Mittwoch, 08. Mai 2024

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"Festival Internationale Neue Dramatik"
Zusammentreffen von Politischem und Privatem

Das Festival Internationale Neue Dramatik (F.I.N.D.) an der Berliner Schaubühne erprobt auch in diesem Jahr wieder neue Spielformen, die den Besuchern Theatererlebnisse jenseits des Gängigen ermöglichen. Auf dem Programm stehen Produktionen ganz unterschiedlicher Qualität.

Von Eberhard Spreng | 08.04.2014
    "Wenn man trinkt, um zu vergessen, sollte man im Voraus bezahlen". Diesen Spruch kann der Besucher hinter der Theke der schäbigen Eckkneipe lesen, in den ihn ein junger Mann geschleppt hat. An der Tür zur 240 Stunden-Installation "Meat" hatte der gewartet, um die Zuschauer einzeln abzupassen und in ein hyperrealistisches Wunderland mitzunehmen, vorbei an Nagelstudios, Dessous-Shop, angeranzten Nischen, in denen Pappteller mit vertrocknenden Essensresten stehen geblieben sind. Der Geruch von Chinafood liegt in der Luft. Von nun an hat der Zuschauer vier Stunden für seinen Besuch.
    Die Luft ist stickig, die Räume eng. Man steigt über auf dem Boden liegen gebliebenen Fummel und vorbei an einer apathischen jungen Frau, die auf einen Computerbildschirm starrt. Hinter einer der zahllosen Türen lümmeln in einem der engen Innenräume ein weiß gekleideter, eher halbseidener Kerl und eine leicht nuttig wirkende Dame.
    Man ist bei Familie Fuchs, der hier alles gehören soll, die sogenannte Shopping-Mall, die Kneipe, das Hotel. Sie behauptet, aus dem Irak zu stammen, Erinnerungsphotos sollen das belegen. Im Fernsehen läuft ein Bollywood-Film. Streit gibt es über die Schwiegermutter, die irgendwann dazukommt. Anderswo albern ein paar junge Männer mit ihren Smartphones herum, machen Selfies mit ausgestrecktem rechten Arm. Gogo-Tänzer, Stricher und Transen bevölkern diesen engen muffigen Mikrokosmos, dessen Dekor und Accessoires Thomas Bo Nilsson mit großem Fleiß im Studio der Schaubühne zusammengetragen hat. Der Zuschauer kann sich hier beflirten lassen, aber schnell ist von Geld die Rede.
    Die Performance "Meat" will in die Welt des Pornodarstellers und mutmaßlichen Mörders und Kannibalen Eric Clinton Newman alias Luka Rocco Magnotta entführen, bekommt aber wenig mehr zu fassen, als die Oberfläche einer narzisstischen Parallelwelt. Das perverse Spiel mit medialen Vorbildern, das der junge Kanadier im Internet betrieb, bleibt unberührt. Aus Filmen wie "Seven" oder "American Psycho" sollen Ideen für die ihm zu Last gelegten Horrortaten stammen. Nach seiner von der Brutalität des Stiefvaters verdüsterten Kindheit war er ein eifriger Zuschauer von Internetvideos mit Darstellungen von Gewalt, Mord, Hinrichtung, Zerstückelung. Die aus narzisstischer Perversion geborenen Internetvideos von Magnotta sozialpsychologisch auszuloten, wäre eine spannendere Aufgabe für's Theater gewesen als die Neuauflage eines nun schon seit Jahren beliebten pseudoauthentischen Erlebnisformats an der Oberfläche sozialer Milieus.
    In Udi Alonis Film "Art/Violence" ist eine ungleich positivere Sicht auf Chancen des Internets zu erleben. Es soll helfen, zusammen mit Kunst, Film und Theater gegen die "Dekonstruktion" der palästinensischen Identität infolge der israelischen Okkupation anzukämpfen. Anlässlich des dritten Jahrestages der Ermordung des Jenin-Freedom-Theatre-Gründers Juliano Mer Khamis sprach Udi Aloni, der engagierte Kritiker der israelischen Politik, mit Thomas Ostermeier über das politische Erbe des engagierten Theatermannes.
    "Juliano und ich teilen die Auffassung, dass die Gewalt der Unterdrückten immer gerechtfertigt ist. Es ist aber entscheidend zu sagen, dass sie nicht notwendig ist. Wenn wir Kunst in Palästina unterstützen, schaffen wir also einen Raum, in dem Gewalt nicht mehr als Notwendigkeit erscheint."
    Das Zusammentreffen von Politischem und Privatem soll das diesjährige F.I.N.D.-Festival thematisieren und zeigte unter diesem doch sehr weit gefassten Thema auch eine Werkstattinszenierung von Biljana Srbljanovićs "Dieses Grab ist mir zu klein", eine ziemlich burleske Erinnerung an das Attentat vom Juni 1914, das gemeinhin als Auslöser des Ersten Weltkrieges gilt.
    "Die erste Kugel trifft die Erzherzogin, die zweite Kugel trifft den Erzherzog in den Hals und durchtrennt seine Halsschlagader."
    Mit schrillen Gesichtsausdrücken, die entfernt an die Stummfilmzeit erinnern und in grell bunten Kostümen, treten die Akteure auf. Sie verkörpern Studenten, die eher per Zufall und aus Langeweile zu Akteuren der Weltgeschichte werden.
    Spiel mit Gewalt, Widerstand und Kunst, Terrorismus aus Zufall, all das hat Rodrigo García schon hinter sich gelassen in seiner Analyse einer Lebenswelt, die jede Grenze zwischen dem Politischen und dem Privaten verwischt hat. Eineinhalb Stunden lässt er seine beiden Performer über eine Google-Postmoderne schimpfen, die jeden Respekt vor individuellen Besonderheiten und Privatheiten verloren hat.
    Das ist ein zivilisationskritischer Rundumschlag voller Ironie und Hellsichtigkeit, mit einem für den wütenden Autoren-Regisseur untypischen melancholischen Unterton. Gegen diese Welt ist jeder Attentäter wirkungslos, sie ist selbst schon zum allumfassenden Terror geworden, den kein Widerstand mehr erschüttern kann. F.I.N.D. lotet das Verhältnis von Biografie und Gewalt aus und zeigt innerhalb dieses eher stimmigen Konzepts Arbeiten unterschiedlicher Qualität.