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Festival in Avignon
Absage an abendländische Denktraditionen

Avignon befasst sich in diesem Jahr mit der Geschichte Europas, dessen Schicksal heute ungewisser ist als noch vor Jahren. Neben Theatermachern stellen auch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kritische Fragen. Interessant sind vor allem jene, die europäische Denktraditionen verlassen.

Von Eberhard Spreng | 14.07.2019
Der Ehrenhof des Papstpalastes in der Altstadt von Avignon während einer Festival-Veranstaltung
Der Ehrenhof des Papstpalastes in der Altstadt von Avignon während einer Festival-Veranstaltung (Christophe Raynaud De Lage / Festival d'Avignon)
"L’histoire inquiete", Die Geschichte beunruhigt. Das sagt der Historiker Patrick Boucheron, der beim Festival in Avignon gleich viermal in einer Debattenreihe auftrat. Damit war aber nicht nur gemeint, dass die Phantome der Geschichte ihre Schatten über das heutige Europa werfen: Diktatur, Barbarei, Neonationalismus, die in verschiedenen Theaterarbeiten von um Europa besorgten Künstlern angesprochen werden. Boucheron betont vielmehr, dass jede Generation von Historikern aus der Geschichte neue Erkenntnisse gewinnen kann und dass deshalb auch das, was als gesichert hinter uns liegt, jederzeit neue beunruhigende Aspekte offenbaren kann.
Europa muss eigene Geschichte neu erzählen
Schnell zeigte sich, dass die Denkwerkstatt "Les Ateliers de la Pensée" auch in anderen Begegnungen über das mäßig interessante Gedankenniveau der bisherigen Theateraufführungen hinaus kam. Die sind nämlich bislang bis auf eine Ausnahme kaum mehr als eine Ansammlungen europäischer Archetypen, Daten und Ereignisse. Dass Europa sich seine eigene Geschichte völlig neu erzählen muss, daran erinnert eine Stimme von außerhalb, die des senegalesischen Philosophen Souleyman Bachir Diagne.
"Europa glaubt gerne an seine universalistische Vormachtstellung: Oben der Himmel der Ideen, der sich direkt auf Europa fokussiert. Deshalb ist es Zentrum aller universalistischen Vorstellungswelten. Der Rest der Welt muss folgen. Diese Idee gibt es seit dem 19. Jahrhundert. Seit Hegel und der Kolonialzeit. Und die Peripherie wurde erst Teil der Weltgeschichte, als Europa seinen Blick auf sie richtete."
Diagnes Aufforderung zur Dekolonisierung macht vor allem vor dem Hintergrund des zentralen Programmfokus Sinn, den Avignon sich für dieses Jahr vorgenommen hat: Die "Odyssee", aber auch der "Aeneas"-Mythos, die "Orestie" und das griechische Erbe.
"Die Wissensvermittlung von Griechenland zum Rest Europas, früher nannte man sie lateinisch "Translatio Studiorum", erfolgte nicht auf direktem Wege: Nicht von Athen nach Rom und dann nach Paris, Heidelberg oder London. Griechische Philosophie wurde auch in Nishapur im Iran unterrichtet, kam von Bagdad nach Córdoba, Fez und dann nach Timbuktu. Die Leute wissen nicht, dass die aristotelische Philosophie in Timbuktu gelehrt wurde, lange bevor die Europäer Mali kolonisierten."
Neue Aufmerksamkeit gegenüber der Natur
Die vielleicht radikalste Absage an abendländische Denktraditionen erteilte in der Gesprächsreihe "Les Ateliers de la Pensée" die Literaturtheoretikerin Marielle Macé. Angesichts der ökologischen Katastrophen und dem wachsenden Gefühl, auf einem vom Menschen beschädigten Planeten zu leben, antwortet sie auf die Frage, ob es möglich sei, der entzauberten Welt den Zauber zurückzugeben.
"Derzeit erwacht das Interesse und die Leidenschaft für animistische Kosmologien wieder, die uns verloren gegangen waren. Also die Vorstellung, dass eine Pflanze, ein Tier so etwas wie eine Person ist und eine Seele hat. Ich sehe bei uns sogar einen Neid gegenüber animistischen Völkern. Und plötzlich erscheinen Bücher, die die Intelligenz der Bäume beschreiben, oder die des Wassers. Es gibt da etwas, das uns zu einer neuen Aufmerksamkeit gegenüber der Natur aufruft."
Dass die weit über Theaterdiskurse hinausgreifende Frage nach einem neuen abendländische Animismus überhaupt in Avignon gestellt wird, hängt mit der Hoffnung zusammen, die Dichter und die Poesie könnten in einer der Verzweiflung zutreibenden Kultur neue optimistische Räume öffnen, auch fürs Theater. Und spätestens seit Sophokles ist "le monde enchanté", also die sich selbst besingende, sich selbst beseelende Welt, die Domäne der Poeten. Und die haben ihre Sprache dereinst der Natur und dem Gesang der Vögel abgelauscht. Rückkehr allenthalben.
Wissenschaftler eröffnen neue Denkräume
Europas Zukunft liegt in einem radikal veränderten Blick auf Vergangenes und Verlorenes. Orestie-Regisseur Jean-Pierre Vincent glaubt daher fest an die Rolle eines Antikentheaters als Rettung in der Not.
"Die Geschichte ist hilfreich in Momenten der Gefahr und ich glaube, wir alle, die Menschheit, ist derzeit in Gefahr. Deshalb ist wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, auf welchem Wege sich die Menschheit in einer vergangenen Epoche aus der Gefahr befreit hat."
Avignon will in diesem Jahr den Poeten das Wort erteilen, aber es sind vor allem die Wissenschaftler, die dem europäischen Bewusstsein neue Räume öffnen.