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Feynmans verschollene Vorlesung

In seiner bekannt hintersinnigen Art hat Albert Einstein einmal gesagt: "Man soll die Dinge so einfach machen wie möglich. Aber auch nicht einfacher." Hinter dem verschmitzten Satz verbarg sich eine ernste Hoffnung, der Einstein an anderer Stelle etwas deutlicher Ausdruck verlieh: "Nach unserer bisherigen Erfahrung sind wir nämlich zum Vertrauen berechtigt, daß die Natur die Realisierung des mathematisch denkbar Einfachsten ist."

Ulrich Woelk | 27.05.1998
    Mit seiner wirren Altersmähne war Einstein die Idealbesetzung des weltabgewandten Genies und wurde schließlich zur Wissenschaftsikone, mit deren Popularität sich kein Physiker in diesem Jahrhundert messen kann. Einer der wenigen, die es dennoch zu einer gewissen Prominenz gebracht haben, ist der 1988 verstorbene Richard Feynman. Wie Einstein war auch Feynman bekannt für seinen hintergründigen Humor. Seine Autobiographie "Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!" wurde 1985 in den USA zu einem überraschenden Bestseller.

    In Fachkreisen war Richard Feynman nicht nur für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Theoretischen Physik bekannt, sondern ebenso für seine brillanten Anfängervorlesungen. Von einem Kollegen um eine einfache Erklärung für einen komplizierten physikalischen Zusammenhang gebeten, antwortete er nach ein paar Tagen: "Es geht nicht. Ich konnte es nicht auf Anfängerniveau bringen. Also haben wir es noch nicht richtig verstanden." Auch Feynman war überzeugt, die Natur müsse einfach und für jeden prinzipiell verstehbar sein.

    Die Anekdote findet sich in dem Buch "Feynmans verschollene Vorlesung" des amerikanischen Physikerehepaars David und Judith Goldstein. In dem von ihnen aus fragmentarischen Aufzeichnungen und einem verrauschten Tonbandmitschnitt rekonstruierten zweistündigen Vortrag Feynmans aus dem Frühjahr 1964 geht es um einen der elementarsten Zusammenhänge der Physik: das Gesetz der Planetenbewegung.

    Die Entdeckung, daß sich die Erde um die Sonne dreht, markiert den Beginn der wissenschaftlichen Moderne und ist zugleich ein historisches und kulturelles Ereignis. Offenbar hat es Richard Feynman gereizt, den von Isaac Newton erstmals geführten Beweis des Keplerschen Ellipsensatzes, der den Lauf der Planeten beschreibt, in elementarer, allgemeinverständlicher Form zu wiederholen. Es ging ihm dabei nicht nur um ein anspruchsvolles intellektuelles Rätsel, sondern um jene grundlegende Erfahrung der Moderne, daß die Natur der Mathematik gehorcht.

    Der Weg, den Feynman in seinem Vortrag beschreitet, ist geometrischer Natur. Es ist das Verdienst von David und Judith Goldstein, aus den erhalten gebliebenen Notizen den Beweisgang minutiös rekonstruiert zu haben. Die geometrische Methode hat den Vorteil, daß sie anschaulich ist u nd jedem prinzipiell zugänglich. Ob zwei Winkel miteinander übereinstimmen oder zwei Strecken die gleiche Länge haben ist jederzeit mit einem Geodreieck oder zur Not auch mit bloßem Auge überprüfbar.

    Feynmans verschollene Vorlesung ist ein aufklärerisches Buch. Zwar wird sich nicht jeder die Mühe machen, die über knapp hundert Seiten detailliert dargestellte geometrische Argumentation Feynmans Schritt für Schritt nachzuvollziehen, aber die Beweisführung macht doch eines deutlich: Das Buch der Natur ist nicht in einem mathematischen Geheimidiom abgefaßt, sondern in einer allen zugänglichen Sprache. Niemand ist von der Erkenntnis ausgeschlossen, und diese Botschaft hat auch Jahrhunderte nach der wissenschaftlichen Revolution noch nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Richard Feynman und Albert Einstein sind sich nur ein einziges Mal begegnet. Der weltberühmte Nobelpreisträger war auf dem Weg zu einem Seminarvortrag. "Junger Mann", soll er gefragt haben, "wo gibt es denn den Tee?" Einsteins Forderung nach Einfachheit in der Naturbeschreibung hat sich Richard Feynman in lohnender Weise zu eigen gemacht.