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Fertiggericht oder Bioanbau?

Schinken aus zerkleinertem Fleisch plus Wasser, "Käse", der nie eine Kuh gesehen hat, oder Garnelen, die aus dem Muskelfleisch von Fischen in Form gegossen werden - mit ihrem Buch "Die Ernährungsdiktatur" ist Tanja Busse angetreten, uns wachzurütteln: Nicht alles, was als Lebensmittel verkauft wird, sollte man auch essen.

Von Sabine Weber | 05.07.2010
    Sie wollen einkaufen und überlegen, ob Sie Lust auf frische Zutaten aus dem Bioladen haben oder ob es die Tiefkühlpizza aus dem Supermarkt heute auch tut. Eine rein private Entscheidung, meinen Sie? Falsch gedacht, sagt Tanja Busse in ihrem Buch "Die Ernährungsdiktatur". Denn, so die Autorin, Ihr vermeintlich privates Kaufverhalten hat Auswirkungen, die mittlerweile genauso global sind wie die Ernährungsindustrie agiert.

    Kaufen wir Thunfisch, fördern wir das Artensterben. Essen wir Shrimps, unterstützen wir die Abholzung der südasiatischen Mangrovenwälder. Beim Hähnchen essen wir unter Umständen brasilianischen Regenwald mit, wo noch immer Soja als Tierfutter angebaut wird. Kann man das uns Konsumenten zum Vorwurf machen? Oder nur den Unternehmen, die von diesen Missständen profitieren? Oder ist es allein eine politische Aufgabe, für ein Ende der Umweltzerstörung, des Klimawandels, der Ausbeutung und des Hungers zu sorgen?

    In 16 Kapiteln arbeitet sich Tanja Busse an einer Vielzahl von Zahlen, Fakten und Themengebieten ab. Engagiert legt sie Missstände offen und nennt Ross und Reiter – welcher Marktführer erhält Exportsubventionen, wer betreibt unverfroren Etikettenschwindel, wessen Werbebotschaften sind frei erfunden et cetera. Zugleich fragt sie immer wieder nach der Verantwortung – nach der politischen, aber auch nach der moralischen. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist ein bemerkenswertes Symptom. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO sind 1,6 Milliarden Menschen übergewichtig. Schuld daran ist wohl weniger eine allgemeine Willensschwäche als vielmehr das Überangebot an Fast Food, Süßigkeiten und Convenience-Produkten sowie die gnadenlose Ausnutzung unserer Manipulierbarkeit. Mit Werbeetats, die manche Länder gerne als Staatshaushalt hätten, werden wir bewusst irregeführt. Diesen 1,6 Milliarden Übergewichtigen stehen rund eine Milliarde Hungernde gegenüber. Voller Empörung schreibt Busse gegen diesen Hunger an.

    Was wäre das für ein groteskes Bild, wenn alle Menschen der Welt an einem globalen Mittagstisch Platz nähmen: fast zwei Milliarden Übergewichtige, eine Milliarde Hungernde und all die anderen. Wenn wir uns für das globale Mittagessen eine Stunde Zeit nähmen, fielen etwa 4000 von uns während des Essens tot von ihren Stühlen. Verhungert.
    Busse zitiert – neben vielen anderen Experten, Autoren und Entscheidungsträgern – den Schweizer Soziologen und Politiker Jean Ziegler. Hauptverursacher des Hungers seien die maßlose Profitgier der Wirtschaft, die wachsende Verschuldung der armen Länder und das Agrardumping.

    Die gefrorenen Hühnerbeine aus den europäischen Großschlachtereien sind so billig, dass die Bäuerinnen in Westafrika nicht mithalten können. Gärtner in Ghana werden ihre Tomaten nicht mehr los, weil das Land von Tomatenmarkimporten aus Südeuropa überschüttet wird. Milchpulver aus der Europäischen Union landet so günstig in Sambia, dass die Milchbauern dort um ihre Existenz fürchten. Mit freundlicher Unterstützung des europäischen Steuerzahlers.
    Denn das Agrardumping durch exportierende europäische Länder wird ganz offiziell mit EU-Subventionen in Millionenhöhe gefördert. Neben dieser skandalös anmutenden EU-Politik beleuchtet Busse die Auswirkungen von Monokulturen, unsere zunehmende Abhängigkeit von den Nahrungsmittelmultis, die fehlende Deklarationspflicht von Zusatzstoffen und die sich immer weiter durchsetzende Gentechnologie. Dankenswerterweise belässt es die Autorin nicht bei ihrer kenntnisreichen Analyse des wahrhaft deprimierenden Ist-Zustandes; vielmehr macht sie sich auf die Suche nach Lösungen. Eine Hoffnung, so Busse, liege überraschenderweise im System selbst.

    Das agrarindustrielle System steht vor dem Zusammenbruch, weil es seine eigenen Grundlagen zerstört: Die Böden verlieren ihre Fruchtbarkeit, die Pestizide ihre Wirksamkeit. Und wenn das Öl teurer wird, steigen die Preise nicht nur für die weltweiten Transporte von Millionen Tonnen Agrarprodukten, sondern auch für Düngemittel und Pestizide, die nur mit hohem Einsatz von fossiler Energie hergestellt werden können.

    Eine zweite Hoffnung liege in der Politik, die sich von den Einflüsterungen der Lobbyisten befreien und stattdessen wieder die Kleinbauern stärken und Gesetze schaffen könnte, die Hunger verursachendes Handeln unter Strafe stellten. Eine letzte Hoffnung setzt sie in uns, die Verbraucher in den Industriestaaten; darauf, dass wir die Nase vielleicht schon bald voll haben werden von künstlichem Geschmack, von ungeprüften Zusatzstoffen, von Kinderarbeit, Erdbeeren im Winter und Massentierhaltung. Wir tragen zwar nicht die Schuld, so Busse, doch haben wir die Verantwortung.

    Aber wie soll man sich der Verantwortung stellen, ohne vor der Größe der Aufgabe zu kapitulieren? Immerhin: Wir müssen gegen den Klimawandel und gegen Welthunger gleichzeitig kämpfen, dabei die Ressourcenknappheit im Blick behalten, das alles in einem krisenhaften ökonomischen System, das zu periodischen Zusammenbrüchen neigt, und in geschwächten nationalen Demokratien, die durch Lobbyeinfluss gelähmt sind.
    Angesagt sei ein Kampf für die Souveränität über unsere Ernährung. Zum Beispiel, indem man als Konsument Unternehmen stärke, die umweltbewusst arbeiten; indem man bei den zuständigen Stellen Kennzeichnungsregelungen einfordere; und indem man bei der eigenen Ernährung nach der Devise handle: saisonal, regional, ökologisch. "Die Ernährungsdiktatur" verzichtet auf eine klare Schwerpunktsetzung, schneidet vieles nur an und verliert sich zuweilen, so scheint es, auf Nebenschauplätzen. Doch genau dadurch gelingt es Tanja Busse, die Zusammenhänge aufzuzeigen zwischen verloren gegangener Ernährungssouveränität, massiv beworbener Fehlernährung, millionenschweren EU-Subventionen, der Verelendung ganzer Landstriche bis hin zum Hungertod. Das mag im Einzelnen nicht neu sein, ist aber in der Zusammenfassung äußerst erhellend. Und auch wenn ihr Lösungsvorschlag "Zurück zum eigenen Garten!" allzu einfach klingt, verliert er doch seine Naivität, wenn man ihn als Bild für verantwortungsbewusstes Handeln und Konsumieren begreift. Die Entscheidung für ein Fertiggericht aus dem Supermarkt oder für regional erzeugte Lebensmittel aus ökologischem Anbau ist also längst eine politische und zugleich zutiefst moralische. Es ist die Entscheidung, so Tanja Busse, ob man sich für Bequemlichkeit oder für Freiheit entscheidet, für den eigenen vollen Bauch oder für eine gerechte Welternährung. So lässt sich nach der Lektüre des Buches konstatieren: Tiefkühlpizza, Schokoriegel und Co. haben ihre Unschuld endgültig verloren.

    Sabine Weber über Tanja Busse: Die Ernährungsdiktatur - Warum wir nicht länger essen dürfen, was uns die Industrie auftischt. Erschienen im Blessing Verlag, 336 Seiten für 16,95 Euro, ISBN: 978-3-89667-420-3.