Dienstag, 19. März 2024

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Festival "Tonfunktion"
"Gebrauchsmusiken" im außergewöhnlichen Mix

Sie berieselt uns in Kaufhäusern, Hotel-Aufzügen oder auf Autobahn-Raststätten: Sogenannte „Gebrauchsmusik“. Das Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm hat nun internationale Kunstschaffende beauftragt, eigene Formen von „Gebrauchsmusik“ zu entwickeln. Ihre Installationen waren eine Woche lang in Offenbach und Frankfurt zu erleben.

Von Ursula Böhmer | 14.06.2021
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Klangwelten beim Festival "Tonfunktion" in Offenbach ("Tonfunktion"-Festival/Nicola Malkmus)
Mein Festival-Besuch beginnt draußen, in der Hafen-Gegend von Offenbach. Eine schmale Insel auf dem Main wird gerade von der irischen Performance-Künstlerin Áine O’Dwyer und ihren Assistenten bespielt: Mal wirft einer einen Stein ins Wasser, schlägt mit Schlägeln gegen den Metallzaun, mal greift sie zu zwei Flöten oder in die Tasten eines alten Stringsynthesizers. Mit Hilfe von Mikrofonen und Lautsprechern vermischen sich reale und zugespielte Klänge. Was ist gewollt, was Zufall

Schiffshupen-Konzert nach Choreographie

Spektakulär: Die Ausflugsschiffe, die irgendwann durch die Szenerie fahren, ein choreographiertes Hupkonzert geben. Áine O’Dwyer benutzt in ihrer Performance "Concrete Cruise" oder "Beton-Schiffsreise" eine Hafen-Szenerie als Klanglandschaft - "Gebrauchsmusik" einmal ganz anders. Genau darum geht es beim Festival "Tonfunktion" des Künstlerhauses Mousonturm, erläutert Kurator Toben Piel:
"Das war so ein bisschen unser Anliegen zunächst erstmal - auch natürlich als Folge der Pandemie, aber das war auch schon vorher - unsere Idee, dass wir gesagt haben, es scheint so, als wären nicht nur Orte der Aufführung quasi davon betroffen, dass sie immer weniger werden oder immer spezieller werden, immer atomisierter quasi, sondern auch die einzelnen Musikformen quasi immer mehr in kleinen atomisierten Parzellen existieren. Und dann haben wir gedacht, dann versuchen wir das einfach, indem wir die Künstlerinnen, die wir mögen und die das auch schon ein bisschen mit sich mittragen, eine Aufgabe stellen, ihre Musik in einen anderen Bezugsrahmen zu stellen quasi. Wir haben hier die Möglichkeit, das Ganze irgendwie im Klang und Musik noch mal anderswo zu kontextualisieren."
In einem ganz anderen Kontext erlebe ich kurz darauf auch die Klanginstallation "Unattended Volume" oder "Vernachlässigter Rauminhalt" des Niederländers Thomas Ankersmit: Er benutzt für seine "Gebrauchsmusik" nämlich den Club "Silbergold" im Zentrum Frankfurts.

Schwebezustand im Club "Silbergold"

Hier ist es erst mal zappenduster – bis ich im faden Schein der Notausgangsschilder allmählich einen Tresen und weiße Kuben wahrnehme, die in unterschiedlichen Größen an der Wand hängen und zu den Klängen im Raum zu schweben scheinen. Auch ich verliere Raum- und Zeitgefühl. Teils bringen die Klänge mein Innerstes zum Wummern. Oder ich höre etwas, das eigentlich gar nicht da ist – denn Thomas Ankersmit arbeitet mit sogenannten "otoakustischen Emissionen":
"Unsere Ohren produzieren unter bestimmte Umstände selber aktiv Klänge, die sich dann auch so anhören, als ob die im eigenen Kopf entstehen, was ja so auch der Fall ist. Und ich kann quasi eine musikalische Stimme über die Lautsprecher laufen lassen und damit vorprogrammieren, dass andere Klänge – und ich weiß, welche Tonhöhe zumindest - im Ohr des Zuhörers produziert werden von diese Signale."

Jodelkonzert auf Dächern

Tatsächlich werde ich zum Medium in Thomas Ankersmits Klangwelt. Ein toller Effekt.

Zur Mitspielenden werde ich ein paar Tage später auch inmitten des städtischen Trubels auf dem Frankfurter Opernplatz. Von woher kommt das Jodeln? Vom Hochhaus schräg gegenüber – oder doch von dem hinter mir? Ich bin irritiert – bis ich die drei Künstler von "Tin Tin Patrone" entdecke: Sie stehen oben auf dem Dach vom Schauspiel Frankfurt und benutzen melkeimerartige Trichter als Verstärkung.
"Tin Tin Patrone, das ist eine Hamburger Performance-Künstlerin und Musikerin auch, die hat zusammen mit zwei anderen Musikern eine Art Jodel-Punk-Performance entwickelt, inspiriert vom "Appenzeller Alpensegen", der abends ausgerufen wird, um Hab und Gut zu schützen und zu segnen und von den bösen Geistern zu befreien", erzählt mir Anna Wagner, die zweite Kuratorin beim Festival "Tonfunktion". An verschiedenen Plätzen in Frankfurt und Offenbach treibt "Tin Tin Patrone" die bösen Geister aus. Nicht überall werden die Künstler mit offenen Armen empfangen:
"In Offenbach wurde eine Performerin, die auf dem Dach stand, von den Nachbarn, die vollkommen überrascht und angenervt waren, sofort mit Äpfeln beworfen - so praktisch versucht, abzuschießen. Und dann ist eine Diskussion auch zwischen den Anwesenden entstanden."
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Tin Tin Patrone in Offenbach ("Tonfunktion"-Festival/Nicola Malkmus)

Impfstoff-Klangcollage

Was hätten die Offenbacher dann wohl bei diesen Klängen getan? Sie finden drinnen statt - in EOS, einem Web-Radioformat für zeitgenössische Kunstschaffende der Elektronischen Musik. Daheim am Laptop höre ich mir die fiktive Klangcollage der niederländischen Künstlerin "DJ Marcelle/Another Nice Mess" an. Darin spürt sie nach, wie das Europäische Parlament um die Verteilung der Impfstoffe debattiert, erklärt Kurator Toben Piel.
"Und hat dann ein Stück gemacht, ein 16-Minuten-Stück mit drei Schallplattenspielern und diversen Tonbandgeräten – so bis zu 60 Tonträger benutzt, wo sie nur Stimmen bearbeitet hat zu dem fiktiven Thema "European Union Discussing Vaccine Distribution" - und das ist quasi so eine babylonische Klangcollage geworden, wo sie versucht, das mit Mitteln der Collage und der Verfremdung irgendwie abzubilden, was sie sich vorstellt, wie so eine Diskussion im Europäischen Parlament stattfindet!"

Gebrauchsmusik von der Straße

Im Radioprogramm von "EOS" laufen an drei Tagen dann auch noch andere Beiträge – darunter ein Gespräch mit dem Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen, der über "Gebrauchsmusik und funktionaler Klang aus poptheoretischer Perspektive" spricht. Das Duo "Les Trucs", zu dem auch Toben Piel gehört, steuert kommentierende Zwischenmusiken bei – etwa zu diesem Aspekt:
"Es ging um die Form von wie heutzutage Musik gehört wird - viel über Streams, viel über Plattformen, Musik ist überall verfügbar, mitnehmbar. Was bedeutet das quasi für die Künstlerinnen? Es führt zu einer Prekarisierung von Künstlerinnen und einer Form von Verarmung, kann man sagen, auch kulturelle Verarmung. Und wir haben das einfach zum Anlass genommen, hier in Frankfurt mit einem Mehrspur-Aufnahmegerät, Straßenmusikerinnen aufzunehmen, daraus eine Collage zu machen - so quasi, um das extreme Zerrbild von künstlerischem Prekariat irgendwie auf der Straße quasi abzubilden."
So bietet das Festival "Tonfunktion" in Frankfurt außergewöhnliche "Gebrauchsmusiken" - mal spektakulär, mal intim, mal irritierend, mal kritisch, mal sozialpolitisch. Ein gelungener Mix, der die Sinne anregt und die Wahrnehmung schärft.