Archiv

Festival in Gohrisch
Unbekannte Fragmente von Schostakowitsch uraufgeführt

Bei den diesjährigen Internationalen Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch gab es zwei spektakuläre Uraufführungen: aussortierte Stücke aus der Oper "Die Nase". Bis vor Kurzem waren die Fragmente des russischen Komponisten weder der Musikforschung noch der Praxis bekannt.

Von Claus Fischer |
    Eine Pult-Legende eröffnete den diesjährigen Festivaljahrgang mit der Sächsischen Staatskapelle, der Russe Gennady Rozhdestvensky. Auf dem Programm standen die 1. und die 15. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Dieses Konzert des Festivals fand ausnahmsweise in der Dresdner Semperoper statt, alle weiteren jedoch traditionsgemäß in einer umgebauten Scheune im Dorf Gohrisch, das dem Ansturm von über 1.000 Besuchern problemlos bewältigte.
    "Es ist ja ein etablierter Luftkurort, also in der Hinsicht ist da eine Menge Infrastruktur vorhanden", betont Tobias Niederschlag, Dramaturg der Sächsischen Staatskapelle und zugleich künstlerischer Leiter des Festivals.
    "Aber es ist vor allem auch die Geschichte, die dieser Ort atmet. Auch durch dieses ehemalige Gästehaus des DDR-Ministerrates, wo Schostakowitsch ja auch damals gewohnt hat, viele andere Staatsgäste auch. Natürlich ist das etwas, was man durchaus kritisch betrachten kann auch aus heutiger Sicht oder sogar muss. Aber auf der anderen Seite ist das das, was diesen Ort geprägt hat."
    Schostakowitsch in der Scheune
    Die Internationalen Schostakowitsch-Tage werden zum einen von der engagierten Dorfbevölkerung getragen, die schon monatelang vorher die Festivalscheune herrichtet, zum anderen von Musikern der Sächsischen Staatskapelle, die größtenteils im Rahmen ihrer Orchesterdienste, also de facto unentgeltlich auftreten. Dieses Engagement liegt in der speziellen Schostakowitsch-Tradition des Orchesters begründet. Tobias Niederschlag:
    "Gerade ein Dirigent wie Kurt Sanderling, der sehr eng mit Schostakowitsch befreundet war und auch seine Biografie sehr gut kannte, hat da doch sehr interessante Einblicke ja auch den Musikern gewährt. So dass man auch diese Doppelbödigkeit, die in dieser Musik drinsteckt, ja auch die latente Kritik einfach spüren konnte und einen ganz anderen Blick auf diese Musik hatte."
    Eine Nase macht Karriere
    Ein surrealistisches Meisterwerk - Dmitri Schostakowitschs Oper "Die Nase". Vordergründig in der Biedermeierzeit angesiedelt, kann man sie auch als eine bitterböse Satire auf die sowjetische Gesellschaft des Jahres 1930 verstehen. Die Nase eines Beamten macht sich selbstständig. Und sie macht Karriere als ranghoher Staatsrat.
    Man kann sich gut vorstellen, wie der abtrünnige Körperteil zu dieser Musik über die Bühne wackelt. Doch kurz vor der Uraufführung hat Dmitri Schostakowitsch dieses Zwischenspiel und noch zwei weitere aus der Partitur herausgenommen, erzählt der künstlerische Leiter der Schostakowitsch-Tage in Gohrisch Tobias Niederschlag.
    "Vielleicht passte es einfach nicht so richtig rein. Aber nachdem diese Zwischenspiele komplett auskomponiert sind, kann man schon sehen, dass es sich um Musik handelte, die Schostakowitsch sehr wichtig war."
    Hier steht die Nase hochgereckt vor der altehrwürdigen Kathedrale von Kasan. Gleich wird sie ihrem ehemaligen Besitzer begegnen. Auch diese Orgel-Introduktion, die stark an Werke Max Regers erinnert, hat Schostakowitsch vor der Uraufführung seiner Oper entfernt.
    Unbekannte Notenblätter aufgetaucht
    Was der Komponist mit den aussortierten Notenblättern gemacht hat, wusste bis vor Kurzem niemand. Die drei Fragmente waren weder in der Musikforschung noch in der Praxis bekannt. Die Witwe des Komponisten verwaltet den Nachlass, der zum Teil noch nicht aufgearbeitet ist. Der Dirigent Thomas Sanderling, der seit vielen Jahren in Russland lebt und arbeitet, ist - wie es auch bereits sein Vater Kurt Sanderling war - eng mit der Familie Schostakowitsch verbunden. Er fiel aus allen Wolken, als der Komponist und Schostakowitsch-Forscher Krzysztof Meyer ihm die unbekannten Zwischenspiele zeigte. Sie waren in einer Mappe abgelegt, die keinen Bezug zur Oper "Die Nase" hatte. Thomas Sanderling:
    "Der Schostakowitsch, der eigentlich in allem sehr penibel und genau war, in allen seinen Verabredungen, Telefongesprächen, was sie wollen, hat sich um Manuskripte nicht sehr gekümmert."
    Posthume Uraufführung durch Sächsische Staatskapelle
    Die Witwe des Komponisten, Irina Antonowna, die vor einigen Jahren selbst beim Schostakowitsch-Festival in Gohrisch zu Gast war, beauftragte Thomas Sanderling und Musiker der Sächsischen Staatskapelle Dresden mit der Uraufführung.
    "Das ist nicht die erste Uraufführung, die sie mir überträgt."
    Aber mit Sicherheit die spektakulärste. Denn wohl niemand hätte damit gerechnet, dass es an dem Ort, an dem Dmitri Schostakowitsch sein achtes Streichquartett komponiert hat, einmal noch zur Uraufführung eines seiner Werke kommen würde.
    Thomas Sanderling hat Dmitrij Schostakowitsch übrigens im Jahr 1972, bei dessen zweitem Aufenthalt in Gohrisch besucht. Vor allem um ein Thema ging es in den Gesprächen damals.
    "Ich weiß nicht, ob wir noch eine Chance haben für weitere Entdeckungen", sagt Thomas Sanderling, der zweifellos für einen bewegenden musikalischen Höhepunkt bei den diesjährigen Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch gesorgt hat.
    Schostakowitsch-Preis für Sofia Gubaidulina
    Ebenso bewegend war die Verleihung des diesjährigen Schostakowitsch-Preises des Festivals an die russische Komponistin Sofia Gubaidulina, die bereits seit den 1980er-Jahren in Deutschland lebt. Auch sie ist Dmitri Schostakowitsch persönlich begegnet. Der Komponist, so erzählte sie in ihrer Dankesrede, habe sie ermuntert, ihren eigenen kompositorischen Weg konsequent zu verfolgen. Das Publikum in Gohrisch konnte diesen Weg gestern ein Stück mitgehen, bei der deutschsprachigen Uraufführung der Komposition "Einfaches Gebet" für Sprecher und Kammerensemble. Zugrunde liegt das bekannte Franziskus von Assisi zugeschriebene Friedensgebet.
    "Man muss sagen, dass in diesem Werk die Hauptsache die Texte sind", sagte Sofia Gubaidulina auf dem Podium in Gohrisch.
    "Nicht die Musik, sondern die Texte. Ich bin verliebt in diese Texte!"
    Das Publikum war von Sofia Gubaidulinas einstündigem Werk, das in seiner Orchesterversion einen Teil ihres groß angelegten Oratoriums mit dem Titel "Über Liebe und Hass" bildet, größtenteils ergriffen. Man konnte es fast als eine Art Gottesdienst empfinden. Worte der Bibel wechselten mit appellativen Statements gegen den Hass und meditativen musikalischen Passagen der Ruhe. "Einfaches Gebet" von Sofia Gubaidulina - irgendwie ist das Werk auch ein Gegenentwurf zu Dmitri Schostakowitschs Oper "Die Nase", in der ja textlich wie musikalisch Ironie und Sarkasmus triumphieren.
    Tobias Niederschlag, der künstlerische Leiter der Internationalen Schostakowitsch-Tage in Gohrisch, wird übrigens im September als Dramaturg von der Sächsischen Staatskapelle ans Leipziger Gewandhaus wechseln. Seine Aufgaben beim Festival wird er aber auch in Zukunft weiter wahrnehmen. Ob die enge Verbindung zur Sächsischen Staatskapelle jedoch wie bisher aufrechterhalten werden kann, steht noch nicht fest. Auf jeden Fall hat auch das Leipziger Gewandhausorchester eine große Schostakowitsch-Tradition, war es doch Kurt Masur, der als erster in der DDR sämtliche Sinfonien des Komponisten in einem Zyklus aufgeführt hat.