Donnerstag, 28. März 2024

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Festival über Voyeurismus
Von Spannern, Stalkern und ganz normalen Gaffern

In Zeiten allumfassender Datenspeicherung erscheint einem das Festival über Voyeurismus im Filmmuseum Frankfurt geradezu erschreckend. Doch am Wesen des gestohlenen Blicks hat sich seit analogen Kamerazeiten womöglich gar nichts geändert.

Von Peter Backof | 04.11.2019
Karlheinz Böhm schultert eine Kamera und bedroht eine Frau mit einem spitzen Gegenstand.
Ein tödlicher Voyeur: Auch "Peeping Tom" mit Karlheinz Böhm ist Teil des Festivalprogramms. (imago stock&people)
Anne-Marie Beckmann: "Das Eindringen in das Privatleben von Bekannten, weniger Bekannten und möchtegernbekannten Leuten – das ist ja wie so eine emotionale Droge. Voyeurismus heißt ja auch immer, dass ich mir eine starke Emotion hole, durch das, was ich beobachte."
Gaffen, Spannen, ja sogar Stalken? - bevor das alles ins Pathologische hinüber kippt, ist es eine menschliche Leidenschaft, meint Anne-Marie Beckmann, Leiterin der "Deutsche Börse Photography Foundation". Sie freut sich – am Eröffnungsabend des Film- und Fotofestivals "Der verborgene Blick" - darauf, "Peeping Tom" nochmal in voller Kinoleinwandbreite zu sehen; "Peeping Tom", die englische Bezeichnung für einen Spanner. Der zum Lustmörder wird. Die Geschichte erzählt Regisseur Michael Powell für Kinoverhältnisse von 1960 recht drastisch. In der Hauptrolle: Karlheinz Böhm!
Wohliges Unbehagen in blutroten Plüschsesseln
Anne-Marie Beckmann: "Kannte ich nur als ´Mann von Sissi´ aus meiner Kindheit, als etwas sehr braven `Franzl´. Und hier ist er ein psychopathischer Mörder, der vorne an seiner Kamera ein Bajonett hat. Er filmt und tötet dabei."
Wohliges Unbehagen in blutroten Plüschsesseln soll der November bringen, im Kino des Deutschen Filminstituts. Zum Programm des Festivals
Zum Beispiel mit einem anderen Klassiker, Hitchcocks "Fenster zum Hof", aber auch mit Blue Velvet", von David Lynch 1986, oder "One Hour Photo" mit Robin Williams; über einen Mann, der - damals noch analoge - Filme in einem Schnellservice entwickelt und so mehr über andere weiß, als ihm selber lieb ist. Flankiert wird das Kinoprogramm, in dem es nicht nur um das Abartige geht, sondern quasi um den Spanner in uns allen, von einer Fotoschau, die Reizpunkte setzt. Anne Marie Beckmann schöpft dabei aus einer Sammlung von 2900 zeitgenössischen Fotografien von 130 Künstlern aus 27 Nationen; das riesige Archiv der "Deutsche Börse Photography Foundation". Voyeurismus in der Fotografie? - ein ganz weites Feld; die Foyer-Austellung begnügt sich damit, Impulse zu setzen und präsentiert eine lose und heterogene Auswahl. Denkanstöße, Momentaufnahmen.
Anne-Marie Beckmann: "Von der ´Robert Kennedy Funeral Chain´, wo aus dem Zug heraus die trauernde Menge fotografiert wurde, von Paul Fusco.."
Attentate, Unfälle, Sensationen
Und, wenn man die Vintage-Patina dieser Fotos mal wegdenkt, bei anderen Momenten landet, in denen ein Ruck durch die Welt ging: "9/11" oder der Tag, als Michael Jacksons Tod bekannt wurde. Metaebene ist zu erkennen in Gesichtern und Gesten der Menschenmasse.
Anne-Marie Beckmann: "...über Arnold Odermatt, der als Polizeifotograf in den fünfziger Jahren in der Schweiz gearbeitet hat; aber am Schluss immer noch eine Aufnahme für sich gemacht hat."
Von zerbeulten VW-Käfern, die quasi mit edler Einfalt und stiller Größe in der alpinen Kulisse herumstehen, ohne dass Menschen dabei wären; eine künstlerische Variante von Unfall- und Sensationsfotografie. Auch hier reichlich Metaebene, die Assoziationskette reicht bis zu Crash Spottern am Nürburgring; das sind Menschen, die sich dafür begeistern, mitanzusehen – und zu filmen – wie andere Autos zu Schrott fahren. Gaffen, meint Anne-Marie Beckmann, das ist nunmal Boulevard schlechthin. Im Foto- und Filmprogramm von "Der verborgene Blick" indes fällt auf, dass die Arbeiten fast ausnahmslos von Männern stammen. Gibt es sie nicht, die Voyeurinnen oder Voyeusen? Gibt es weibliches Gaffen?
Ein Programm, das Geschlechterrollen hinter sich lässt
Anne-Marie Beckmann: "Ja, das gibt es natürlich auch. Also ob das anders ist? Denken Sie mal an die ganze Klatschpresse, das ist doch etwas, was ein weibliches Publikum bedient!"
Will sagen, dass das Programm nicht Geschlechterrollen als Klischees bedient, sondern sie hinter sich lässt. "Peeping Toms", Gaffen, Spannen, Stalken – das ist zwar meistens deftig sexualisierte, aber auch allgemeinmenschliche Materie. Was beim Voyeurismus im Film und in der Fotografie geschieht, ist etwas anderes: Die Kamera macht Zuschauer zu Komplizen. Sie liefert Bilder, die nicht dafür bestimmt sind, überall verfügbar zu sein. Das macht es unheimlich. Das macht es aber auch ambivalent und führt ins Aktuelle. In "Red Road", einem Spielfilm von Andrea Arnold, 2006, geht es um eine Mitarbeiterin eines Videoüberwachungsdiensts. Wie wird sie mit dem Wissen fertig, dass es den "verborgenen Blick" in einer zunehmend technisierten Welt immer weniger geben wird? Vom Vintage-Filmklassiker bis zum aktuellen Statement und Denkanstoß also: Ein starkes Festival!