cello unterm Arm.

    Denis Shapovalov aus Moskau. Wache Augen blicken aus dem rosigen Gesicht hervor, das von einer dicken, pelzbesetzten Kapuze umgeben ist. Der Russe, Schüler des vor kurzem verstorbenen Cellisten Mstislaw Rostropowitsch, möchte am nächsten Tag ein Konzert auf dem Nordpol geben - zur Erinnerung an siebzig Jahre russische Polarforschung. Die Kälte mache ihm nichts aus - er sei schließlich Russe und habe auch schon bei minus 35 Grad in Sibirien gespielt.

    " Es ist so unglaublich, hier aufzutreten, es ist ganz wunderbar. Bisher hat, glaube ich, hier noch niemand Cello gespielt. Morgen will ich Bach, Schumann, Schubert hier spielen."

    Die New Yorkerin Barbara und auch der Norweger Widaal sind dann schon wieder abgereist. Im Kopf werden sie Bilder vom Dach der Welt mitnehmen, die sie nie wieder vergessen. Weiße Eiswüste, große Stille. Die Musik in der Unendlichkeit des Packeises wäre ihnen vielleicht zuviel gewesen.
    Landschaft beim Camp Barneo am Nordpol
    Landschaft beim Camp Barneo am Nordpol (Deutschlandradio - Susanne von Schenck)