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Festival Nordic Music Days
Nordeuropas Vielfalt zeitgenössischer Musik

Zeitgenössiche Musik aus Nordeuropa - die gibt es konzentriert beim Nordic Music Days Festival seit der Gründung 1888. In diesem Jahr in Helsinki. Einen sogenannten nordischen Ton konnte unser Kritiker nicht ausmachen - dazu ist die Vielfalt einfach zu groß.

Von Marcus Stäbler |
    Konzerthaus Musiikkitalo, Helsinki
    Im Konzerthaus Musiikkitalo fand das Eröffnungskonzert des Festivals statt (imageBROKER)
    Das erste Ausrufezeichen des Festivals ist mit feinem Pinsel gemalt. Der isländische Komponist Daniel Bjarnason fesselt in seinem 2012 entstandenen "Over Light Earth" mit leisen Tönen und besonders feinen Farbmischungen. Zu hören im Eröffnungskonzert der Nordic Music Days am vergangenen Mittwoch mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra unter Leitung von Klaus Mäkelä.
    Eröffnungskonzert mit Werk von Jimmy Lopez
    Aus einer ganz anderen Welt kommt das effektvolle Schlussstück des Eröffnungskonzerts, "Perú Negro" von Jimmy Lopez.
    Der gebürtige Peruaner Jimmy López, in den USA als einer der wichtigsten Komponisten der Gegenwart gefeiert, hat sieben Jahre an der Sibelius-Akademie in Helsinki studiert und spricht fließend Finnisch; in seinem Orchesterwerk "Perú Negro" vereint er die europäische Tradition mit Einflüssen aus der Musik seiner Heimat.
    "Die afroperuanische Musik ist die wichtigste Inspirationsquelle. Ich verwende fünf traditionelle Lieder, die aber so verändert sind, dass ich sie besser in die harmonische Sprache des Stücks einpassen kann. Mit dieser Idee beziehe ich mich auf Vorbilder wie Béla Bartók oder Alberto Ginastera, die erfolgreich äußere Einflüsse in ihre Musik integriert haben."
    "Was ich an der zeitgenössischen Musik so mag, ist ihre große Bandbreite"
    Mit insgesamt vier Werken zwischen rhythmischem Feuer, romantischer Wehmut und sanfter Poesie deutete schon das Eröffnungskonzert der Nordic Music Days eine große Vielfalt an. Genau die reizt den jungen finnischen Dirigenten Klaus Mäkelä, der mit erst 22 Jahren zu den herausragenden Talenten der europäischen Musikszene gehört.
    "Was ich an der zeitgenössischen Musik so mag, ist ihre große Bandbreite. Die vier Stücke vom Orchesterkonzert sind sehr unterschiedlich und stammen von Komponisten aus sehr verschiedenen Nationen.
    Das weit gefächerte Spektrum am Eröffnungsabend gab die Richtung für das ganze viertägige Festival vor. Der Begriff "Diversity", Vielfalt, war das zentrale Leitmotiv des Künstlerischen Leiters, Osmo Tapio Räihälä. Der finnische Komponist hat das Programm aus einem großen Angebot an Stücken ausgewählt, die aus den einzelnen Ländern eingereicht werden.
    "Das ist kein typisches Festival in dem Sinne, dass der künstlerische Leiter aussucht, was er gerne möchte. Sondern es gibt Vorschläge von den Mitgliedern der nordischen Komponistenverbände. Und ich habe versucht, eine Auswahl zu treffen, die einen Querschnitt dessen abbildet, was derzeit in der nordischen zeitgenössischen Musik stattfindet."
    Die meisten Werke sind in den letzen zehn Jahren entstanden
    Aus 466 eingereichten Werken hat Osmo Tapio Räihälä rund 50 für die Nordic Music Days in Helsinki ausgewählt, die meisten von ihnen sind in den letzten zehn Jahren entstanden. Die Bandbreite reichte von Werken mit klassischen Besetzungen und Instrumenten bis zum Free Jazz, von der Kammeroper bis zur elektronischen Musik.
    Hier schwankte die Qualität zwischen öder Laptopspielerei und inspirierenden Werken mit performativen und mitunter auch humoristischen Elementen – wie beim Stück "Glam" für Geige, Cello und Video der Norwegerin Kristine Tjøgersen. Tjøgersen hat einen alten Clip aus den 80er-Jahren vom Auftritt der Metalrocker The Glam mit Streicherklängen unterlegt und dabei die Körpersprache und die Gesten der Band karikiert.
    Eine ausgewogene Balance von Komponistinnen und Komponisten gehört zum Selbstverständnis der Nordic Music Days und ihrem Konzept von Vielfalt, wie der Intendant Osmo Tapio Räihälä betont.
    "Wir wollen zeigen, dass Frauen im Musikleben genau so akzeptiert werden wie männliche Komponisten."
    Die Schwedin Karin Rehnqvist berührte mit einem Chorstück über den Friedenswunsch eines elfjährigen kroatischen Jungen, in dem sie verschiedene Sprachebenen überlagert; die Isländerin Anna Thorvaldsdottir faszinierte mit ihrer seismografischen Klangfarbenzeichnung im Stück "Shades of Silence", einem der stillen Höhepunkte des Festivals.
    Solidarität gegenüber Schottland
    Als Geste der Solidarität gegenüber Schottland, das sich beim Brexit-Votum 2016 klar zu Europa bekannt hatte, hat Intendant Räihälä auch die schottische Komponistin Helen Grime zu den Nordic Music Days eingeladen und damit demonstrativ in die nordische Gemeinschaft aufgenommen. Grime war als einzige mit zwei Werken zu erleben, ihren "Whistler Miniatures" für Klaviertrio und einem Klarinettenkonzert, aufgeführt vom Avanti Kammerorchester und dem Solisten Lauri Sallinen, über das die Komponistin sagt:
    "Es ist sehr virtuos für die Klarinette. Aber es gibt auch viel Interaktion mit dem Ensemble. Ich habe selbst Oboe studiert und die Klarinette immer ein bisschen um ihren großen Umfang beneidet. Viel von dem, was ich für den Solopart geschrieben habe, waren genau die Sachen, die ich selbst beim Spielen genossen habe."
    Kein nordischer Ton hörbar
    Jede Komponistin und jeder Komponist spricht seine ganz eigene Sprache; so etwas wie einen "nordischen" Ton gibt es nicht oder zumindest nicht mehr, darüber waren sich die Teilnehmer einer spannenden Podiumsdiskussion beim Festival einig. Selbst nationale Eigenheiten sind heute kaum noch auszumachen, dazu ist die Vielfalt einfach zu groß. Und doch ließ sich bei einigen Werken eine gemeinsame Grundhaltung ablesen – von der dänischen Verlagsmanagerin Trine Boje Mortensen treffend als "Akzeptanz von Dunkelheit" beschrieben. Diese Haltung schimmerte in einigen der stärksten Stücke des Festivals auf, bei Daniel Bjarnason und Anna Thorvaldsdottir etwa, aber auch in Eivind Buenes "Sea Change", einem Stück voller Assoziationen an das Wasser, an Glocken und an das Bild einer Beerdigung.