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Feudalismus in den USA

Für seinen Dokumentarfilm "Eine unbequeme Wahrheit" über den Klimawandel bekam Al Gore den Oscar. Nun hat er noch einmal nachgelegt. In seinem Buch "Angriff auf die Vernunft" beschreibt Gore eine weitere Katastrophe, die die USA mindestens genauso fundamental bedroht wie die ökologische: die allmähliche Erosion der Demokratie. Brigitte Baetz stellt die Streitschrift vor.

20.08.2007
    "Ich zeige nicht mit dem Finger auf Bush und Cheney, sondern ich zeige auf die Brüche im Fundament der amerikanischen Demokratie. Ich glaube nicht, dass es naiv oder weltfremd ist zu glauben, dass die Wahrheit immer noch zählt. Ich habe Millionen von Menschen auf die ein oder andere Weise dieselbe Frage stellen hören, die auch mich umtreibt: Was läuft so grundsätzlich schief im amerikanischen System?"

    Ein Präsident, der Fakten zurückhält, eine Armee, die foltern lässt, ein Staat, der die Grundrechte seiner Bürger immer weniger schützt, ein parlamentarisches System, das die Regierung kaum noch zu kontrollieren versteht. Al Gore hat Fakten zusammengetragen, die von der willkürlichen Verhaftung Unschuldiger bis zu den Drohungen republikanischer Politiker gegen die Unabhängigkeit der Justiz reichen. Obwohl vieles davon dem interessierten deutschen Leser schon bekannt sein dürfte, ist die Zusammenstellung erschreckend. Gore beschreibt die Verfälschung wissenschaftlicher Ergebnisse zugunsten von Öl- und Autoindustrie und die wirtschaftliche Umverteilung von unten nach oben. In einer in Amerika selten gewordenen Offenheit prangert er den Bund George Bushs mit den religiösen Fundamentalisten an.

    "Bush nutzt religiösen blinden Gehorsam zur Tarnung einer in Wirklichkeit extremistischen politischen Lehre, die jede Art von sozialer Gerechtigkeit in einer Weise geringschätzt, die nach den Maßstäben einer anerkannten Glaubensgemeinschaft wohl kaum als fromm bezeichnet werden kann. Hinter dieser speziellen Art der Politik auf Glaubensbasis steckt eine einfache Wahrheit. George Bush hat Körpersprache und Symbolismus von der Religion nur zur Tarnung des bislang rücksichtslosesten Versuchs der amerikanischen Geschichte entlehnt, den Amerikanern zu nehmen, was ihnen gehört, und soviel wie möglich davon den bereits Reichen und Privilegierten zu geben. Diese Reichen und Privilegierten kommentieren Bushs Programm, wie es Vizepräsident Dick Cheney dem ehemaligen Finanzminister Paul O´Neill gegenüber getan hat - anlässlich massiver Steuersenkungen, von denen beide wussten, dass sie ein gewaltiges Loch in die Staatskasse reißen würden: "Das steht uns zu."

    Die "Wirtschaftsroyalisten", wie Gore sie nennt, gehen mit den außenpolitischen Scharfmachern eine unheilvolle Allianz ein, mehr noch, sind mit ihnen zu einem großen Teil identisch. Denn politisch einflussreiche Firmen wie Halliburton sind es, die am amerikanischen Desaster im Irak immer noch verdienen. Die USA, so insinuiert Gore, werden von einer quasi-feudalistischen Gruppe beherrscht, die sich demokratischer Kontrolle entzieht.

    "Diese Interessengruppe steuerte beträchtliche Mittel zum Aufbau eines weit reichenden Netzwerks bei, dem mittlerweile nicht nur Stiftungen und Denkfabriken angehören, sondern auch Political Action Committees (Lobbyorganisationen), Medienkonzerne sowie spezielle Gruppen, die durch gezielte Aktionen auf lokaler Ebene jederzeit eine beliebige Volksmeinung vorgaukeln können und damit jeden vernünftigen Denkprozess unterbinden, der den wirtschaftliche Interessen ihrer Auftraggeber zuwiderläuft."

    Wie aber konnte es so weit kommen, dass die Verstöße der Regierung Bush und der mit ihr verbundenen Lobbygruppen gegen Geist und Form der amerikanischen Demokratie von der Öffentlichkeit nur noch teilweise wahrgenommen und vor allem hingenommen werden? Al Gores Antwort:

    "Mit der wachsenden Dominanz des Fernsehens wurden lebenswichtige Elemente der amerikanischen Demokratie ins Abseits gedrängt. Am schwersten wiegt jedoch der Verlust des Spielfelds selbst. Auf dem von den Gründern dieses Staates so geschätzten und sorgsam behüteten 'Marktplatz der Ideen' konnten nach den Worten des englischen Philosophen John Stuart Mill 'Wahrheiten' gefunden und durch den 'vollen und ungehinderten Wettstreit gegensätzlicher Meinungen' präzisiert werden. Der aus Büchern, politischen Schriften und Abhandlungen aus der Aufklärung entstandene öffentliche Raum scheint uns nach einer einzigen Generation - in der Geschichte der Menschheit ein Augenblick - so fremd wie Pferd und Wagen."

    Ganz im Sinne seiner eigenen Kritik mutet es sympathisch altertümlich an, wie Al Gore die Väter der amerikanischen Verfassung und deren philosophische Vorbilder zitiert, um das Verschwinden der öffentlichen Diskussionskultur in seinem Land zu illustrieren. Ohne die Frühzeit der amerikanischen Demokratie zu verklären, beschreibt Gore die wichtige Rolle, die dem mündigen Bürger und einer aufgeklärten Öffentlichkeit von den Gründervätern zugewiesen wurde, um im freien Austausch der Meinungen und Informationen zur vernünftigsten Politik zu finden. Doch die einseitig interessengetriebene Politik der Regierung Bush kann gegen alle Regeln der Vernunft handeln, weil es keine demokratische Öffentlichkeit mehr gibt, die diesen Namen verdient. Die vierte Gewalt, die Presse, versagt. Lobbygruppen der Wirtschaft nutzen die Konzentration im Medienbereich, um ihre Ansichten unter die Leute zu bringen. Jeder Amerikaner sieht im Schnitt mehr als vier Stunden täglich fern, doch eine Debatte über wichtige Themen findet im Fernsehen nicht statt. Stattdessen stehen Pseudonachrichten über Prominente oder Straftaten im Vordergrund - Alarmismus überlagert das kritische Denken. Der Bürger wird nicht mehr informiert, nur noch berieselt.

    "In den USA haben inzwischen viele Bürger den Eindruck, dass sich die Regierung nur noch um ihre eigenen Belange kümmert und es den Machthabern völlig gleichgültig ist, was die Menschen im Land denken. Sie fühlen sich von der Demokratie abgeschnitten. Sie halten ihre Wählerstimme für bedeutungslos und sehen für sich keine Möglichkeit mehr, die Demokratie mitzugestalten. Und leider haben sie nicht ganz Unrecht. Inzwischen werden Wähler von Kandidaten, die sich ihre Stimme sichern wollen, vor allem als leicht zu manipulierende Zielgruppen betrachtet. Was heute als nationale Diskussion gilt, ist in Wahrheit ein Monolog im Fernsehen, bei dem auf höchst subtile Weise propagandistische Botschaften übermittelt werden. Vor den Wahlen 2006 habe ich Kandidaten beider Parteien nach ihren Wahlkampfetats gefragt: Wie sie mir verraten haben, gaben sie über zwei Drittel der Gelder für TV-Werbespots von 30 Sekunden aus."

    Während es in der Frühzeit des Fernsehens noch unabhängige Journalisten mit unbestechlicher Berufsethik gab, attestiert Gore dem Fernsehen von heute nur noch Angepasstheit zugunsten von Einschaltquote und Werbekunden. Doch sieht er auch im Medium selbst schon das Problem, denn es aktiviert eher die Instinkte als dass es das Denken fördert.

    "Es ist gut möglich, dass sich die amerikanische Demokratie durch den Mangel an demokratischer Ertüchtigung in Form von Lesen und Schreiben und durch die Bombardierung jeder neuen Angstpsychose mit Fernsehspots und Patentrezepten eine Störung des Immunsystems zugezogen hat, die ihre Bürger daran hindert, auf ernsthafte Bedrohungen des politischen Systems präzise, angemessen und wirkungsvoll zu reagieren. Auf eingebildete Bedrohungen reagieren wir geradezu panisch, während wir realen Gefahren fast gleichgültig begegnen."

    Al Gores manchmal etwas redundante Analyse der amerikanischen Mediengesellschaft ist äußerst lesenswert. Mit einigen Abstrichen ist sie durchaus auch auf europäische Verhältnisse zu übertragen. Denn es gibt auch bei uns kaum noch Foren, in denen die großen gesellschaftlichen Fragen ernsthaft und kontrovers diskutiert werden. Längst steuern auch in Deutschland von Teilen der Wirtschaft finanzierte Lobbygruppen wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft die öffentliche Agenda. Al Gore wäre allerdings kein amerikanischer Politiker, wenn er nicht auch einen, wenn auch wenig überzeugenden, Ausweg aus der Krise anbieten würde. Er setzt auf die mobilisierende Kraft des Internet, die den Bürger vom passiven Rezipienten wieder zum gestaltenden Akteur machen könnte. Doch vergisst er darüber eines, dass es nicht nur die durch das Fernsehen ausgelöst Passivität ist, die den Bürger mutlos macht, sondern gerade die Masse an Informationen und Medien, in denen die wichtigen Nachrichten untergehen. Und diese wird nicht abnehmen, sondern gerade auch durch das Internet zunehmen.


    Al Gore: Angriff auf die Vernunft
    Aus dem Amerikanischen von Friedrich Pflüger.
    Riemann Verlag, München 2007
    400 Seiten, 19 Euro