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Fiddler im goldenen Tal

Dublin zur Rush-hour: der vierspurige Verkehr rund um St. Stevens Green, die grüne Lunge der Innenstadt, kündigt das Feierabendvergnügen an. Über den weiten Park spannt sich ein tumultartiges Abendrot, während auf dem Teich noch die Nebelschwaden vom letzten Platzregen wabern. Dublin pulst um diese Zeit heftiger als ohnehin Tag um Tag. Dennoch ziehen die aus den Büros strömenden Menschen gelassen ihre Wege quer durch den Park. Mit heiteren Schritten, als würde die Musik schon in der Luft liegen.

von Jule Reiner |
    Gleich werden sich in der Grafton Street, der Dawson- und Williamstreet die Pubs füllen und im Vergnügungsviertel Temple Bar werden die kleinen Musikbühnen belebt. Einen Abend mehr werden junge Musiker oder Veteranen des irischen Blues jene uralten hüpfenden, in sich gesteigerten Rhythmen mit Fiddle, Banjo, Gitarre und irischer Bouzouki spielen, die später in den irischen Rock- und Pop eingewachsen sind wie die Moosteppiche auf den Klippen der Küsten.

    Durch die vor Menschen wimmelnde Einkaufsmeile der Graftonstreet hinunter kommt man an der lebensgroßen Bronzeskulptur von Phil Lynnot vorbei, der Rocklegende der Gruppe Thin Lizzy. Sie waren die ersten, die traditionelle Irish Music in Rockrhythmen verwandelten und damit in die internationalen Charts kamen. Die gelöste Stimmung in dieser Straße mit all den jungen Leuten, die schlendern und shoppen, könnte immer noch auf den alten Lynnot-Hit passen, den wir ihm Ohr haben - auf dem Weg zur Irish Music, zu ihren Wurzeln und ihrem Geheimnis – Er führt zunächst ins Temple Bar Viertel in ein sehr altes Pub.

    Das Oliver St. John Gogarty´s ist ein Pub mit Patina. Ein großer Massivholztresen, dunkles Licht, die Wände mit Fotos von Musikern gepflastert, klassische Sitznischen und ein Holzboden, der so uneben geworden ist, als hätte ihn Michael Flatley mit seinen River-Dance-Steppern jahrelang bearbeitet. Hier im Temple Bar Viertel startet jeden Abend eine etwas andere Show, der Musical Pub Crawl, wörtlich übersetzt "musikalisches Pub Kriechen", bei dem die Zuhörer mit einem Musikerpaar auf Wanderschaft gehen: von Pub zu Pub. Das Publikum ist so bunt gemischt wie die Welt. Ausgewanderte Iren aus Übersee, Engländer, die Irland mögen, Deutsche, die nach Irland auswandern würden, Japaner, die kaum etwas verstehen aber immer mitlachen. Denn die beiden Darsteller halten frech gewürzte Vorträge über das Wesen der Irish Music, spielen und lassen mitsingen.

    So geht es mal um die Taktfolgen und mal darum, was eine Session ist und wie sie enden kann. Und mal wird sich auch über die alten Instrumente wie die Uilleann Pipe, den irischen Dudelsack, lustig gemacht. Wenn der Crawl, so beschwingt, im dritten Pub ankommt, hat jeder verstanden, was eine Session ist. Ein traditionsbewährter Cocktail, der gute Laune zaubert und die Nöte des Lebens vergessen lässt. Und bald schon wippen die eigenen Füsse im Takt mit.

    Enden kann das in einem Lock-In, wenn die Fensterläden zugeklappt, die Pubtüren verschlossen werden, wenn melancholische Sologesänge an der Reihe sind und alle weitermachen bis in den Morgen. Wer als Gast mit eingeschlossen wird, ist nicht länger Gast. Er wird Teil der Session. Gleich ob er singen und spielen kann - er ist im alten Irland angekommen.

    Wir fahren ins County Tipperary, mitten ins grüne Herz Irlands. Und jetzt schwingt eine andere, sehr alte Melodie mit über die sanften Hügel und grasgepolsterten Weidegründe. Die Sonne meint es gut, kein Wölkchen am Horizont. In solch einem puren, tiefen Licht wirkt das Gewand der Insel wie aus kosmisch leuchtenden Farbfäden gewebt und ist so zart wie das Lied: "O Danny Boy, die Pipes, die Pipes, sie rufen, von Tal zu Tal und auch vom Berg herab". Millionen Mal gespielt. Vielleicht am tiefsten von Elvis Presley und Johnny Cash interpretiert, aber auch Sir Cliff Richard, Helmut Lotti und Cher haben diesem irischsten aller Lieder ihre Stimmen gegeben. Die ausgewanderten Iren haben die Melodie, die zum ersten Mal im 16. Jahrhundert überliefert ist, mit in die neue Welt genommen. Und wenn in einem Gangsterfilm irgendwer zu irgendwem sagt: "Hey Danny Boy, komm mal her", dann weiß jeder Ire, dass ein Ire gemeint ist.

    Es geht auf das Städtchen Thurles zu. Ein hübscher farbiger Ort mit adretten Tante Emma Läden entlang der Hauptstraße. Dann führen nur noch Pfade zwischen Koppeln und Weiden durch eine naturgegebene Schlaraffiade bis in das Dorf Loughmore . Hierhin würde man wahrscheinlich nicht finden, außer man möchte Kühe oder Pferde kaufen. Wir aber möchten das "Fiddlers Retreat", die Oase der Fiddler besuchen, die wahrscheinlich kleinste Musikschule im Land.

    Theresa Bourke ist auf der klassischen Violine ausgebildet und hat an den besten Musikhochschulen ihr Diplom in traditioneller irischer Musik und als Geigenlehrerin gemacht. "3 Universitäten, 3 internationale Shows, 6 Reisepässe und 40 Länder später bin ich zu Hause in Irland zurück". So beginnt sie ihre Biographie. Sie tourte jahrelang mit Michael Flatley und Lord of the Dance durch die Welt, spielte vor Sultanen, Premierministern und an der Chinesichen Mauer. Jetzt sitzen vier Geigenschüler in gereiftem Alter in ihrem Wohnzimmer um einen schönen alten Kamin und üben – Danny Boy.

    "Armer Danny Boy", seufzt die Hausfrau Joan, "er kriegt ja noch Kofpschmerzen von unsrem Gegeige!". Joan wollte eigentlich nur lernen, für ihre Familie an Weihnachten "Stille Nacht" zu spielen. Aber dann hat sie über die Erfahrung mit der Fiddle ein völlig anderes Lebensgefühl entwickeln können. Am Ende der Geigenstunde klingt die Verabredung, wann und wo sie alle zur Session zusammenkommen wollen, fast konspirativ.

    "Jetzt stehen wir vor der alten Dorfmühle, einem fünfstöckigen Steinbau am Ufer des River Suir; der Suir entspringt dort drüben im Gebirge. Der Berg da heißt Teufelsbiß, denn es fehlt ihm ein Stück. Als der Teufel nämlich einmal nach England zurück mußte, hat er aus Wut ein Stück aus dem Berghang gebissen. Damit ist er bis nach Cashel im County Tipperary gerannt, dort hat er den Bissen fallenlassen, und so ist der berühmte Fels, der Rock of Cashel, entstanden. Von der Quelle fließt der River Suir ein paar Kilometer bergabwärts und trifft dann hier auf eine der ersten Mühlen. Es ist ein schönes altes Gebäude; stolz steht es da am Ende des Dorfs, gegenüber von der Burg und bei der Brücke."

    Die Dorflandschaft zählt zum Golden Vale, dem Tal, dessen Grün man in Gold aufwiegen könnte. Die verfallene Burg erzählt aus der Zeit der Landlords, von einem gewissen Earl of Purcell, der das Land und die Burg im 14. Jahrhundert von einem irischen König für eine Heldentat geschenkt bekam. Das Wort Loch mór, hat Theresa erklärt, leitet sich vom irischen Luachma her und meint Belohnungsland. Und es ist zu spüren, wie stolz sie darauf ist, ein Stück davon von ihrem Vater geschenkt bekommen zu haben, der hier Farmer war.

    "Ich spiele Musik seit meinem vierten Lebensjahr. Meine Mutter brachte mich zum Musikunterricht. Ich begann mit der Tinwhistle, der Blechflöte und wechselte später zur Fiddle. Musik ist einfach mein dritter Arm, etwas, das ich seit jeher betreibe, und zwar mit absoluter Leidenschaft. Die Musik ist meine beste Freundin, egal wie ich mich fühle, in guten wie in schlechten Zeiten. Und sie hat mich um den ganzen Globus geführt. Ich bin überall in sehr anspruchsvollen Konzerten aufgetreten. Das war fantastisch für mich. Musik gehört zu den Dingen, die man nicht wirklich erklären kann; ich kann nicht sagen, was sie für mich bedeutet. Musik ist einfach ein Teil von mir, sie macht mich zu dem, was ich bin. Es ist erstaunlich."

    "Es heißt, man muss sieben Jahre lernen, sieben Jahre üben, sieben Jahre spielen, und dann ist man aufführungsreif, dann kann man spielen. Ich weiß noch, wie ich jahrelang Stunden genommen habe, und es hat mir auch Spaß gebracht. Aber eines Tages spielte ich zu Hause auf meiner Fiddle, und plötzlich wusste ich, jetzt kann ich es. Ich hatte das Lernstadium hinter mir, ich konnte jetzt spielen. Und das genoss ich, ich wusste, wie es ging, und dann lief alles automatisch weiter, mein Weg war geebnet für eine Karriere."

    Nach einem großartigen Irish Stew, den Theresa auf den Tisch gezaubert hat, sind wir in die Nacht hineingefahren, über bucklige, von hängenden Fuchsienwäldern überwachsene Schneisen quer durch die Weidegründe bis in ein winziges Nest. Ein paar Cottagehäuser nur, aber zwei Pubs. Das eine schwarz gestrichen mit weißen Schornsteinen. Das andere aus Basaltstein, windschief , mit knallroten Fensterläden und Scheiben, die beschlagen sind vom Atem des Guinness und der burlesken Musikgesellschaft drinnen.

    Joan und die anderen aus der Geigenstunde sind auch da. Man erkennt sie nur nicht so leicht wieder. Beim Unterricht trugen sie ziemlich konservative Alltagskleidung, und die Geige schien ihnen mitunter schwer zu werden. Jetzt, im Kreis der Session, sind sie mit ihrem Instrument wie verwachsen, die Frisuren sitzen locker und ihr Gesichtsausdruck verrät, dass sie sich von der äußeren Wirklichkeit weit entfernt haben. So verschieden Fiddle, Banjo, Bandeon, Akkordeon und irische Bouzouki auch klingen mögen, im Reigen finden sie eine gemeinsame Sprache. Die Spieler verständigen sich nur noch durch die Musik, sie sind Musik. Ein paar Pints und rasch verflogene Stunden später patrouilliert Polizei durchs Dorf. Und das ist wahrscheinlich der einzige Grund, weshalb es in dieser Nacht nicht zu einem Lock-In kommt.

    In Loughmore hört man nachts die Kühe schnarchen. Man hört vielleicht auch das unterirdische Gluckern des River Suir und das Tapsen eines einsamen Hundes, der den Geist des Earl of Purcell sucht. Vielleicht hört man sogar die Fuchsien wachsen.

    Tagsüber aber wird gefiddelt. Und wenn auch die Geigen übermütige Streichversuche mit gandenlosem Quietschen bestrafen, Hauptsache man kommt in diesem Rhythmus an, der das Herz freimacht und die Sinne beschwingt. Es funktioniert – bei jedem von uns – ohne Notenkenntnis; O Danny Boy allerdings hat für den blutigen Anfänger eine Menge Noten zu viel. Einfacher kommen wir nach schon drei Stunden Einzelunterricht bei den ersten fröhlichen Läufen einer Kerry Polka mit. Wir müssen uns aber noch eine Weile im Schutz der fortgeschrittenen Iren mitziehen lassen.
    So wird es wieder Abend. Und als die an diesem Tag überaus spendable Sonne mit einem dramatischen letzten Auftritt ihren Abschied ankündigt, scheint im Abendrot geschrieben zu stehen "Geht in eure irische Nacht, Leute, habt Spaß, wer weiß, wo ihr am Ende des Lebensrades oder morgen früh ankommen werdet. Vielleicht in Amerika, wie eure Vorfahren."

    Wieder geht es also durch die Felder. Der Weg führt unter noch dichteren Dächern aus Fuchsien entlang, durch Nebelschleier und vorbei an den Schemen von schlafenden Kühen. Eine Fahrt wie in einer Feenkutsche, mit der die Fairys der Legenden zuweilen arglose Kinder fortlocken. Nur jetzt hat Theresa die Zügel in der Hand und jagt in fröhlichem Galopp in ein Dörfchen namens Upperchurch an der alten Landstraße nach Limmerick.

    Raureif klammert sich bereits in die Wiesen und an die Dächer der Cottagehäuser. Ein erfrischender Eishauch liegt in der Luft. Und wie auf ein geheimes Zeichen tauchen um die Dorfecken einzelne Gestalten auf und haben alle ein Ziel; das Pub Jim O´The Mills, ein grasgedecktes, ehemaliges Müllerhaus. Man rückt auf Schemeln und alten Holzbänken um den Kamin zusammen. Ein Torffeuer züngelt darin und wärmt. Die Wände sind mit Landwirtschaftsgeräten und abgewetzten Hurlingschlägern dekoriert.

    Wir haben in ein Ceíli-Haus gefunden. Hierher kommt man nicht, um zu schwadronieren oder viel zu trinken. Es geht in den Liedern um das Weitererzählen der Geschichten, die das Leben gesponnen hat. Der Wirt mit den krausen Locken und der Schildkappe, den Tweedhosen und der alten Weste hat sie in sein Gesicht eingegraben. Und jeder in der Runde wird einen neuen Beitrag dazu liefern und Theresa ihr virtuoses Fiddlespiel an die Leute weitergeben. Auch an das kleine, Mädchen in der Runde. Sie ist vielleicht zehn Jahre alt, hat dichte rote Locken und spielt eine Kindergeige. Ihr Gesichtsausdruck ist fast zu ernst, als sei sie nicht ganz von dieser Welt, als lauere sie auf die Gelegenheit, irgendwen oder etwas zu verhexen. Plötzlich steht sie auf und öffnet eine Tür, die bisher gar nicht aufgefallen war. Und durch den Spalt sieht man, wie sie im elterlichen Schlafzimmer verschwindet. Ihre sieben Lehrjahre auf der Geige hat sie bald beendet, dann kommen die sieben Übungsjahre und die sieben Jahre des Spielens. Und auch sie wird dafür sorgen, dass Danny Boy unsterblich bleibt.

    Noch etwas bleibt unvergesslich an den Tagen in Loughmore - Ein Hurlingmatch. Ungebrochen, wie die Musik, ist dieses wilde, rasend schnelle Spiel mit den knüppelartigen Schlägern und dem kleinen, faustharten Lederball immer weiter die treibende Kraft im Gemeindeleben.

    Es war das Finalspiel der Regionalligisten. Die Dorfstraße pulsierte mit ihren grün-weißen Wimpeln und handgepinselten Plakaten in den Vorgärten. "Loughmore – du kannst es schaffen. Jungs, wir zählen auf euch." In der gegnerischen Nachbargemeinde Drom-Inch sah es in anderen Farben sicher genau so aus. Aber wen kümmerte das. Wir wohnten in Loughmore. Und das war seit 20 Jahren nicht mehr siegreich gewesen. Lange her, dass ein Earl of Purcell eine Heldentat vollbracht und dafür das Schloss bekommen hatte. Und am Nachmittag, als das Match begann, hätte man beide Dörfer in Seelenruhe ausrauben können. Denn wirklich alle waren im Stadion. Denn zurück im Fiddlers Retreat, dessen Tür nicht einmal verschlossen geblieben war, stand alles zum Besten. Auch die sechs Paganini gemäßen Geigen, hatten schön darauf gewartet, noch ein wenig von uns gequält zu werden. Und abends konnte man im Dorf nicht mehr das Schnarchen der Kühe hören, sondern singende, auf gälisch skandierende, feiernde Hurlinghelden.

    Am nächsten Morgen, als wir zurück nach Dublin aufbrachen, lag ganz Loughmore noch in tiefem Schlaf. Selbst die Kühe schienen sich verausgabt zu haben und dämmerten reglos auf den Weiden. Der Berg mit dem Teufelsbiss lag in glanzvoller Sonne, das kleine Städtchen Thurles, in dem Theresas Mutter ein Pub führt, winkte zum Abschied mit bunten Türen und Fensterläden, die sich gerade eben erst öffneten. Dann hatte uns schon bald Dublin wieder.