Lorraine Daston, Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.
"Niemand kann über die Geschichte der empirischen Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert, das heißt, in Zeiten der wissenschaftlichen Revolution, arbeiten, ohne frappiert zu werden, über den Aufstieg von bestimmten empirischen Formen. Zum Beispiel Fallstudien, die sogenannte Historie und Beobachtung. Und das war der Ursprung von diesem Projekt."
Bis ins späte Mittelalter prägten vor allem Theologie und Naturphilosophie die Welterklärung. Wissenschaft war daher meist Bücherwissen, oft aus der Antike herübergerettet. Im 16. Jahrhundert wandten sich einige Forscher dann vermehrt der Natur zu: Sie untersuchten lieber Pflanzen, statt die historischen Manuskripte über sie zu studieren. Motiviert war diese beobachtende botanische Forschung vor allem durch den medizinischen Wunsch, zu heilen. Für Lorraine Daston ist die Medizin ohnehin das beste Beispiel dafür, wie sich die wissenschaftliche Beobachtung etablierte.
"Schon Mitte des 16. Jahrhunderts haben europäische Ärzte die sogenannten Oberservationes gesammelt und publiziert. Oberservationes waren Beobachtungen von bestimmten medizinischen Fällen. Das Ziel von diesen Sammlungen von Oberservationes war, seltene Fälle zugänglich zu machen, um Vergleiche zu ermöglichen. So zum Beispiel von einer Missgeburt, kann man manchmal etwas darauf erschließen, wie die normale embryologische Entwicklung gehen sollte."
Neu war die medizinische Beobachtung allerdings nicht: Bereits der griechische Arzt Galen hatte sie im 2. Jahrhundert praktiziert. Er sezierte Tiere und schrieb auf dieser Basis eine Abhandlung über die menschliche Anatomie. Im 12. Jahrhundert entdeckten die Europäer Galens Schriften neu und nutzen sie für die medizinische Ausbildung. Galens Botschaft, selbst zu beobachten, anstatt sich auf andere zu verlassen, ging allerdings verloren. Und vor allem: Es handelte sich um einzelne Beobachtungen – systematisch wurde diese erst in der Frühen Neuzeit, wie das Beispiel der Oberservationes zeigt.
"Und von der Medizin aus hat die Beobachtung, die wissenschaftliche Beobachtung, ein Reich gegründet. Man könnte sogar sagen, dass am Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts, war Beobachtung die wichtigste Methode für die empirischen Wissenschaften. Oder, anders gesagt: Die Wissenschaften sind empirisch geworden erst durch die systematische Beobachtung."
Die wissenschaftliche Beobachtung blieb nicht auf die Medizin begrenzt: Botanik oder auch Meteorologie profitierten ebenfalls von der neuen Erkenntnistechnik. Zwar wurde bereits im Mittelalter etwa das Wetter beobachtet – doch nicht in wissenschaftlich-systematischer Form.
Friedrich Steinle, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der TU Berlin.
"Was in der frühen Neuzeit nun passiert, ist eben der Punkt, das Experiment und Beobachtung zum alleinigen Weg der Naturforschung erklärt wird. Das haben sie vorher nicht."
Aus vielen Einzelbeobachtungen wurden zunehmend allgemeine Erkenntnisse gewonnen und es entwickelten sich im 16. bis 18. Jahrhundert standardisierte Vorgehensweisen sowie genaue Niederschriften der Beobachtungen. Hinzu kamen technische Geräte, die ganz neue Erkenntnisse ermöglichten: Als beispielsweise Galileo Galilei 1609 sein Teleskop konstruierte, revolutionierte er damit die Astronomie.
"Was das Fernrohr natürlich sehr früh leistet ist die qualitative Beobachtung von Himmelskörpern, insbesondere des Mondes. Galilei kann eben durch Fernrohrbeobachtungen sehr überzeugend dafür argumentieren, dass es zum Beispiel Gebirge auf dem Mond gibt. Das könnten sie ohne Fernrohr nicht tun. Und dieses Argument spielt eine ganz wesentliche Rolle dann in der Argumentation um Heliozentrik oder Geozentrik."
Durch seine Beobachtungen demontierte Galilei das aristotelische System der Astronomie: Er bewies, dass die Oberfläche des Mondes bergig war und nicht glatt und er zeigte vor allem, dass die Planeten um die Sonne kreisten und nicht um die Erde. Die aus der Antike stammenden naturphilosophischen Erklärungen verloren durch Galilei ihre Autorität. Gleichzeitig regten seine Beobachtungen aber auch zu grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Reflexionen an.
"Beobachtung ist oft instrumentengetragen, siehe Mikroskop, siehe vor allem Teleskop. Und wie schon die frühen Beispiele, Galilei zum Beispiel, zeigen, es ist nicht trivial! Sie nehmen ein Instrument, sehen durch das irgendwas, lange versteht gar keiner wie das Instrument funktioniert, Galilei selber hat auch keine Theorie des Teleskops. Und jetzt sollen sie plötzlich glauben, was das Instrument ihnen zeigt. Da ist eine gesunde Skepsis erst mal und die will reflektiert sein."
Wissenschaftskritische Überlegungen und zunehmend verfeinerte Beobachtungstechniken nahmen in den kommenden Jahrhunderten zu. In der Astronomie beispielsweise arbeiten Weltraumteleskope mittlerweile vollautomatisch, sie zerlegen Spektralfarben, Computer werten die Daten aus.
Und auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften ist die Beobachtung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine oft hochabstrakte Angelegenheit. Lange Zeit dominierten hier Introspektionen: Beobachtungen, die aus Alltagserfahrungen und einer intuitiven Innenschau gewonnen wurden.
Adam Smith etwa formulierte so im 18. Jahrhundert seine bekannte These, wonach das gesellschaftliche Glück maximiert werde, indem jedes Individuum versuche, sein persönliches Glück zu erhöhen. Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston.
"Erst Mitte des 20. Jahrhunderts hat man die Introspektion in der Ökonomie als subjektiv kritisiert. Man hat plötzlich ein Reichtum von Daten – die quantitativen Statistiken die die Regierungen gesammelt haben – womit man arbeiten konnte. Das war eine Möglichkeit, die man vorher nicht hatte."
Konkrete Beobachtungen wurden durch statistische Datenanalysen ergänzt. Forscher können auf dieser Grundlage heute etwa aus einer gigantischen Datenflut Arbeitslosenstatistiken erstellen: Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist diese auf Beobachtung gestützte Wissenschaft hochabstrakt und komplex geworden. Und doch bleibt die Beobachtung Grundlage aller Forschung, meint Lorraine Daston.
"Die Beobachtung ist immer Alpha und Omega der Wissenschaft. Man fängt an mit den Beobachtungen, man hört auf mit den Beobachtungen. Vieles passiert dazwischen, aber A und O bleiben Beobachtungen."
Denn nur so könne man neue Fragestellungen entwickeln, ergänzt Daston - und nur so lassen sich Hypothesen formulieren. Die Geschichte der wissenschaftlichen Beobachtung ist also noch lange nicht abgeschlossen.
"Niemand kann über die Geschichte der empirischen Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert, das heißt, in Zeiten der wissenschaftlichen Revolution, arbeiten, ohne frappiert zu werden, über den Aufstieg von bestimmten empirischen Formen. Zum Beispiel Fallstudien, die sogenannte Historie und Beobachtung. Und das war der Ursprung von diesem Projekt."
Bis ins späte Mittelalter prägten vor allem Theologie und Naturphilosophie die Welterklärung. Wissenschaft war daher meist Bücherwissen, oft aus der Antike herübergerettet. Im 16. Jahrhundert wandten sich einige Forscher dann vermehrt der Natur zu: Sie untersuchten lieber Pflanzen, statt die historischen Manuskripte über sie zu studieren. Motiviert war diese beobachtende botanische Forschung vor allem durch den medizinischen Wunsch, zu heilen. Für Lorraine Daston ist die Medizin ohnehin das beste Beispiel dafür, wie sich die wissenschaftliche Beobachtung etablierte.
"Schon Mitte des 16. Jahrhunderts haben europäische Ärzte die sogenannten Oberservationes gesammelt und publiziert. Oberservationes waren Beobachtungen von bestimmten medizinischen Fällen. Das Ziel von diesen Sammlungen von Oberservationes war, seltene Fälle zugänglich zu machen, um Vergleiche zu ermöglichen. So zum Beispiel von einer Missgeburt, kann man manchmal etwas darauf erschließen, wie die normale embryologische Entwicklung gehen sollte."
Neu war die medizinische Beobachtung allerdings nicht: Bereits der griechische Arzt Galen hatte sie im 2. Jahrhundert praktiziert. Er sezierte Tiere und schrieb auf dieser Basis eine Abhandlung über die menschliche Anatomie. Im 12. Jahrhundert entdeckten die Europäer Galens Schriften neu und nutzen sie für die medizinische Ausbildung. Galens Botschaft, selbst zu beobachten, anstatt sich auf andere zu verlassen, ging allerdings verloren. Und vor allem: Es handelte sich um einzelne Beobachtungen – systematisch wurde diese erst in der Frühen Neuzeit, wie das Beispiel der Oberservationes zeigt.
"Und von der Medizin aus hat die Beobachtung, die wissenschaftliche Beobachtung, ein Reich gegründet. Man könnte sogar sagen, dass am Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts, war Beobachtung die wichtigste Methode für die empirischen Wissenschaften. Oder, anders gesagt: Die Wissenschaften sind empirisch geworden erst durch die systematische Beobachtung."
Die wissenschaftliche Beobachtung blieb nicht auf die Medizin begrenzt: Botanik oder auch Meteorologie profitierten ebenfalls von der neuen Erkenntnistechnik. Zwar wurde bereits im Mittelalter etwa das Wetter beobachtet – doch nicht in wissenschaftlich-systematischer Form.
Friedrich Steinle, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der TU Berlin.
"Was in der frühen Neuzeit nun passiert, ist eben der Punkt, das Experiment und Beobachtung zum alleinigen Weg der Naturforschung erklärt wird. Das haben sie vorher nicht."
Aus vielen Einzelbeobachtungen wurden zunehmend allgemeine Erkenntnisse gewonnen und es entwickelten sich im 16. bis 18. Jahrhundert standardisierte Vorgehensweisen sowie genaue Niederschriften der Beobachtungen. Hinzu kamen technische Geräte, die ganz neue Erkenntnisse ermöglichten: Als beispielsweise Galileo Galilei 1609 sein Teleskop konstruierte, revolutionierte er damit die Astronomie.
"Was das Fernrohr natürlich sehr früh leistet ist die qualitative Beobachtung von Himmelskörpern, insbesondere des Mondes. Galilei kann eben durch Fernrohrbeobachtungen sehr überzeugend dafür argumentieren, dass es zum Beispiel Gebirge auf dem Mond gibt. Das könnten sie ohne Fernrohr nicht tun. Und dieses Argument spielt eine ganz wesentliche Rolle dann in der Argumentation um Heliozentrik oder Geozentrik."
Durch seine Beobachtungen demontierte Galilei das aristotelische System der Astronomie: Er bewies, dass die Oberfläche des Mondes bergig war und nicht glatt und er zeigte vor allem, dass die Planeten um die Sonne kreisten und nicht um die Erde. Die aus der Antike stammenden naturphilosophischen Erklärungen verloren durch Galilei ihre Autorität. Gleichzeitig regten seine Beobachtungen aber auch zu grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Reflexionen an.
"Beobachtung ist oft instrumentengetragen, siehe Mikroskop, siehe vor allem Teleskop. Und wie schon die frühen Beispiele, Galilei zum Beispiel, zeigen, es ist nicht trivial! Sie nehmen ein Instrument, sehen durch das irgendwas, lange versteht gar keiner wie das Instrument funktioniert, Galilei selber hat auch keine Theorie des Teleskops. Und jetzt sollen sie plötzlich glauben, was das Instrument ihnen zeigt. Da ist eine gesunde Skepsis erst mal und die will reflektiert sein."
Wissenschaftskritische Überlegungen und zunehmend verfeinerte Beobachtungstechniken nahmen in den kommenden Jahrhunderten zu. In der Astronomie beispielsweise arbeiten Weltraumteleskope mittlerweile vollautomatisch, sie zerlegen Spektralfarben, Computer werten die Daten aus.
Und auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften ist die Beobachtung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine oft hochabstrakte Angelegenheit. Lange Zeit dominierten hier Introspektionen: Beobachtungen, die aus Alltagserfahrungen und einer intuitiven Innenschau gewonnen wurden.
Adam Smith etwa formulierte so im 18. Jahrhundert seine bekannte These, wonach das gesellschaftliche Glück maximiert werde, indem jedes Individuum versuche, sein persönliches Glück zu erhöhen. Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston.
"Erst Mitte des 20. Jahrhunderts hat man die Introspektion in der Ökonomie als subjektiv kritisiert. Man hat plötzlich ein Reichtum von Daten – die quantitativen Statistiken die die Regierungen gesammelt haben – womit man arbeiten konnte. Das war eine Möglichkeit, die man vorher nicht hatte."
Konkrete Beobachtungen wurden durch statistische Datenanalysen ergänzt. Forscher können auf dieser Grundlage heute etwa aus einer gigantischen Datenflut Arbeitslosenstatistiken erstellen: Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist diese auf Beobachtung gestützte Wissenschaft hochabstrakt und komplex geworden. Und doch bleibt die Beobachtung Grundlage aller Forschung, meint Lorraine Daston.
"Die Beobachtung ist immer Alpha und Omega der Wissenschaft. Man fängt an mit den Beobachtungen, man hört auf mit den Beobachtungen. Vieles passiert dazwischen, aber A und O bleiben Beobachtungen."
Denn nur so könne man neue Fragestellungen entwickeln, ergänzt Daston - und nur so lassen sich Hypothesen formulieren. Die Geschichte der wissenschaftlichen Beobachtung ist also noch lange nicht abgeschlossen.