Freitag, 19. April 2024

Archiv

Festival in Salzburg
Vergänglichkeit und Wert des Körpers im Taschenopernformat

Zeitgenössisches Musiktheater in konzentrierter Dosis - dafür steht das Taschenopernfestival in Salzburg. Das diesjährige Motto "Zeig mir dein Fleisch! Über den Wert des Körpers" ermöglichte ein breites Spektrum an Assoziationen sowie Widersprüchen und führte zu beeindruckenden neuen Inszenierungen.

Von Egbert Hiller | 25.09.2017
    Probenfotos vom Taschenopern-Festival 2017 in Salzburg
    Fünf neue Werke wurden bei dem diesjährigen Festival in Salzburg gezeigt. (Thomas Radlwimmer)
    Thierry Bruehl: "Einer der zentralen Ansprüche von diesem so genannten Taschenopernfestival ist immer wieder die Frage danach, wie viel Realität und Wirklichkeit braucht und verträgt das Musiktheater der Gegenwart?"
    Mit dieser Frage verbindet Thierry Bruehl, der künstlerische Leiter des Salzburger Taschenopernfestivals, zugleich die Forderung, einerseits in der musiktheatralischen Kurzform Taschenoper so viel Wirklichkeit wie möglich aufzugreifen. Und andererseits so viel künstlerische Abstraktion wie nötig walten zu lassen, um nicht zum plakativen Abbild dieser Wirklichkeit zu geraten. Um dieses Spannungsfeld auszuloten, ist "Zeig mir dein Fleisch! – Über den Wert des Körpers" ein dankbares Motto, das ein breites Spektrum an Assoziationen und Widersprüchen eröffnet. Thierry Bruehl:
    "Wir leben in einer Zeit, wo im Mittelmeer Körper ertrinken und zu gleicher Zeit im selben Mittelmeer Jachten von irgendwelchen Multimillionären rumschippern. Wir leben in einer Zeit, wo Körper, wie sie es immer getan haben, altern, aber eigentlich ein Jugendwahn, ein Perfektionswahn, was den Körper eben angeht, als Voraussetzung für Erfolg gesehen wird."
    Geschichten von Körperkult und Prostitution
    Der Anbetung des Körpers steht seine Ausbeutung, etwa durch Prostitution und Menschenhandel, krass gegenüber, aber der Wert des Körpers und seine Vergänglichkeit werfen auch zutiefst existenzielle Fragen auf - und das geschieht in den fünf neuen Taschenopern auf vielschichtige Weise. Jedes Werk behauptet seine Selbstständigkeit und ist doch wie ein Mosaikstein in das Gesamtkonzept eingebunden.
    Thierry Bruehl: "Diesmal wollten wir das probieren, dass es nur einen Regisseur gibt, der versucht, und in dem Fall war das ich, da ich nun mal auch die Komponisten ausgesucht hatte, der versucht, alles miteinander zu verbinden auf einer dramaturgischen-szenischen Ebene."
    Das einheitliche Bühnenbild und die dichte, körperliche Präsenz stark betonende Regie von Thierry Bruehl tragen dazu wesentlich bei. Ein kahler Raum mit wenigen Requisiten, angesiedelt zwischen Wartesaal, Pathologie und Ausstellungshalle, bietet die ideale Projektionsfläche für Ängste und Sehnsüchte, Albträume und Hoffnungen, so wie in "Painted Love" der chinesischen Komponistin Wen Liu, die Prostitution thematisierte.
    Musik: Wen Liu "Painted Love"
    Aufgeteilt in vier Zwischenspiele, zieht sich "Painted Love" durch den ganzen Abend – wie verfremdete Einbrüche der Realität in die bizarren Fantasiewelten der anderen Taschenopern. Auch die Sopranistin Sachika Ito, der starke Chor und die Darsteller Constanze Passin und Klaus Nicola Holderbaum, beide mit doppelbödigem Charme und enormer Wandlungsfähigkeit, tauchen in den unterschiedlichen Konstellationen immer wieder auf.
    "Das Fleisch ist in dem Fall schlicht und einfach der Körper"
    In Gerhard Winklers Kurzoper "Der Mann mit der Blume im Mund" agiert indes neben Bariton Andreas Jankowitsch der Dramaturg Hans-Peter Jahn als Schauspieler. Dieses Werk basiert auf dem gleichnamigen Stück von Luigi Pirandello, das Winkler schlüssig und klangsinnlich zum Motto des Abends "Zeig mir dein Fleisch" in Beziehung setzt.
    Musik: Gerhard E. Winkler "Der Mann mit der Blume im Mund"
    Gerhard E. Winkler: "Das Fleisch ist in dem Fall schlicht und einfach der Körper, in dem dieser "Mann mit der Blume im Mund steckt und in dem wir alle stecken. Im Grunde ist das eigentlich für mich eine ganz großartige Parabel unserer Kultur, unserer westlichen Kultur, also dieses immer neue Hetzen nach Oberflächenreizen und doch letztlich irgendwo diese Angst vor der Tiefe, sich zu binden, tiefer zu gehen."
    Musiktheater trifft Transplantationsmedizin
    Kreist "Der Mann mit der Blume im Mund" um die Gedanken eines Todgeweihten, so dreht sich Birke Bertelsmeiers "Gib mir Dein" um "vertauschte Köpfe" und neueste Visionen der Transplantationsmedizin, die erstmals einem bewegungsunfähigen Menschen den kompletten Körper eines Hirntoten transplantieren will. Die Komponistin begegnet diesem Thema mit einer subtilen tänzerischen Leichtigkeit.
    Birke Bertelsmeier: "’Gib mir Dein’, es gibt wirklich sehr, sehr viele Lieder, die so anfangen. Oft ist es ’Gib mir dein Herz’ oder ’Gib mir Dein hmm’, also man könnte auch in eine ganz andere Richtung denken bei meinem Stück, weil, es ist ja wie beim Tanz. Wenn man einen nicht eigenen Körper führt, ist es ein Tanz."
    Musik: Birke Bertelsmeier "Gib mir Dein"
    "Das Warum tanzt nicht gerne mit dem Weil"
    Stephan Winkler: "Es gibt einen schönen Satz von Max Goldt, der heißt, das Warum tanzt nicht gerne mit dem Weil, und was er damit sagen will, ist, dass die Fragen oft interessanter sind als die Antworten."
    Mehrdimensionaler musiktheatralischer Tagtraum
    Der Komponist Stephan Winkler legte seiner Taschenoper "Schweres tragend" einen Text von Max Goldt zugrunde, der in einem mehrdimensionalen musiktheatralischen Tagtraum aufgeht.
    Stephan Winkler: "Das Zeigen heißt ja Exhibitionismus in einer gewissen Form, und diese Musik hat in gewisser Hinsicht etwas Exhibitionistisches, als sie gedacht ist als ein permanentes Hineinzoomen in etwas - ganz viele Ritardandi, es ist, wird immer langsamer, immer leiser, immer langsamer."
    Musik: Stephan Winkler "Schweres tragend"
    Auch Stephan Winklers Werk verlieh das Österreichische Ensemble für Neue Musik unter Leitung von Juan Garcia Rodriguez bei der Uraufführung volle Intensität – und damit hatte die Formation großen Anteil daran, dass dieser facettenreiche, sehr anregende, sinnlich-reizvolle und mitunter auch aufwühlende Taschenopern-Abend wohl noch lange im Gedächtnis nachhallen wird. Für den Schluss hat sich, als eine Art Zugabe, Regisseur Thierry Bruehl noch etwas Besonders einfallen lassen: eine infernalische Performance, inspiriert von dem Song "Infinity" der legendären Rockgruppe "Aphrodites Child".
    Musik: Performance nach "Infinity" von "Aphrodites Child"