Freitag, 19. April 2024

Archiv

Festival von Avignon
Das Beste kommt zum Schluss

Die Mammut-Produktion "Henry VI" von Thomas Jolly bildete das große Highlight am Ende des Theaterfestivals von Avignon. Das ungemein engagierte, zum Letzten entschlossene Ensemble spielte mit großer, unverstellter Pose in bühnenoffenem Spiel.

Von Eberhard Spreng | 22.07.2014
    Olivier Py, Leiter des "Festival d'Avignon"
    Olivier Py, Leiter des "Festival d'Avignon" (dpa / picture alliance / Hiely Cyril)
    "Spectateurs! Qui êtes toujours là après plus de neuf heures ! Nous ne sommes qu'à la moitié ... ! "
    Halbzeit eines unglaublichen Theatermarathons. Eine in barockem Schwarz gekleidete Dame steht vor dem dunklen Vorhang, lächelt maliziös ins Publikum und lobt mit dem Charme einer Märchentante die Ausdauer der Zuschauer. Längst hat die junge Ausnahmeschauspielerin Manon Thorel das Publikum erobert. Vor jedem ihrer kurzen Interludien brandet ihr schon der Applaus entgegen. Nach neun von achtzehn Stunden war längst ein kleines Wunder geschehen: Denn schon nach der ersten eindreiviertel Stunde, als eine kleine Pause die Zuschauer in das grelle Sonnenlicht des Vormittags entließ, waren sie süchtig geworden nach dieser furios verkörperten Theaterreise ins Herz der Finsternis.
    Anders als bisherige Theatermarathons in Avignon, die nach durchwachter Nacht im Morgenlicht endeten, ist hier in dem Konflikt der Häuser Lancaster und York um die englische Krone eine Höllenreise zu erleben, die im Licht des Tages beginnt und in der dunklen Nacht endet. Im Eingangsbild ist dies vorauszuahnen: Da steigt im Rauch ein fahles Licht aus einer Aussparung im Boden, wird prägnanter und entpuppt sich als simple Glühbirne. Sie entschwindet in dem schwarzen Bühnenhimmel. Was da entschwebt, muss die Seele des frisch verstorbenen Heinrich des Fünften sein und mit ihr das Glück Englands.
    Klare, prägnante Figurenzeichnung
    Thomas Jolly ist ein Meister einfacher, aber wirkungsvoller Bildfindungen und sein ungemein engagiertes, zum letzten entschlossenes Ensemble spielt mit großer, unverstellter Pose in bühnenoffenem Spiel. Völlig ohne Mikrofonunterstützung bringen sie die mehr als 10.000 Verse der Dramenfolge zu Gehör, immer im Dienste der von 1422 bis 1461 reichenden Chronik. Das alles mit klarer, prägnanter Figurenzeichnung.
    Hochmütig und hinterhältig der durchaus komisch angelegte Kardinal Winchester des Bruno Bayeux, Flora Diguet als Jeanne d'Arc als moderne Amazone mit knallblauen Harren, ein grimmig-verbissener Richard Plantagenet in der Verkörperung durch Éric Challier. Die fröhlich komischen Momente vom Anfang weichen einer wachsenden Verzweiflung. Rote Lichtkegel fluten über einer finsteren Bühne, jeder der hier auftritt, scheint knietief im Blut zu waten. Thomas Jolly will offensichtlich kein Videoschnickschnack. Er erzählt seine Mordchronik mit brillanten Akteuren, opulenten Musikeinspielungen, viel Bewegung, zahllosen komödiantischen Findungen und voller Vertrauen in die unverbrüchliche Wirkungsmacht des traditionellen Volkstheaters.
    Der Erfolg gibt ihm recht: Das Publikum ist bereit, wider besseres postmodernes Wissen ins kindliche Wunderland des Theaterzaubers zurückzukehren, vor allem, wenn es dabei so klug und verzückt charmant von der bereits erwähnten Manon Thorel an die Hand genommen wird. Dieser Heinrich der Sechste ist ein Triumph eines Theaters, das allen Fernsehserien, Videospielen, Kinofilmen zum Trotz den Glauben an seine Macht der Erzählung nicht aufgegeben hat. So etwas brauchte das zu Ende gehende Festival dringend.
    Gemischte Bilanz
    "Danke. Nein Danke." Eine Lautsprecherstimme verkündete vor jeder Aufführung die Botschaft der Intermittents ans Publikum. Mancher konnte sie irgendwann auswendig. Der neue Direktor Olivier Py war als Krisenmanager erfolgreich: Das von Streik bedrohte Festival hat weitgehend stattfinden können. Aber für Regierungsmitglieder blieb es versperrt. Jede Aufführung wäre sofort solange nicht angelaufen, bis ein im Publikum eventuell anwesender Minister den Saal wieder verlassen hat. Auch Kulturministerin Aurélie Filippetti musste dem Theater fernbleiben. Was sie verpasst hat, ist ein etwas disparates Allerlei der Theateransätze. Manche Neuinszenierungen waren regelrechte Flops, aber auch viele der internationalen Einladungen enttäuschten entweder ästhetisch oder inhaltlich.
    Olivier Pys Vorhaben, die europäische Krisenreflexion durch Beiträge aus dem mediterranen Raum zu beleben, ist nicht aufgegangen. Dass seine Permanentdebatte "Atelier de la Pensée" nachmittags unter einem stickigen Sonnensegel in einem wieder entdeckten Garten hitzebedingt versiegte, könnte er im nächsten Jahr ändern. Nicht ändern kann er die Tatsache, dass die interessanten künstlerischen Ansätze im mediterranen Raum derzeit eher von Performern kommen, also aus einer Ästhetik, die Py in Avignon nicht sehen will. So ist die Bilanz sehr gemischt, mit einem großen Highlight gegen Ende und der Entdeckung des jungen ungemein talentierten Regisseurs Thomas Jolly.